Kapitel 28 ~ Jiangnan

„Was?", fragte Shen Yi.

„Ich gehe nach Jiangnan."

Shen Yi schrie vor Schmerz auf. „Aiyo ... mein Kinn krachte gegen meine Füße, meine armen Zehen— bist du wahnsinnig? Der Befehlshaber der Verteidigungsarmee an der Nordwestfront verlässt seinen Posten ohne Erlaubnis, um einen privaten Botengang nach Jiangnan zu machen ..." „Willst du dich umbringen lassen oder einen Aufstand anzetteln?"

„Nachdem wir heute das Nest des Wüstenskorpions ausgelöscht haben, sollte es für die nächsten Monate ruhig werden", antwortete Gu Yun ruhig. „Bei der Geschwindigkeit der Schwarzen Falken werden wir in ein oder zwei Tagen in Jiangnan sein, und ich werde nicht lange bleiben; ich komme zurück, sobald ich sie gefunden habe."

Shen Yi holte tief Luft und bereitete eine wahre Kaskade von Worten vor, doch bevor er auch nur eines sagen konnte, verpasste ihm Gu Yun einen Ellenbogenstoß in den Magen. Shen Yi jaulte auf und krümmte sich. „Ich habe noch nicht einmal etwas gesagt!"

„Man muss auf alle Eventualitäten gefasst sein."

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In dieser Nacht ritten dreizehn Schwarze Rösser aus den Tiefen der Wüste heran, um die lange Pattsituation zu beenden und den Anführer der Räuber und seine Gefolgsleute in einem einzigen Schlag gefangen zu nehmen. Als Gu Yun den Bericht hörte, gab er den Befehl, sie alle gefangen zu nehmen, und brach noch in derselben Nacht auf, ohne sich einen Moment auszuruhen. Der Prinz von Loulan, Ban'eduo, hatte reichlich Essen und Wein vorbereitet und stand bereit, um das müde Schwarze Eisenbataillon bei ihrer Ankunft mit einem Festmahl zu verwöhnen. Doch kaum waren sie angekommen, sah er, wie Gu Yun die Rüstung des Schwarzen Falken anlegte und sein Gesicht voller ungelöster Beschwerden war.

Loulan befand sich an einem wichtigen Ort am Eingang zur Seidenstraße. Seine Bewohner waren Kinder der Wüste und verachteten die zügellosen Wüstenräuber. Mit der Zeit waren die Loulaner zu den besten Führern des Schwarzen Eisenbataillons geworden, das die Wüste durchstreifte, um Plünderer zu vertreiben, und die beiden Nationen unterhielten eine recht freundschaftliche Beziehung. Das Volk von Loulan war geschickt im Singen und Tanzen und liebte guten Wein. Sowohl ihre Männer als auch ihre Frauen waren begeisterte Trinker — und ihr Prinz war der eifrigste von allen. Ban'eduo war weder von Marschall Gus undurchschaubaren Strategien noch von seinen außergewöhnlichen kämpferischen Fähigkeiten beeindruckt, aber er bewunderte Gu Yuns Alkoholtoleranz, die es ihm erlaubte, harten Alkohol wie Wasser zu trinken. Er hatte sich bereits zu Marschall Gus ‘Freund bei Festmahlen‘ erklärt und erfüllte diese selbst ernannte Pflicht bis zum Äußersten.

Ban'eduo lallte und jammerte in einem Ton, der fast an die singenden Wanderer in der Wüste erinnerte: „Marschall Gu, warum geht Ihr heute so schnell, wie die Wolken über den Horizont huschen? Wollt Ihr einem Mädchen nachlaufen wie die untergehende Sonne?"

Shen Yi wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Was bedeutete es für ein Mädchen, ‘wie die untergehende Sonne‘ zu sein? Vielleicht rot und rund?

„Ich bin unterwegs, um jemanden in Stücke zu hacken."

„Oh!" Ban'eduo, der immer noch zwei Krüge Wein in der Hand hielt, erschrak und murmelte dann: „Ihr seid gerade mit dem Hacken fertig geworden, und jetzt hackt Ihr noch mehr?"

