Kapitel 23~ Der wilde Tiger

Gu Yun holte ein Glasmonokel aus seinem Revers und setzte es vorsichtig auf seine Nase. Er schlenderte zu Chang Geng, stieß das Fenster auf und schielte in Richtung Drachenlandung. Das Glasmonokel war an einer feinen, weißgoldenen Kette befestigt, die bis zu seinem Ohr reichte. Die Linse verdeckte ein Pfirsichblütenauge, hob aber die Wölbung seiner Nase hervor und verlieh seiner Aura eine scharfe Note, wie ein tödliches Raubtier in Menschenkleidung.

Chang Geng starrte ihn eine Weile ausdruckslos an und fragte dann: „Yifu, was trägst du da?“

Gu Yun schaute hinüber und stichelte: „Ein kleines Schmuckstück der Ausländer. Steht es mir nicht gut? Diese Dinger sind da drüben gerade der letzte Schrei. Wenn wir später einen Sparziergang machen, werde ich dir eine Stiefmutter aus dem Ausland besorgen, okay?“

Chang Geng war wieder einmal irritiert.

Ein kleiner Soldat der Schwarzen Falkendivision versuchte, die schlechte Laune aufzulockern, und scherzte: „Marschall, Sie sind nicht einmal sein leiblicher Vater!“

Gu Yun lachte unbekümmert über den Scherz.

Der kleine Soldat fuhr fort und gestikulierte bei jedem Wort: „Die Dinge haben sich in den letzten Jahren verändert. Die Menschen sind nicht mehr so wie früher. Früher interessierten sich die Frauen für unsere Tugenden, unsere Fähigkeiten und unsere Persönlichkeiten; keiner von uns musste sich Sorgen machen. Aber jetzt interessiert sie nur noch, ob ein Mann gut aussieht oder nicht. Sir, wir Brüder sind keine ledigen Hunde, weil wir hässlich sind, sondern weil wir zur falschen Zeit geboren wurden.“

Die lokale Spezialität des Schwarzen Eisenbataillons waren ledige Hunde, und als er dies hörte, brach der ganze Tisch in lautes Gelächter aus.

Gu Yun lachte ungestüm. „Raus hier, zieht mich da nicht mit rein! Wer ist hier hässlich? Ihr sollt wissen, dass ich die berühmte Blume der drei Schwarzen Eisendivisionen bin, und Legenden über meine Schönheit haben bereits das grenzenlose Meer überquert.“

Verblüfft über die Schamlosigkeit ihres Marschalls brüllte die Menge der rauen Soldaten vor Lachen. Shen Yi sagte mit kalter Stimme: „Marschall, wenn du so schön bist wie eine Blume, wie kommt es dann, dass du immer noch keine Frau finden konntest?“

Er zielte mit einem einzigen Satz auf Gu Yuns wunden Punkt. Marschall Gu konnte sich nur an sein Herz klammern und erwidern: „Ich warte auf den richtigen Preis, um mich zu verkaufen, die beste Ware kommt zuletzt. Was verstehst du schon von solchen Dingen?“

Die Wahrheit war, dass Gu Yun wirklich keine Schuld an der Sache trug.

Damals war die Haltung des verstorbenen Kaisers ihm gegenüber extrem widersprüchlich gewesen. Der Kaiser sorgte sich um ihn, ja, aber er war auch auf der Hut vor ihm. Als er jung war, fiel das weniger auf, aber als er älter wurde, war die wichtige Angelegenheit der Heirat des Grafen von Anding dem verstorbenen Kaiser ein Dorn im Auge gewesen. Wenn er sich für eine Frau von niederer Herkunft entschied, könnte man ihm vorwerfen, dass er den Nachkommen eines treuen Dieners schlecht behandelte, und niemand würde diese Wahl akzeptieren. Aber wenn er jemanden aus einer edlen und mächtigen Familie auswählte, würde das Herz des verstorbenen Kaisers vor Angst zu flattern beginnen. In dieser Zwickmühle wünschte sich der verstorbene Kaiser wohl, Gu Yun wäre ein kleiner Eunuch.

Die Frage der Heirat des Grafen von Anding zog sich lange hin, bis sich der verstorbene Kaiser schließlich für die Tochter des Großsekretärs Guo entschied. Die Familie Guo war seit Generationen eine Gelehrtenfamilie von reinem und edlem Erbe, und Fräulein Guo selbst war schön wie eine Orchidee und in der ganzen Hauptstadt für ihre Talente bekannt. Sie und die damalige Kronprinzessin, die jetzt Kaiserin ist, waren als die ‘Zwillingsschönheiten‘ der Hauptstadt bekannt. Dieses Spiel hatte weder mit politischen Verwicklungen zu tun, noch entehrte es Gu Yun.

