„Was?", fragte Shen Yi.
„Ich gehe nach Jiangnan."
Shen Yi schrie vor Schmerz auf. „Aiyo ... mein Kinn krachte
gegen meine Füße, meine armen Zehen— bist du wahnsinnig? Der Befehlshaber der
Verteidigungsarmee an der Nordwestfront verlässt seinen Posten ohne Erlaubnis,
um einen privaten Botengang nach Jiangnan zu machen ..." „Willst du dich
umbringen lassen oder einen Aufstand anzetteln?"
„Nachdem wir heute das Nest des Wüstenskorpions ausgelöscht
haben, sollte es für die nächsten Monate ruhig werden", antwortete Gu Yun
ruhig. „Bei der Geschwindigkeit der Schwarzen Falken werden wir in ein oder
zwei Tagen in Jiangnan sein, und ich werde nicht lange bleiben; ich komme
zurück, sobald ich sie gefunden habe."
Shen Yi holte tief Luft und bereitete eine wahre Kaskade
von Worten vor, doch bevor er auch nur eines sagen konnte, verpasste ihm Gu Yun
einen Ellenbogenstoß in den Magen. Shen Yi jaulte auf und krümmte sich. „Ich
habe noch nicht einmal etwas gesagt!"
„Man muss auf alle Eventualitäten gefasst sein."
_______________________________
In dieser Nacht ritten dreizehn Schwarze Rösser aus den
Tiefen der Wüste heran, um die lange Pattsituation zu beenden und den Anführer
der Räuber und seine Gefolgsleute in einem einzigen Schlag gefangen zu nehmen.
Als Gu Yun den Bericht hörte, gab er den Befehl, sie alle gefangen zu nehmen,
und brach noch in derselben Nacht auf, ohne sich einen Moment auszuruhen. Der
Prinz von Loulan, Ban'eduo, hatte reichlich Essen und Wein vorbereitet und
stand bereit, um das müde Schwarze Eisenbataillon bei ihrer Ankunft mit einem
Festmahl zu verwöhnen. Doch kaum waren sie angekommen, sah er, wie Gu Yun die
Rüstung des Schwarzen Falken anlegte und sein Gesicht voller ungelöster
Beschwerden war.
Loulan befand sich an einem wichtigen Ort am Eingang zur
Seidenstraße. Seine Bewohner waren Kinder der Wüste und verachteten die
zügellosen Wüstenräuber. Mit der Zeit waren die Loulaner zu den besten Führern
des Schwarzen Eisenbataillons geworden, das die Wüste durchstreifte, um
Plünderer zu vertreiben, und die beiden Nationen unterhielten eine recht
freundschaftliche Beziehung. Das Volk von Loulan war geschickt im Singen und
Tanzen und liebte guten Wein. Sowohl ihre Männer als auch ihre Frauen waren
begeisterte Trinker — und ihr Prinz war der eifrigste von allen. Ban'eduo war
weder von Marschall Gus undurchschaubaren Strategien noch von seinen
außergewöhnlichen kämpferischen Fähigkeiten beeindruckt, aber er bewunderte Gu
Yuns Alkoholtoleranz, die es ihm erlaubte, harten Alkohol wie Wasser zu
trinken. Er hatte sich bereits zu Marschall Gus ‘Freund bei Festmahlen‘ erklärt
und erfüllte diese selbst ernannte Pflicht bis zum Äußersten.
Ban'eduo lallte und jammerte in einem Ton, der fast an die
singenden Wanderer in der Wüste erinnerte: „Marschall Gu, warum geht Ihr heute
so schnell, wie die Wolken über den Horizont huschen? Wollt Ihr einem Mädchen
nachlaufen wie die untergehende Sonne?"
Shen Yi wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Was
bedeutete es für ein Mädchen, ‘wie die untergehende Sonne‘ zu sein? Vielleicht
rot und rund?
„Ich bin unterwegs, um jemanden in Stücke zu hacken."
„Oh!" Ban'eduo, der immer noch zwei Krüge Wein in der
Hand hielt, erschrak und murmelte dann: „Ihr seid gerade mit dem Hacken fertig
geworden, und jetzt hackt Ihr noch mehr?"
