Ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern, holte Gu Yun in aller Ruhe einen Umschlag aus seinem Revers und reichte ihn Chang Geng. In dem Umschlag befand sich kein Brief. Es war nur ein leeres Behältnis, in dem ein kalter Duft schwebte – Adlerholz und Rosenholz gemischt mit einem anderen, nicht identifizierbaren Duft.
Am Abend zuvor hatten die Schwarzen Falken drei Umschläge
bei dem entführten Duftexperten gefunden, und dieser war einer von ihnen. Jeder
der drei Umschläge enthielt einen anderen Duft. Der Duftexperte war
bemerkenswert hartnäckig und weigerte sich, ihnen die Bedeutung der Umschläge
zu verraten, auch als sie ihn verhörten oder folterten. Zugegeben, bei der
Kürze der Zeit hätte Gu Yun ihm wahrscheinlich nicht geglaubt, selbst wenn er
gestanden hätte.
Von diesen drei Umschlägen war dies der einzige, von dem Gu
Yun etwas Verstand.
Angeblich gab es einmal einen despotischen Kaiser, der sich
krummen Lehren anschloss und seinen Dienern befahl, diesen Duft herzustellen,
das ihm helfen sollte, Unsterblichkeit zu erlangen. Man nannte es den Duft des
kaiserlichen Herrschers. Er war kalt, aber nicht klar, sondern reich und
luxuriös. Der verstorbene Kaiser hatte etwas davon im Verborgenen aufbewahrt
und zündete es eines Jahres spontan an, weil er fand, dass der Duft ganz anders
als der übliche Weihrauch im Palast war. Seine Majestät hatte Gu Yun erzählt,
dass der Duft zwar angenehm war, aber von den Menschen auch als ‘Duft der
sterbenden Nation‘ bezeichnet wurde. Wenn man ihn einmal privat anzündete, war
das nicht weiter schlimm, aber wenn die kaiserliche Zensurbehörde davon erfuhr,
würde sie den Verstand verlieren. Es musste ein Geheimnis zwischen ihnen beiden
bleiben.
All diese Jahre später hatte Gu Yun immer noch einen
starken Eindruck von diesem Duft der sterbenden Nation.
Gu Yun hatte bemerkt, dass Chang Geng sich beim Sprechen
des Mannes anspannte. Noch bevor Chang Geng etwas in seine Hand schrieb,
überlegte er bereits, ob es richtig war, diesen Umschlag einzusetzen oder
nicht. Gu Yun wog ab seine Möglichkeiten ab und sagte zu sich selbst: Eins
zu drei — das sind gute Chancen. Wenn alles andere scheitert, werden wir
einfach mit dem Strom schwimmen.
Glücklicherweise war er der Einzige, der sich dieser ‘guten
Chancen‘ bewusst war. Alle anderen, die sahen, wie sicher er war, folgten
einfach seinem Beispiel.
Das Gesicht des Mannes veränderte sich. Er nahm den
Umschlag entgegen und schnupperte ein paar Mal vorsichtig daran, sein Gesicht
war unleserlich.
Werden wir kämpfen müssen?, fragte
Chang Geng zu sich selbst.
Gu Yun tätschelte beiläufig seine fest geballte Hand, die
trotz der angespannten Atmosphäre ein Zentrum der Ruhe war.
Als der Mann mittleren Alters wieder zu Gu Yun aufsah, war
sein Gesichtsausdruck viel entspannter. „Mein Name ist Zhai Song. Ich bin der
Aufseher über diese Schiffe. Darf ich fragen, woher Ihr kommt und wohin Ihr
wollt?"
Dies war ein Code. Chang Geng schrieb jedes einzelne Wort
davon in Gu Yuns Handfläche. Gu Yun öffnete zum ersten Mal den Mund und sagte: „Von
der Erde, in das Land der Toten."