Aber das Seltsame war, dass diese gefeierte Blüte, kaum dass sie verlobt war, zu verwelken begann, als hätte sie einen Frostanfall erlitten, und von Tag zu Tag schwächer wurde. Und bevor Gu Yun vom Schlachtfeld in die Hauptstadt zurückkehren konnte, war Frau Guo bereits verstorben. Viele Männer verloren ihre Ehefrauen, das war keine Seltenheit. Und in diesem Fall war es nur eine Verlobte gewesen, die er nicht einmal geheiratet hatte. Aber weil er der Graf von Anding war, stellte jeder die Verbindung zu seinem verwitweten und kinderlosen Großvater und seinen Eltern her, die so jung gestorben waren.

Und so verbreitete sich die Geschichte, dass der Grafen von Anding ein frauenfeindliches Schicksal hatte, wie ein Lauffeuer.

Wenn man den Grafen von Anding heiratete, hätte man sowohl äußerlich als auch im Hof eine gute Partie. Außerdem brauchte man sich keine Sorgen um die Schwiegereltern zu machen; es wäre also eine außerordentlich glückliche Gelegenheit. Aber wie glücklich die Gelegenheit auch sein mochte, man musste am Leben sein, um sie zu genießen.

Nachdem Tod seiner Verlobten verbrachte Gu Yun seine Zeit damit, zwischen den westlichen Regionen und der Nordgrenze hin und her zu reisen. Er kehrte vier oder fünf Jahre lang nicht in die Hauptstadt zurück, so dass es keine Gelegenheit gab, die Angelegenheit wieder zur Sprache zu bringen. Und nun hatte der verstorbene Kaiser das Zeitliche gesegnet. Der jetzige Kaiser hatte zwar ein paar Jahre Vorsprung vor Gu Yun, aber er nannte ihn von klein auf kaiserlicher Onkel. Sie stammten aus unterschiedlichen Generationen, und trotz ihres Status als Herr und Minister war es für ihn unangebracht, sich in Gu Yuns Ehe einzumischen.

Gu Yun selbst hatte weder Zeit noch Energie für diese Angelegenheit, und so wurde sie immer wieder aufgeschoben, bis jetzt.

Shen Yi weigerte sich, die Sache auf sich beruhen zu lassen. „Du wartest auf den richtigen Preis? Sir, an wen genau willst du dich denn verkaufen?“

Gu Yun blickte durch das Glasmonokel auf und sah, dass Chang Geng ihn genau beobachtete, mit einem Anflug von Besorgnis im Gesicht. Gu Yun vermutete, dass der Junge befürchtete, er würde sich nicht mehr um ihn kümmern, nachdem er geheiratet hatte. Er gab Chang Geng einen beruhigenden Klaps auf den Hinterkopf. „Mein Typ ist jemand, der intelligent, sanft und gutmütig ist. Keine Sorge, ich werde keine Spitzmaus mit nach Hause bringen, die deinen Frieden stört.“

Diese wenigen Worte rissen ein Loch in die Brust von Chang Geng. Die wilden Fantasien, die er fast im Zaum gehalten hatte, brachen wieder hervor und schürten eine trostlose Melancholie. Da er keine Möglichkeit hatte, seine aufgewühlten Gefühle loszuwerden, konnte Chang Geng nur ein steifes Lächeln aufsetzen und die gleiche Entschlossenheit an den Tag legen, mit der er sich jede Nacht in den Schlaf zwang.

In diesem Moment ertönte unten in der Dracheninsel ein lautes Geschrei. Die Westler hatten die Affen und Papageien, die auf der Bühne herumgesprungen waren, weggebracht und stattdessen einen großen Eisenkäfig mit einem Flanelltuch drapiert. Ein westlicher Clown mit grässlich bleichem Gesicht wirbelte herum, während er einen großen flammenden Ring aufstellte, und wackelte und gestikulierte, um die Spannung zu erhöhen. Schließlich riss er das Tuch mit einem Schwung weg.

Ein großer Tiger kauerte in dem Käfig.

Ge Pangxiao streckte seinen ganzen Oberkörper aus dem Fenster, und aus seinem Mund quollen Fragen. „Ist er echt oder unecht? Ist das ein echter, lebensechter Tiger?“

Der Clown öffnete den Stahlkäfig und führte den Tiger am Halsband heraus. Vielleicht weil zu viele Leute zusahen, schien der Tiger unruhig zu sein und zappelte im Griff des Clowns.

Gu Yun runzelte die Stirn. „Diese Ausländer legen die Regeln ziemlich kreativ aus, wenn sie eine solche Bestie an Silvester hierherbringen — Xiao-Jia.“ Seine Stimme war kalt.

Der junge Schwarze Falke, der vorhin der Gesprächigste gewesen war, wurde sofort ernst. „Sir.“

„Finden Sie ein paar Leute, die ein Auge auf die Dinge haben. Es sind viele Leute da unten; wir wollen keine weitere Unruhe.“

Xiao-Jia bestätigte seinen Befehl, gehorchte sofort und sprang von dem exponierten Balkon. Mehrere hundert Meter in der Luft schwebend, blitzte seine Silhouette auf und verschwand in einem Wimpernschlag, wobei er eine dünne Spur weißen Dampfes hinter sich ließ. Inmitten des Stimmengewirrs unter ihm begann der Tiger widerwillig, durch den Feuerring zu springen, seine Miene war so wütend wie die eines ehrenwerten Mädchens, das zur Prostitution gezwungen wird.