„Esst Ihr nicht abends zu Abend, nachdem Ihr morgens
gefrühstückt habt?"
Gu Yun erhob seine Stimme, sein Tonfall war mörderisch. „Geht
zur Seite!"
Die Schwarze Falken kamen wie dunkle Schatten
herangeschossen. Sie ließen sich hinter Gu Yun nieder und verschwanden dann
blitzschnell wie ein dunkler Wirbelwind, der nur sinnliche weiße Rauchschwaden
hinterließ. Ban'eduo sah zu, wie ihre Gestalten in der Ferne verschwanden, und
fragte Shen Yi mit bewundernder Stimme: „Muss der Marschall dreimal am Tag
Menschen in Stücke hacken?"
Shen Yi winkte ihn zu sich heran und flüsterte ihm ins Ohr:
„Jemand ist mit seinem Sohn abgehauen."
Ban'eduo schlang seine Arme in einer dramatischen Umarmung
um sich. „Oh! Sie muss ein Mädchen sein, genau wie der Vollmond!"
„...Nein, nur ein glänzender Kopf wie der Vollmond."
Während Prinz Ban'eduo sich verwirrt den Kopf zerbrach,
wandte sich Shen Yi mit sorgenvollem Herzen wieder dem Lager zu. Nach ein paar
Schritten, war sein Gesicht farblos — Scheiße, Gu Yun ist so überstürzt
aufgebrochen. Hatte er überhaupt daran gedacht, seine Medizin mitzunehmen?
________________________
Jiangnan empfing den von Sand und Staub bedeckten Gu Yun
mit einem leichten Nieselregen, der kaum ausreichte, um die Kleidung zu
benetzen. Er hielt ein paar Minuten inne, um sich auszuruhen und neu zu
formieren, bevor er mit seinen Männern direkt in das Anwesen des regionalen
Justizkommissars von Yingtian, Yao Zhen, stürmte.
In Anbetracht von Gu Yuns Position hätte es für ihn keinen
Grund geben dürfen, freundschaftliche Beziehungen zu den örtlichen Beamten von Jiangnan
zu unterhalten. Aber es gab hier eine alte Geschichte. Als Gu Yun im Alter von
fünfzehn Jahren zum ersten Mal mit dem Militär ausrückte, um gegen Räuber
vorzugehen, rettete er ein paar unglückliche Bastarde, die von den wilden
Banditen als Geiseln gehalten wurden. Einer von ihnen war Yao Zhen, ein Beamter
der reingelegt, von seinem Posten entlassen und nach Hause geschickt worden
war. Später wurde Yao Zhen wieder eingestellt und wurde zum regionalen
Justizkommissar von Yingtian ernannt. Die Beziehung zwischen ihm und Graf Gu
war eine Freundschaft unter Gentlemen: Herzlich, und keiner versuchte, etwas
vom anderen zu erlangen, aber sie waren denooch in Kontakt geblieben.
Zufällig war es der freie Tag vom Justizkommissar Yao, und
so hatte er geschlafen, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Als sein Diener ihm
die Nachricht überbrachte, erstarrte er vor Schreck am ganzen Körper.
„Er sagte, er sei wer?"
„Er sagte, sein Nachname sei Gu, Gu Zixi."
„Gu Zixi?" Yao Zhen wischte die Kruste in seinen
Augenwinkeln weg. „Der Graf des Frieden, Gu Zixi? Und ich bin der
Senior-Großsekretär dieser Dynastie — wie könnt Ihr auf so einen Schwindel
hereinfallen? Treibt sie hinaus!"
Der Diener bestätigte seinen Befehl und wandte sich zum
Gehen.
„Wartet!" Yao Zhen setzte sich auf, umklammerte noch
immer seine Decken und überlegte einen Moment lang. „...Wartet einen Moment.
Vielleicht sollte ich mal nachsehen."
Mit einem zufälligen Funken der Erkenntnis dachte er
plötzlich daran, dass das unerlaubte Verlassen seines Postens genau das sein
könnte, was Gu Yun tun würde.