Der Mann, der sich Zhai Song nannte, schien über seine
Antwort erschrocken zu sein. Nach einem Moment des Zögerns schien seine Stimme
ein wenig zu schwächeln. „Dann ... dann werde ich den Duftmeister nicht weiter belästigen.
Hier entlang, bitte."
Gu Yun stand unbeweglich da, seine Vorstellung von Taubheit
war unantastbar. Erst als Chang Geng leicht an seinem Arm zerrte, folgte der
ausdruckslose Gu Yun seinem Beispiel und verkörperte perfekt einen seltsamen
und temperamentvollen ‘Duftmeister‘, dessen Sinne für die Welt tot waren.
Unter dem Schutz von Gu Yuns weitem Ärmel schrieb Chang
Geng in seine Handfläche: „Yifu, woher kennst du ihren Code?"
Die Schwarzen Falken, die in der Nacht zuvor den Auftrag
erhalten hatten, die Handelsschiffe zu überwachen, hatten denselben Austausch
zwischen zwei Matrosen belauscht und in ihren detaillierten Bericht
aufgenommen. Gu Yun hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, und konnte
sich nur durchwursteln, was ihn aber nicht daran hinderte, gegenüber Chang Geng
zu prahlen: „Es gibt nichts, was ich nicht weiß."
Die gesamte Gruppe ging problemlos an Bord des Dongying-Handelsschiffs.
Mehrere Dongyinger tauchten auf und begutachteten den legendären Duftmeister
mit Neugierde. Unter dem Einfluss von Groß-Liang war die shinto-buddhistische Kultur in Dongying aufgeblüht,
und nicht wenige Menschen traten vor, um ihn zu begrüßen, als sie den Mönch
hinter Gu Yun sahen.
Chang Geng untersuchte diese Dongying-Leute diskret – ihre
Zahl war größer, als er gedacht hatte. Aufgrund ihres offiziellen Status als
Geleitschutz für das Schiff waren sie alle mit Langschwertern bewaffnet, und
mehrere von ihnen hatten Eisenstulpen und seltsam aussehende Pfeile an ihre
Handgelenke und Oberschenkel geschnallt. Als sie näher kamen, nahm Chang Geng
einen schwachen Geruch von Blut wahr, der von ihren Körpern ausging.
Plötzlich ertönte ein lauter Schrei, und ein maskierter Dongyinger
tauchte aus dem Nichts auf, landete hinter Gu Yun und schwang ohne Vorwarnung
eine gebogene Klinge in die Richtung seines Rückens. Chang Geng reagierte
blitzschnell. Ohne auch nur sein Schwert aus der Scheide zu nehmen, hob er
seine Klinge und blockte den Schlag des Angreifers ab. Der Mann stieß einen
schrillen, unverständlichen Schrei aus, bevor sich sein kleiner, schlanker
Körper, der so knochenlos wie eine Schlange war, in einem seltsamen Winkel
krümmte. In seinen Händen verwandelte sich die gebogene Klinge in eine böse
Schlangenzunge und schlug sieben Mal hintereinander nach Chang Geng.
Gleichzeitig platzte die linke Schulter des Mannes auf und ein Dongying-Shuriken schoss direkt auf Gu Yun zu.
Vielleicht hat Gu Yun einfach nur seine Performance voll
ausgeschöpft – er bewegte sich keinen Zentimeter, als die Klinge auf ihn
zuraste, als hätte er überhaupt nichts gehört. In seiner Verzweiflung zog Chang
Geng sein Schwert, schleuderte mit der Scheide zu und schlug das Shuriken weg,
kurz bevor es Gu Yuns Brust berührte.
Dies war nicht Chang Gengs erster Kampf, und es war auch
nicht das erste Mal, dass er so knapp war. Aber es war das erste Mal, dass
jemand seinen jungen Paten vor seinen Augen fast verwundet hätte. Ein schwacher
roter Schimmer flackerte über seine Augen, als sich das Wu'ergu in seinem
Körper zu regen begann. Sein Handgelenk schnappte nach unten, und er führte
eine Bewegung aus, die er normalerweise gegen die Schwertpuppe einsetzte. Das
gebogene Schwert in der Hand des Dongying-Angreifers zitterte heftig und bog
sich fast unter der Wucht von Chang Gengs Schlag. Bevor sein Gegner seine
Klinge zurückziehen konnte, verpasste ihm Chang Geng einen kräftigen Tritt in
die Hüfte.