Die Beifallsrufe des Großen Yunmeng-Ausblicks wurden immer lauter, einige Zuschauer waren so aufgeregt, dass sie anfingen, Geld von oben herunterzuwerfen. Das Werfen von ein paar Kupfermünzen auf der Drachenlandung nach einer schönen Musik-, Tanz- oder Akrobatikvorstellung war harmlos und auf dieser Bühne üblich. Aber heute war irgendein Idiot aufgetaucht und hatte angefangen, mit Blattgold um sich zu werfen.

Die Menge brach in Begeisterungsstürme aus. Rufe wie: „Gold, Gold!“, ertönten nacheinander. Der Tiger, der immer noch auf Geheiß des Clowns durch den Feuerring hüpfte, war dieses Mal völlig erschrocken. Er brüllte und schnappte mit seinem Maul nach dem Clown, der völlig überrascht war. Der Mann stieß einen markerschütternden Schrei aus, als sein Arm und die Hälfte seiner Schulter im Rachen des Tigers verschwanden.

Der Tiger brüllte erneut, löste sich aus seinen Fesseln und stürzte sich direkt auf das Menschenmeer unter dem Drachenflugpavillon.

Der innere Ring von Menschen, die zu Tode erschrocken waren, zerstreute sich wie eine Schar kopfloser Fliegen, aber die Zuschauer am Rande der Menge hatten keine Ahnung, was geschehen war. Nachdem sie gehört hatten, dass diejenigen, die in der Mitte standen, sich goldene Blätter schnappten, versuchten sie immer noch, sich hineinzudrängen. Innen und außen kollidierten, und nun konnte sich niemand mehr bewegen.

Einige schrien: „Gold!“, andere schluchzten: „Tiger!“, und wieder andere fielen und konnten nicht mehr aufstehen. Alles versank in völligem Chaos.

Die Wächter der Goldenen Krähe, die an diesem Abend Dienst hatten, wurden von der Menge hin und her geschoben. Viele Beamte und Adlige hatten sich um den Drachenflug-Pavillon versammelt, und einige, die sich mehr um ihre eigene Flucht als um das Leben der einfachen Leute sorgten, taten so, als ob sie um ihr Leben rannten, und befahlen ihren Dienern, ihnen den Weg freizumachen.

Gu Yun packte Chang Geng an der Schulter, riss ihn zurück und drehte sich um, um den Bogen und die Pfeile zu holen, die Shen Yi hinter die Tür gehängt hatte. „Bleibt drinnen.“

Die Soldaten des Schwarzen Eisenbataillons, die am Tisch saßen, standen zusammen mit ihm auf. Shen Yi packte Gu Yuns Ellbogen und platzte heraus: „Deine Augen...“

Aufmerksam hob Chang Geng den Kopf. Augen? Was ist mit seinen Augen?

Gu Yun ignorierte ihn. Er winkte Shen Yis Hand ab und stieß die Tür der Privatkabine auf. Die Schwarzen Falken an Bord des Rotkopfdrachens sprangen vom Deck und flogen dicht über dem Boden, wie kleine Feuerwerke, die in kaltem Licht explodierten. Ein anderer schwarz-eisengepanzerter Soldat kletterte mit einer Kupferbüchse in der Hand auf den Schiffsmast. Er brüllte der wogenden Menge zu: „Der Graf von Anding ist hier, haltet still!“

Die Ankündigung war wirksamer als ein Erlass des Kaisers selbst. Etliche Menschen blieben instinktiv stehen, sobald sie diese vier Worte hörten: „Der Graf von Anding“.

Das Brüllen des Tigers hallte von unten herauf, als sich das wütende Tier wie ein Blitz auf jemanden stürzte. In Windeseile hatte er einen jungen Mann in Dienerkleidung unter seinen Klauen. Gu Yun stand auf dem Bug des Rotkopfdrachens, der mit eingeschnitzten Kois, verziert war, halb an den Rahmen der Tür der Privatkabine gelehnt, und drehte seinen Körper, um den Bogen zu spannen.

Das Glasmonokel saß noch immer auf seiner Nase. Niemand trug Linsen, wenn er schoss; so etwas würde zu Unstimmigkeiten in der Sicht führen. Seine dünne Kleidung flatterte im heißen Wind, der von den Feuerzacken aufgewirbelt wurde, und seine ganze Person verströmte eine unbekümmerte Sorglosigkeit, als würde er mit geschlossenen Augen schießen. Nur Shen Yi wusste, dass Gu Yun, wenn er das gläserne Monokel abnehmen würde, nicht in der Lage wäre, auf zehn Meter Entfernung einen Menschen von einer Bestie zu unterscheiden — nicht anders, als wenn seine Augen wirklich fest geschlossen wären.

Warum musste das ausgerechnet jetzt passieren? Auf Shen Yis Handflächen brach eine Schweißschicht aus, und sein ganzer Körper spannte sich an.

Gu Yun löste den Pfeil.




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GLOSSAR und die Welt von Stars of Chaos

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