________________________________
Zu diesem Zeitpunkt hatte Liao Ran, der sich ebenfalls in
der Yingtian-Präfektur aufhielt, noch nicht begriffen, welche Katastrophe über
ihm schwebte. Dieser Mönch war geizig, fast bis zum Zen.
Er brach jede große Münze entzwei, und wenn es einen verfallenen Tempel zum
Schlafen gab, übernachtete er nie in einem Gasthaus. Er ernährte sich von Spreu
und Wildkräutern und war für jede gute Mahlzeit auf Almosen angewiesen — oder,
wie es allgemeiner hieß, auf Betteln.
Er gab kein Geld aus und weigerte sich strikt, Chang Geng
und die anderen ihr Geld ausgeben zu lassen. Glücklicherweise konnten diese
drei halbwüchsigen Teenager alle ein wenig Entbehrung ertragen und hielten ihm
auf seinen Wanderungen die Treue, obwohl sie nie wussten, woher ihre nächste
Mahlzeit kommen würde.
Liao Rans Reisepläne waren sehr spontan. Manchmal führte er
sie durch die Straßen und Gassen zwischen den Häusern der normalen
Stadtbewohner, und manchmal wanderte er ziellos zwischen den Feldern umher. Er
war wahllos, wenn es darum ging, wo er um Almosen bat. Sie besuchten die Häuser
von Gentlemen und Philanthropen auf dem Land, aber auch von gewöhnlichen
Mietern, und nahmen alles an, was man ihnen gab. Einmal besuchten sie eine alleinlebende,
kinderlose ältere Person, und als sie sahen, dass er wirklich nichts zu
entbehren hatten, bekamen sie nicht nur keine Mahlzeit, sondern ließen sogar
etwas Geld für ihren Gastgeber zurück.
„Die Menschen frieren und verhungern selbst in friedlichen
und wohlhabenden Zeiten, und die Menschen schwelgen selbst in Zeiten des
Aufruhrs in Macht und Reichtum“, gab Liao Ran Chang Geng und den anderen mit
auf den Weg, als sie sich durch den Markt einer kleinen Stadt schlängelten. „Der
Begriff 'der Weg der Welt' sollte in zwei Teile geteilt werden'. 'Der Weg' ist
die Richtung, in die die Herzen der Menschen zeigen, und 'die Welt' ist ein
einzelnes Reiskorn unter den funkelnden Lichtern einer Stadt, ein einzelner
Ziegelstein in einer endlos langen Stadtmauer.“
„Großer Meister, Ihr solltet den weltlichen Dingen entsagen",
sagte Chang Geng, „denn selbst wenn Ihr von 'der Welt', sprecht, führen Eure
Erklärungen immer dazu, dass man 'den Weg' sieht."
Chang Geng war zu diesem Zeitpunkt fast größer als Liao
Ran, und seine Stimme hatte die Frische der Jugend vollkommen verloren. Sie war
etwas leise, und er sprach in einem gemächlichen Tempo, das den Eindruck von
Stetigkeit vermittelte. Er war von Natur aus ein ruhiger Mensch, und obwohl er
sich bei Menschenansammlungen immer unwohl fühlte, hatte er irgendwann die Fähigkeit
entwickelt, sich überall hinzubewegen, als würde er müßig durch einen
weitläufigen Innenhof schlendern.
Vielleicht weil er entschlossen war, sich selbst zu brechen
und neu zu erschaffen, waren einige dieser kleinen Ärgernisse mit der Zeit ganz
natürlich zur Nebensache geworden.
Liao Ran lächelte heiter und schrieb: „Wenn ein Mönch den
Weg der Welt nicht kennt, wie kann er dann behaupten, ihr abgeschworen zu
haben?“
Liao Ran hatte ein außerordentlich einnehmendes Gesicht.