„Esst Ihr nicht abends zu Abend, nachdem Ihr morgens gefrühstückt habt?"

Gu Yun erhob seine Stimme, sein Tonfall war mörderisch. „Geht zur Seite!"

Die Schwarze Falken kamen wie dunkle Schatten herangeschossen. Sie ließen sich hinter Gu Yun nieder und verschwanden dann blitzschnell wie ein dunkler Wirbelwind, der nur sinnliche weiße Rauchschwaden hinterließ. Ban'eduo sah zu, wie ihre Gestalten in der Ferne verschwanden, und fragte Shen Yi mit bewundernder Stimme: „Muss der Marschall dreimal am Tag Menschen in Stücke hacken?"

Shen Yi winkte ihn zu sich heran und flüsterte ihm ins Ohr: „Jemand ist mit seinem Sohn abgehauen."

Ban'eduo schlang seine Arme in einer dramatischen Umarmung um sich. „Oh! Sie muss ein Mädchen sein, genau wie der Vollmond!"

„...Nein, nur ein glänzender Kopf wie der Vollmond."

Während Prinz Ban'eduo sich verwirrt den Kopf zerbrach, wandte sich Shen Yi mit sorgenvollem Herzen wieder dem Lager zu. Nach ein paar Schritten, war sein Gesicht farblos — Scheiße, Gu Yun ist so überstürzt aufgebrochen. Hatte er überhaupt daran gedacht, seine Medizin mitzunehmen?

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Jiangnan empfing den von Sand und Staub bedeckten Gu Yun mit einem leichten Nieselregen, der kaum ausreichte, um die Kleidung zu benetzen. Er hielt ein paar Minuten inne, um sich auszuruhen und neu zu formieren, bevor er mit seinen Männern direkt in das Anwesen des regionalen Justizkommissars von Yingtian, Yao Zhen, stürmte.

In Anbetracht von Gu Yuns Position hätte es für ihn keinen Grund geben dürfen, freundschaftliche Beziehungen zu den örtlichen Beamten von Jiangnan zu unterhalten. Aber es gab hier eine alte Geschichte. Als Gu Yun im Alter von fünfzehn Jahren zum ersten Mal mit dem Militär ausrückte, um gegen Räuber vorzugehen, rettete er ein paar unglückliche Bastarde, die von den wilden Banditen als Geiseln gehalten wurden. Einer von ihnen war Yao Zhen, ein Beamter der reingelegt, von seinem Posten entlassen und nach Hause geschickt worden war. Später wurde Yao Zhen wieder eingestellt und wurde zum regionalen Justizkommissar von Yingtian ernannt. Die Beziehung zwischen ihm und Graf Gu war eine Freundschaft unter Gentlemen: Herzlich, und keiner versuchte, etwas vom anderen zu erlangen, aber sie waren denooch in Kontakt geblieben.

Zufällig war es der freie Tag vom Justizkommissar Yao, und so hatte er geschlafen, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Als sein Diener ihm die Nachricht überbrachte, erstarrte er vor Schreck am ganzen Körper.

„Er sagte, er sei wer?"

„Er sagte, sein Nachname sei Gu, Gu Zixi."

„Gu Zixi?" Yao Zhen wischte die Kruste in seinen Augenwinkeln weg. „Der Graf des Frieden, Gu Zixi? Und ich bin der Senior-Großsekretär dieser Dynastie — wie könnt Ihr auf so einen Schwindel hereinfallen? Treibt sie hinaus!"

Der Diener bestätigte seinen Befehl und wandte sich zum Gehen.

„Wartet!" Yao Zhen setzte sich auf, umklammerte noch immer seine Decken und überlegte einen Moment lang. „...Wartet einen Moment. Vielleicht sollte ich mal nachsehen."

Mit einem zufälligen Funken der Erkenntnis dachte er plötzlich daran, dass das unerlaubte Verlassen seines Postens genau das sein könnte, was Gu Yun tun würde.