Wenn er sauber geschrubbt war, sah er aus wie ein bedeutender Mönch, der sich
vom Staub der irdischen Angelegenheiten fernhielt; wenn er tagelang nicht
gebadet hatte, sah er aus wie ein bedeutender Mönch, der die weltlichen Mühen
überwunden hatte. Die allumfassende Aura des Buddhas leuchtete von seinem
kahlen Kopf, und in seinen klaren Augen spiegelte sich der Wunsch, alle
Lebewesen vom Leid zu befreien. Wäre er nur ein wenig großzügiger mit einem bestimmten
metallischen weltlichen Besitz mit Vierkantlöchern
gewesen, hätten Chang Geng und die anderen ihn wahrlich als einen durch und
durch bedeutenden Mönch betrachtet.
Plötzlich unterbrach Cao Niangzi diesen bedeutenden Mönch
und flüsterte in gedämpftem Ton: „Hör auf mit dem metaphysischen Training,
Chang Geng-Dage. Hast du nicht bemerkt, dass uns die Leute alle anstarren?"
Die vier — ein Mönch, ein kultivierter und eleganter junger
Meister, ein aufgeblasenes neureiches Kind und ein junges Mädchen, das zwar
hübsch war, aber ein wenig abwesend wirkte — waren von vornherein eine äußerst
auffällige Gruppe. Sie waren längst daran gewöhnt, beobachtet zu werden, und
selbst Chang Geng war nicht mehr so empfindlich gegenüber den Blicken der
Passanten.
Doch dieses Mal schien die Aufmerksamkeit zu groß zu sein.
Als die Stadtbewohner sie sahen, blieben sie alle stehen und starrten sie nicht
nur an, sondern zeigten auch auf sie und flüsterten untereinander.
„Ich habe das Gefühl, dass gleich etwas passieren wird",
murmelte Ge Pangxiao.
„Du hast recht", sagte Chang Geng.
Als der größte der vier hatte Chang Geng bereits über die
Köpfe einiger Schaulustiger hinweggesehen und entdeckte eine Mitteilung, die an
einem nahe gelegenen Gebäude angebracht war. Auf der Mitteilung war das
realistische Porträt eines gut aussehenden, kahlköpfigen Mönchs mit feinen
Gesichtszügen abgebildet. Darunter waren die Worte geschrieben:
Der oben abgebildete Mann hat sich als ein
angesehener Mönch des Tempels des Nationalen Schutzes ausgegeben und neben
zahllosen anderen üblen Taten auch die elenden Verbrechen des Betrugs und der
Täuschung begangen. Hiermit wird ein Haftbefehl gegen Ihn erlassen, und es wird
eine Belohnung von zehn Tael Feinsilber für
jeden ausgesetzt, der sachdienliche Hinweise gibt.
„Großer Meister Liao Ran", sagte Chang Geng. „Ihr seid
zehn Tael Feinsilber wert."
Liao Ran stand unbeweglich da, wie das lebende Porträt
eines schönen Mönchs.
„Mein Yifu muss von Onkel Wangs Nachricht erhalten und
Leute geschickt haben, um Euch zu belästigen. Chang Geng warf einen Seitenblick
auf die Menge, die auf der Suche nach den zehn Tael Silber in Aufruhr geraten
war, und wandte sich an Liao Ran. „Ich bitte um Verzeihung. Wir sollten uns auf
den Weg machen."
„Amitabha Buddha, Eure Hoheit, vergesst nicht das
Versprechen, das Ihr im Teehaus gegeben habt‘, schrieb Liao Ran schnell. Dann
stand der Mönch auf und lief, als wären seine Fußsohlen mit Öl beschmiert
worden. Der Mann war wahrlich ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass man
still wie ein Stein stehen und doch rennen wie der Wind kann.
Als sie sahen, dass sie ihre Beute gewarnt hatten, warfen
alle einfachen Leute auf dem Markt, die auf die zehn Tael Silber aus waren,
ihre Vorsicht in den Wind und stürmten von allen Seiten mit Rufen wie „Verkommener
Mönch" und „Lügner" herein.
„Das ist genau das, was mein Vater und die anderen getan
haben, als sie auf den Berg gingen, um Kaninchen zu jagen", bemerkte Ge
Pangxiao.
Chang Geng und Cao Niangzi warfen ihm einen Blick zu.
„Mit Stöcken herumfuchteln und brüllen, um die Kaninchen so
sehr zu erschrecken, damit sie sich selbst in die wartenden Netze stürzen — das
ist mein Ernst."