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Zu diesem Zeitpunkt hatte Liao Ran, der sich ebenfalls in der Yingtian-Präfektur aufhielt, noch nicht begriffen, welche Katastrophe über ihm schwebte. Dieser Mönch war geizig, fast bis zum Zen. Er brach jede große Münze entzwei, und wenn es einen verfallenen Tempel zum Schlafen gab, übernachtete er nie in einem Gasthaus. Er ernährte sich von Spreu und Wildkräutern und war für jede gute Mahlzeit auf Almosen angewiesen — oder, wie es allgemeiner hieß, auf Betteln.

Er gab kein Geld aus und weigerte sich strikt, Chang Geng und die anderen ihr Geld ausgeben zu lassen. Glücklicherweise konnten diese drei halbwüchsigen Teenager alle ein wenig Entbehrung ertragen und hielten ihm auf seinen Wanderungen die Treue, obwohl sie nie wussten, woher ihre nächste Mahlzeit kommen würde.

Liao Rans Reisepläne waren sehr spontan. Manchmal führte er sie durch die Straßen und Gassen zwischen den Häusern der normalen Stadtbewohner, und manchmal wanderte er ziellos zwischen den Feldern umher. Er war wahllos, wenn es darum ging, wo er um Almosen bat. Sie besuchten die Häuser von Gentlemen und Philanthropen auf dem Land, aber auch von gewöhnlichen Mietern, und nahmen alles an, was man ihnen gab. Einmal besuchten sie eine alleinlebende, kinderlose ältere Person, und als sie sahen, dass er wirklich nichts zu entbehren hatten, bekamen sie nicht nur keine Mahlzeit, sondern ließen sogar etwas Geld für ihren Gastgeber zurück.

„Die Menschen frieren und verhungern selbst in friedlichen und wohlhabenden Zeiten, und die Menschen schwelgen selbst in Zeiten des Aufruhrs in Macht und Reichtum“, gab Liao Ran Chang Geng und den anderen mit auf den Weg, als sie sich durch den Markt einer kleinen Stadt schlängelten. „Der Begriff 'der Weg der Welt' sollte in zwei Teile geteilt werden'. 'Der Weg' ist die Richtung, in die die Herzen der Menschen zeigen, und 'die Welt' ist ein einzelnes Reiskorn unter den funkelnden Lichtern einer Stadt, ein einzelner Ziegelstein in einer endlos langen Stadtmauer.“

„Großer Meister, Ihr solltet den weltlichen Dingen entsagen", sagte Chang Geng, „denn selbst wenn Ihr von 'der Welt', sprecht, führen Eure Erklärungen immer dazu, dass man 'den Weg' sieht."

Chang Geng war zu diesem Zeitpunkt fast größer als Liao Ran, und seine Stimme hatte die Frische der Jugend vollkommen verloren. Sie war etwas leise, und er sprach in einem gemächlichen Tempo, das den Eindruck von Stetigkeit vermittelte. Er war von Natur aus ein ruhiger Mensch, und obwohl er sich bei Menschenansammlungen immer unwohl fühlte, hatte er irgendwann die Fähigkeit entwickelt, sich überall hinzubewegen, als würde er müßig durch einen weitläufigen Innenhof schlendern.

Vielleicht weil er entschlossen war, sich selbst zu brechen und neu zu erschaffen, waren einige dieser kleinen Ärgernisse mit der Zeit ganz natürlich zur Nebensache geworden.

Liao Ran lächelte heiter und schrieb: „Wenn ein Mönch den Weg der Welt nicht kennt, wie kann er dann behaupten, ihr abgeschworen zu haben?“

Liao Ran hatte ein außerordentlich einnehmendes Gesicht. Wenn er sauber geschrubbt war, sah er aus wie ein bedeutender Mönch, der sich vom Staub der irdischen Angelegenheiten fernhielt; wenn er tagelang nicht gebadet hatte, sah er aus wie ein bedeutender Mönch, der die weltlichen Mühen überwunden hatte. Die allumfassende Aura des Buddhas leuchtete von seinem kahlen Kopf, und in seinen klaren Augen spiegelte sich der Wunsch, alle Lebewesen vom Leid zu befreien. Wäre er nur ein wenig großzügiger mit einem bestimmten metallischen weltlichen Besitz mit Vierkantlöchern gewesen, hätten Chang Geng und die anderen ihn wahrlich als einen durch und durch bedeutenden Mönch betrachtet.