Der Große Meister Liao Ran war viel klüger als die
Kaninchen. Er geriet nicht in Panik. Er hatte sich bereits einen Überblick über
den Markt in dieser kleinen Stadt verschafft und huschte nach links und rechts,
wobei er sich so schnell bewegte, dass seine Gestalt verschwamm. Wer weiß, wie
er seine Route berechnete, aber mit ein paar Hin- und Her-Bewegungen hatte er
die Leute, die ihn von allen Seiten verfolgten, zu einem Knoten verknotet und
war offensichtlich voll in seinem Element.
Aus geringer Entfernung ertönten Rufe wie: „Aus dem Weg!".
Eine Schwadron von Kontingenten der Präfektur war
eingetroffen, wahrscheinlich, um die Verhaftung vorzunehmen, nachdem jemand Bericht
erstattet hatte.
Gu Yun steckt also wirklich hinter all dem,
dachte Chang Geng bei sich. Er fühlte sich zum Teil getröstet, zum Teil
verärgert. Es war tröstlich, zu wissen, dass Gu Yun, auch wenn er weit weg im
Nordwesten war, ihn nicht völlig sich selbst überlassen würde. Gu Yuns Methoden
waren zwar ein bisschen fies, aber das bedeutete zumindest, dass er in seiner
Abwesenheit an Chang Geng dachte. Gleichzeitig hatte Chang Geng das Gefühl,
dass er den Großen Meister Liao Ran zu viele Schwierigkeiten bereitet hatte.
Außerdem hatte sich dieser Mann nicht einmal zum
Neujahrsfest auf dem Anwesen blicken lassen, warum also steckte er jetzt
seine Nase in diese Angelegenheit?
Cao Niangzi packte ihn am Ärmel. „Dage, was sollen wir tun?"
Chang Geng riss sich aus seinen Grübeleien und griff nach
kurzem Überlegen in seine Reisetasche. Er nahm eine Handvoll loser
Silberbarren, zielte und warf sie wie eine himmlische Jungfrau, die Blumen
verstreut, in die Luft. „Geld! Fangt!"
Zum Glück war Liao Ran davongelaufen und hatte nicht
aufgepasst, sonst hätte sein Herz so schrecklich geschmerzt, dass ihm neue
Haare auf dem Kopf gewachsen wären.
Alle Leute, die den Mönch verfolgten, waren wie vor den
Kopf gestoßen und bückten sich sofort, um das Geld aufzuheben. Als sie hörten,
dass es sich hier um kaltes, hartes Geld handelte, gaben die anderen die
leichtfüßige und flüchtende Aussicht auf Silber auf und kehrten alle um, um
sich das echte Geld zu schnappen. Die Menge bildete ein Gewirr von Körpern und
verbarrikadierte die Soldaten hinter ihnen. Zu diesem Zeitpunkt war Liao Ran
längst verschwunden.
Chang Geng lächelte. „Lasst uns auch gehen."
Er übernahm die Führung und schlüpfte durch eine Lücke in
der Menge, um unbemerkt vom Tatort zu entkommen. Doch bevor er entkommen
konnte, ertönten Hufschläge vom anderen Ende der Gasse. Noch näher, und der
Reiter würde ihnen den Weg abschneiden und sie im Gedränge gefangen halten.
Jeder, der auf einem Pferd auf einen belebten Markt ritt,
war entweder dort, um Unruhe zu stiften, oder um einen Flüchtigen zu fangen.
„Dage, lass uns durch die Gasse fliehen", schlug Ge
Pangxiao vor.
„Es ist hoffnungslos", sagte Cao Niangzi hölzern. „Akzeptieren
wir einfach unser Schicksal."
Die herannahenden Hufschläge hielten genau am Eingang zum
Markt an. Ein paar Soldaten stiegen von ihren Pferden ab und stellten sich in
einer ordentlichen Reihe auf, und in der Mitte stand ... Jemand, den Chang Geng
erkennen würde, selbst wenn er sich in Asche verwandeln würde.
Gu Yun hatte seinen Plan auf dem Weg hierher gut
durchdacht. Zuerst wollte er Liao Ran bei lebendigem Leib häuten. Dann wollte
er Chang Geng fangen und ihm eine ordentliche Tracht Prügel verpassen.
Setzlinge müssen beschnitten werden, damit sie gerade heranwachsen, und er
dachte, dass er dieses Kind schon zu sehr verwöhnt hatte. Es schien, als wäre jedes
bisschen Sanftmut, dass er vom verstorbenen Kaiser gelernt hatte, nutzlos
gewesen — er würde den griesgrämigen alten Grafen imitieren müssen, um ein
Vater zu sein.
Aber das lodernde Feuer der Wut in seiner Brust verpuffte
in dem Moment, als er Chang Geng erblickte.
Gu Yun hätte den jungen Mann von seinem Platz auf dem Pferd
aus fast nicht erkannt. Teenager verändern sich von Tag zu Tag. In der Stadt Yanhui
hatte er immer auf Chang Geng aufgepasst, sodass die Zeichen seines Wachstums
nicht offensichtlich waren, außer an den immer kürzer werdenden Säumen seiner
Hosen. Aber nach einer Trennung von über einem Jahr hatten diese sich
allmählich anhäufenden Veränderungen diesen jungen Mann in jemanden verwandelt,
der nicht wiederzuerkennen war.
Seine Körpergröße hatte den großen und schlanken Gu Yun
eingeholt, und sein dünner Körper hatte sich zu der schlanken Figur eines
Erwachsenen entwickelt. Der ungläubige Ausdruck auf dem Gesicht des jungen
Mannes blitzte nur einen Augenblick lang auf, bevor er von seiner neu erlernten
Gelassenheit überdeckt wurde.
Gu Yun ließ sein Pferd einen Moment lang auf der Stelle
treten und dachte sich ausdruckslos. Sieht so aus, als könnte ich ihn nicht
mehr davonstehlen. Es war nicht so, dass er den Jungen nicht überwältigen
konnte, aber da Chang Geng nun zumindest das Aussehen eines Erwachsenen hatte,
wäre es keine Disziplin mehr, ihn wie ein Kind zu disziplinieren, sondern eine
Demütigung.
Für Gu Yun verschmolzen die Jahre miteinander — sie zogen
schnell vorbei, jedes ohne besondere Bedeutung. Doch in diesem Moment begriff
er mit Verspätung die Gnadenlosigkeit der Zeit. Er hatte nur einen Augenblick
lang weggeschaut, und sein kleiner Chang Geng war in Windeseile erwachsen
geworden. Die Tage, die er verpasst hatte, würden nie wiederkehren.
Es dämmerte Gu Yun, dass Chang Geng fünfzehn, fast sechzehn
Jahre alt war. In drei oder vier Jahren würde er auf das Anwesen des Prinzen
Yanbei ziehen und den Schutz von Gu Yuns ausgebreiteten Flügeln verlassen. Was
waren schon drei oder vier Jahre? Vielleicht gerade genug Zeit für ihn, um noch
einmal in die Hauptstadt zurückzukehren. Würde danach nur noch eine flüchtige
Verbindung zwischen ihnen bestehen?
Nach einem ganzen Jahr gelang es Marschall Gu endlich,
diese heikle Frage zu klären.
Er stieg vom Pferd ab, ging direkt auf Chang Geng zu und
sagte mit stürmischer Miene: „Komm mit mir."
Chang Gengs Blick war auf Gu Yun fixiert, der sich keinen
Zentimeter bewegen wollte. An seinem Hals befand sich eine oberflächliche
Wunde, ein Souvenir aus den Wüsten der westlichen Regionen. Sie war noch nicht
ganz verheilt.
Chang Geng fand nur mit Mühe seine Stimme. „Yifu, warum
bist du hier?"
Gu Yun spottete kalt, dann führte er sie aus dem Markt hinaus,
ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Sogar der Klang seiner Stimme hat sich
verändert, dachte er bestürzt bei sich.
Die Präfektur-Soldaten, die ihn begleitet hatten, eilten
herbei und hüpften eifrig zu Gu Yun hinauf. „Sir, dieser Mönch hat es geschafft,
zu entkommen. Sollen wir ihn verfolgen?"