Plötzlich unterbrach Cao Niangzi diesen bedeutenden Mönch und flüsterte in gedämpftem Ton: „Hör auf mit dem metaphysischen Training, Chang Geng-Dage. Hast du nicht bemerkt, dass uns die Leute alle anstarren?"

Die vier — ein Mönch, ein kultivierter und eleganter junger Meister, ein aufgeblasenes neureiches Kind und ein junges Mädchen, das zwar hübsch war, aber ein wenig abwesend wirkte — waren von vornherein eine äußerst auffällige Gruppe. Sie waren längst daran gewöhnt, beobachtet zu werden, und selbst Chang Geng war nicht mehr so empfindlich gegenüber den Blicken der Passanten.

Doch dieses Mal schien die Aufmerksamkeit zu groß zu sein. Als die Stadtbewohner sie sahen, blieben sie alle stehen und starrten sie nicht nur an, sondern zeigten auch auf sie und flüsterten untereinander.

„Ich habe das Gefühl, dass gleich etwas passieren wird", murmelte Ge Pangxiao.

„Du hast recht", sagte Chang Geng.

Als der größte der vier hatte Chang Geng bereits über die Köpfe einiger Schaulustiger hinweggesehen und entdeckte eine Mitteilung, die an einem nahe gelegenen Gebäude angebracht war. Auf der Mitteilung war das realistische Porträt eines gut aussehenden, kahlköpfigen Mönchs mit feinen Gesichtszügen abgebildet. Darunter waren die Worte geschrieben:

Der oben abgebildete Mann hat sich als ein angesehener Mönch des Tempels des Nationalen Schutzes ausgegeben und neben zahllosen anderen üblen Taten auch die elenden Verbrechen des Betrugs und der Täuschung begangen. Hiermit wird ein Haftbefehl gegen Ihn erlassen, und es wird eine Belohnung von zehn Tael Feinsilber für jeden ausgesetzt, der sachdienliche Hinweise gibt.

„Großer Meister Liao Ran", sagte Chang Geng. „Ihr seid zehn Tael Feinsilber wert."

Liao Ran stand unbeweglich da, wie das lebende Porträt eines schönen Mönchs.

„Mein Yifu muss von Onkel Wangs Nachricht erhalten und Leute geschickt haben, um Euch zu belästigen. Chang Geng warf einen Seitenblick auf die Menge, die auf der Suche nach den zehn Tael Silber in Aufruhr geraten war, und wandte sich an Liao Ran. „Ich bitte um Verzeihung. Wir sollten uns auf den Weg machen."

„Amitabha Buddha, Eure Hoheit, vergesst nicht das Versprechen, das Ihr im Teehaus gegeben habt‘, schrieb Liao Ran schnell. Dann stand der Mönch auf und lief, als wären seine Fußsohlen mit Öl beschmiert worden. Der Mann war wahrlich ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass man still wie ein Stein stehen und doch rennen wie der Wind kann.

Als sie sahen, dass sie ihre Beute gewarnt hatten, warfen alle einfachen Leute auf dem Markt, die auf die zehn Tael Silber aus waren, ihre Vorsicht in den Wind und stürmten von allen Seiten mit Rufen wie „Verkommener Mönch" und „Lügner" herein.

„Das ist genau das, was mein Vater und die anderen getan haben, als sie auf den Berg gingen, um Kaninchen zu jagen", bemerkte Ge Pangxiao.

Chang Geng und Cao Niangzi warfen ihm einen Blick zu.

„Mit Stöcken herumfuchteln und brüllen, um die Kaninchen so sehr zu erschrecken, damit sie sich selbst in die wartenden Netze stürzen — das ist mein Ernst."

Der Große Meister Liao Ran war viel klüger als die Kaninchen. Er geriet nicht in Panik. Er hatte sich bereits einen Überblick über den Markt in dieser kleinen Stadt verschafft und huschte nach links und rechts, wobei er sich so schnell bewegte, dass seine Gestalt verschwamm. Wer weiß, wie er seine Route berechnete, aber mit ein paar Hin- und Her-Bewegungen hatte er die Leute, die ihn von allen Seiten verfolgten, zu einem Knoten verknotet und war offensichtlich voll in seinem Element.

Aus geringer Entfernung ertönten Rufe wie: „Aus dem Weg!".

Eine Schwadron von Kontingenten der Präfektur war eingetroffen, wahrscheinlich, um die Verhaftung vorzunehmen, nachdem jemand Bericht erstattet hatte.

Gu Yun steckt also wirklich hinter all dem, dachte Chang Geng bei sich. Er fühlte sich zum Teil getröstet, zum Teil verärgert. Es war tröstlich, zu wissen, dass Gu Yun, auch wenn er weit weg im Nordwesten war, ihn nicht völlig sich selbst überlassen würde. Gu Yuns Methoden waren zwar ein bisschen fies, aber das bedeutete zumindest, dass er in seiner Abwesenheit an Chang Geng dachte. Gleichzeitig hatte Chang Geng das Gefühl, dass er den Großen Meister Liao Ran zu viele Schwierigkeiten bereitet hatte.

Außerdem hatte sich dieser Mann nicht einmal zum Neujahrsfest auf dem Anwesen blicken lassen, warum also steckte er jetzt seine Nase in diese Angelegenheit?

Cao Niangzi packte ihn am Ärmel. „Dage, was sollen wir tun?"

Chang Geng riss sich aus seinen Grübeleien und griff nach kurzem Überlegen in seine Reisetasche. Er nahm eine Handvoll loser Silberbarren, zielte und warf sie wie eine himmlische Jungfrau, die Blumen verstreut, in die Luft. „Geld! Fangt!"

Zum Glück war Liao Ran davongelaufen und hatte nicht aufgepasst, sonst hätte sein Herz so schrecklich geschmerzt, dass ihm neue Haare auf dem Kopf gewachsen wären.

Alle Leute, die den Mönch verfolgten, waren wie vor den Kopf gestoßen und bückten sich sofort, um das Geld aufzuheben. Als sie hörten, dass es sich hier um kaltes, hartes Geld handelte, gaben die anderen die leichtfüßige und flüchtende Aussicht auf Silber auf und kehrten alle um, um sich das echte Geld zu schnappen. Die Menge bildete ein Gewirr von Körpern und verbarrikadierte die Soldaten hinter ihnen. Zu diesem Zeitpunkt war Liao Ran längst verschwunden.

Chang Geng lächelte. „Lasst uns auch gehen."

Er übernahm die Führung und schlüpfte durch eine Lücke in der Menge, um unbemerkt vom Tatort zu entkommen. Doch bevor er entkommen konnte, ertönten Hufschläge vom anderen Ende der Gasse. Noch näher, und der Reiter würde ihnen den Weg abschneiden und sie im Gedränge gefangen halten.

Jeder, der auf einem Pferd auf einen belebten Markt ritt, war entweder dort, um Unruhe zu stiften, oder um einen Flüchtigen zu fangen.

„Dage, lass uns durch die Gasse fliehen", schlug Ge Pangxiao vor.

„Es ist hoffnungslos", sagte Cao Niangzi hölzern. „Akzeptieren wir einfach unser Schicksal."

Die herannahenden Hufschläge hielten genau am Eingang zum Markt an. Ein paar Soldaten stiegen von ihren Pferden ab und stellten sich in einer ordentlichen Reihe auf, und in der Mitte stand ... Jemand, den Chang Geng erkennen würde, selbst wenn er sich in Asche verwandeln würde.