„Ja", sagte Gu Yun, „Verbreitet den Haftbefehl in der
Stadt. Selbst wenn er ins Meer springt, fischt ihn wieder heraus!"
„Jawohl, Marschall!"
Hinter ihnen zupfte Cao Niangzi heimlich an Ge Pangxiaos
Ärmel. Ge Pangxiao streckte ihm die Zunge heraus. Sie waren wie tönerne
Buddhas, die versuchen, einen Fluss zu überqueren — sie konnten nicht einmal
für ihr eigenes Wohlergehen sorgen, und selbst wenn sie den Wunsch hatten zu
helfen, hatten sie nicht die Fähigkeit dazu. Ge Pangxiao konnte nur den Kopf
schütteln und hoffen, dass der Große Meister Liao Ran für sich selbst sorgen
konnte.
Chang Geng und die anderen folgten Gu Yun den ganzen Weg
zum Anwesen von Kommissar Yao, dem regionalen Justizkommissar von Yingtian. Um
seinem unerwarteten Gast zu schmeicheln, ließ Kommissar Yao seine Bediensteten kommen,
um sie am Tor zu begrüßen. „Eure Hoheit, der vierte Prinz, beehrt diesen
bescheidenen Wohnsitz mit seiner Anwesenheit und macht meinem bescheidenen Haus
alle Ehre! Bitte, tretet ein. Ich habe gutes Essen und ausgezeichneten Wein
vorbereitet, um Eure Hoheit zu empfangen."
Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, war Gu Yun mit
einem Gesicht, das so düster war wie das des Höllenkönigs, hereingestürmt. Zwei
Sätze standen ihm ins Gesicht geschrieben — Wen empfangen? Lasst ihn einfach
verhungern.
Gu Yun wusste den ganzen Abend über nicht, wie er mit Chang
Geng sprechen sollte. Er konnte nur, allein in seinem Zimmer, Becher um Becher,
des Loulan-Weins trinken den er von der Grenze mitgebracht hatte. Nach einer
Weile klopfte jemand an die Tür.
„Herein."
Chang Geng stieß die Tür vorsichtig auf und trat ein. „Yifu."
Gu Yun schwieg, sein Gesichtsausdruck war unleserlich.
Chang Geng schloss die Tür hinter sich und neigte den Kopf leicht, als ob es
anstrengend wäre, Gu Yun zu lange anzusehen.
„Yifu, ich habe dich sehr vermisst."
Gu Yun sah ihn noch einen Moment lang an, dann seufzte er
schließlich. „Komm her. Lass mich dich ansehen."
Chang Geng ging gehorsam mit. Um Gu Yun herum roch es nach
einem unbekannten Wein. Er war leicht süßlich, vielleicht der Geruch eines
Weines aus den westlichen Regionen. Er trug den allgegenwärtigen kalten
Eisenpanzer auf den Schultern. Chang Geng hatte geglaubt, er könne vor seinem
Paten die Kontrolle behalten, aber er hatte sich überschätzt — so wie er auch
nicht damit gerechnet hatte, dass Gu Yun selbst in Jiangnan nach ihm suchen
würde.
Er holte tief Luft, dann trat er impulsiv vor und umarmte
Gu Yun.
Erklärungen:
Zen ist eine japanische Richtung des Buddhismus, die sich aus dem
Mahayana-Buddhismus entwickelt hat. Zen bedeutet Meditation und ist darauf
ausgerichtet, die Einheit allen Seins und die Erkenntnis der Wirklichkeit zu
erfahren.
Vierkantlöchern: 孔方兄, Kongfang-Xiong (wörtlich: ‘Bruder
mit viereckigen Löchern‘), ist eine umgangssprachliche Bezeichnung für Geld, das
so genannt wird, weil chinesische Münzen in vormodernen Zeiten in der Mitte ein
viereckiges Loch hatten.
Tael ist ein Gewicht, das in China und Ostasien verwendet wird, von unterschiedlicher Höhe, aber in China auf 50 Gramm festgelegt.
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