Gu Yun hatte seinen Plan auf dem Weg hierher gut durchdacht. Zuerst wollte er Liao Ran bei lebendigem Leib häuten. Dann wollte er Chang Geng fangen und ihm eine ordentliche Tracht Prügel verpassen. Setzlinge müssen beschnitten werden, damit sie gerade heranwachsen, und er dachte, dass er dieses Kind schon zu sehr verwöhnt hatte. Es schien, als wäre jedes bisschen Sanftmut, dass er vom verstorbenen Kaiser gelernt hatte, nutzlos gewesen — er würde den griesgrämigen alten Grafen imitieren müssen, um ein Vater zu sein.

Aber das lodernde Feuer der Wut in seiner Brust verpuffte in dem Moment, als er Chang Geng erblickte.

Gu Yun hätte den jungen Mann von seinem Platz auf dem Pferd aus fast nicht erkannt. Teenager verändern sich von Tag zu Tag. In der Stadt Yanhui hatte er immer auf Chang Geng aufgepasst, sodass die Zeichen seines Wachstums nicht offensichtlich waren, außer an den immer kürzer werdenden Säumen seiner Hosen. Aber nach einer Trennung von über einem Jahr hatten diese sich allmählich anhäufenden Veränderungen diesen jungen Mann in jemanden verwandelt, der nicht wiederzuerkennen war.

Seine Körpergröße hatte den großen und schlanken Gu Yun eingeholt, und sein dünner Körper hatte sich zu der schlanken Figur eines Erwachsenen entwickelt. Der ungläubige Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Mannes blitzte nur einen Augenblick lang auf, bevor er von seiner neu erlernten Gelassenheit überdeckt wurde.

Gu Yun ließ sein Pferd einen Moment lang auf der Stelle treten und dachte sich ausdruckslos. Sieht so aus, als könnte ich ihn nicht mehr davonstehlen. Es war nicht so, dass er den Jungen nicht überwältigen konnte, aber da Chang Geng nun zumindest das Aussehen eines Erwachsenen hatte, wäre es keine Disziplin mehr, ihn wie ein Kind zu disziplinieren, sondern eine Demütigung.

Für Gu Yun verschmolzen die Jahre miteinander — sie zogen schnell vorbei, jedes ohne besondere Bedeutung. Doch in diesem Moment begriff er mit Verspätung die Gnadenlosigkeit der Zeit. Er hatte nur einen Augenblick lang weggeschaut, und sein kleiner Chang Geng war in Windeseile erwachsen geworden. Die Tage, die er verpasst hatte, würden nie wiederkehren.

Es dämmerte Gu Yun, dass Chang Geng fünfzehn, fast sechzehn Jahre alt war. In drei oder vier Jahren würde er auf das Anwesen des Prinzen Yanbei ziehen und den Schutz von Gu Yuns ausgebreiteten Flügeln verlassen. Was waren schon drei oder vier Jahre? Vielleicht gerade genug Zeit für ihn, um noch einmal in die Hauptstadt zurückzukehren. Würde danach nur noch eine flüchtige Verbindung zwischen ihnen bestehen?

Nach einem ganzen Jahr gelang es Marschall Gu endlich, diese heikle Frage zu klären.

Er stieg vom Pferd ab, ging direkt auf Chang Geng zu und sagte mit stürmischer Miene: „Komm mit mir."

Chang Gengs Blick war auf Gu Yun fixiert, der sich keinen Zentimeter bewegen wollte. An seinem Hals befand sich eine oberflächliche Wunde, ein Souvenir aus den Wüsten der westlichen Regionen. Sie war noch nicht ganz verheilt.

Chang Geng fand nur mit Mühe seine Stimme. „Yifu, warum bist du hier?"

Gu Yun spottete kalt, dann führte er sie aus dem Markt hinaus, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Sogar der Klang seiner Stimme hat sich verändert, dachte er bestürzt bei sich.

Die Präfektur-Soldaten, die ihn begleitet hatten, eilten herbei und hüpften eifrig zu Gu Yun hinauf. „Sir, dieser Mönch hat es geschafft, zu entkommen. Sollen wir ihn verfolgen?"

„Ja", sagte Gu Yun, „Verbreitet den Haftbefehl in der Stadt. Selbst wenn er ins Meer springt, fischt ihn wieder heraus!"

„Jawohl, Marschall!"

Hinter ihnen zupfte Cao Niangzi heimlich an Ge Pangxiaos Ärmel. Ge Pangxiao streckte ihm die Zunge heraus. Sie waren wie tönerne Buddhas, die versuchen, einen Fluss zu überqueren — sie konnten nicht einmal für ihr eigenes Wohlergehen sorgen, und selbst wenn sie den Wunsch hatten zu helfen, hatten sie nicht die Fähigkeit dazu. Ge Pangxiao konnte nur den Kopf schütteln und hoffen, dass der Große Meister Liao Ran für sich selbst sorgen konnte.

Chang Geng und die anderen folgten Gu Yun den ganzen Weg zum Anwesen von Kommissar Yao, dem regionalen Justizkommissar von Yingtian. Um seinem unerwarteten Gast zu schmeicheln, ließ Kommissar Yao seine Bediensteten kommen, um sie am Tor zu begrüßen. „Eure Hoheit, der vierte Prinz, beehrt diesen bescheidenen Wohnsitz mit seiner Anwesenheit und macht meinem bescheidenen Haus alle Ehre! Bitte, tretet ein. Ich habe gutes Essen und ausgezeichneten Wein vorbereitet, um Eure Hoheit zu empfangen."

Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, war Gu Yun mit einem Gesicht, das so düster war wie das des Höllenkönigs, hereingestürmt. Zwei Sätze standen ihm ins Gesicht geschrieben — Wen empfangen? Lasst ihn einfach verhungern.

Gu Yun wusste den ganzen Abend über nicht, wie er mit Chang Geng sprechen sollte. Er konnte nur, allein in seinem Zimmer, Becher um Becher, des Loulan-Weins trinken den er von der Grenze mitgebracht hatte. Nach einer Weile klopfte jemand an die Tür.

„Herein."

Chang Geng stieß die Tür vorsichtig auf und trat ein. „Yifu."

Gu Yun schwieg, sein Gesichtsausdruck war unleserlich. Chang Geng schloss die Tür hinter sich und neigte den Kopf leicht, als ob es anstrengend wäre, Gu Yun zu lange anzusehen.

„Yifu, ich habe dich sehr vermisst."

Gu Yun sah ihn noch einen Moment lang an, dann seufzte er schließlich. „Komm her. Lass mich dich ansehen."

Chang Geng ging gehorsam mit. Um Gu Yun herum roch es nach einem unbekannten Wein. Er war leicht süßlich, vielleicht der Geruch eines Weines aus den westlichen Regionen. Er trug den allgegenwärtigen kalten Eisenpanzer auf den Schultern. Chang Geng hatte geglaubt, er könne vor seinem Paten die Kontrolle behalten, aber er hatte sich überschätzt — so wie er auch nicht damit gerechnet hatte, dass Gu Yun selbst in Jiangnan nach ihm suchen würde.

Er holte tief Luft, dann trat er impulsiv vor und umarmte Gu Yun.

 

 

 

Erklärungen:

Zen ist eine japanische Richtung des Buddhismus, die sich aus dem Mahayana-Buddhismus entwickelt hat. Zen bedeutet Meditation und ist darauf ausgerichtet, die Einheit allen Seins und die Erkenntnis der Wirklichkeit zu erfahren.

Vierkantlöchern: 孔方兄, Kongfang-Xiong (wörtlich: ‘Bruder mit viereckigen Löchern‘), ist eine umgangssprachliche Bezeichnung für Geld, das so genannt wird, weil chinesische Münzen in vormodernen Zeiten in der Mitte ein viereckiges Loch hatten.

Tael ist ein Gewicht, das in China und Ostasien verwendet wird, von unterschiedlicher Höhe, aber in China auf 50 Gramm festgelegt.




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GLOSSAR und die Welt von Stars of Chaos

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