Es hieß, dass bestimmte Personen aus Dongying kleiner und
schlanker sein mussten als der Durchschnittsmensch, damit sie Mauern
hochklettern und auf Dächern entlanglaufen konnten, um sich zu verstecken und
Attentate zu verüben. Dieser schlangenähnliche Mann muss ein Exemplar von ihnen
gewesen sein, denn obwohl seine Bewegungen flink und unvorhersehbar waren,
konnte seine schlanke Gestalt keine Schläge einstecken. Chang Gengs Tritt hätte
ihm beinahe die Eingeweide aus der Kehle geschleudert. Da er das gebogene
Schwert nicht mehr festhalten konnte, zog er sich stolpernd zurück.
Chang Geng hatte nicht die Absicht, ihn gehen zu lassen. Er
schnippte das gebogene Schwert mit der Spitze seines Stiefels vom Boden ab, sodass
es sich im Boden verankerte und dem Mann den Weg versperrte. Chang Gengs
eigenes Schwert drehte sich in seiner Hand und war bereit, den Mann aus Dongying
in zwei Hälften zu zerschneiden.
Die ganze Szene spielte sich in einem Augenblick ab, bevor
Freund oder Feind die Chance hatten, zu reagieren. Als Chang Geng im Begriff
war, den tödlichen Schlag zu führen, ertönten drei verschiedene Schreie: „Halt!“
Mehrere östliche Schwerter wurden aus allen Richtungen gezogen und blockierten
den unerbittlichen Angriff von Chang Geng in einer stürmischen Bewegung.
Der verblüffte Liao Ran wischte sich den Schweiß von der
Stirn — letzte Nacht hatte Chang Geng also tatsächlich ernsthaft gedroht, ihn
aufzuspießen.
„Geht mir aus dem Weg!", brüllte Chang Geng.
Zhai Song eilte herbei und stammelte eine lange Reihe von
Worten. „Ein Missverständnis, das ist alles ein Missverständnis! Herr Kamikawa
ist zum ersten Mal zu Besuch in Groß-Liang und versteht die Etikette nicht
ganz. Als er sah, dass Ihr ein Schwert tragt, wollte er sich einen kleinen
Scherz erlauben. Bitte verzeiht ihm – lasst Euch nicht auf sein Niveau herab."
Chang Geng starrte den schlangenartigen Mann, der sich
hinter einer Reihe von Verteidigern zusammengerollt hatte, mit einem leicht
geröteten Blick an. Zwischen zusammengebissenen Zähnen presste er zwei Worte
hervor. „Ein Scherz?"
Zhai Song lächelte entschuldigend und wandte sich an Gu
Yun, der immer noch dastand, als wäre nichts geschehen. „Zhang-Xiansheng ..."
Als er den ausdruckslosen Blick des Mannes sah, erinnerte
er sich wieder daran, dass diese hochrangigen Duftexperten alle blind und taub
waren. Er trat vor und streckte die Hand aus, um Gu Yun auf den Arm zu klopfen.
Doch bevor seine Hand ihn berühren konnte, peitschte etwas hinter ihm durch die
Luft. Zum Glück waren Zhai Songs Reflexe schnell, sonst hätte er alles
unterhalb seines Handgelenks verloren.
„Fasst ihn nicht an!"
Zhai Song war fassungslos. In dieser Gruppe konnte einer
nicht hören, einer nicht sprechen, und zwei von ihnen waren zwei halbwüchsige
Kinder, die aussahen wie eine Trommel und ein Trommelstock, die nebeneinanderstanden.
Die einzige Person, die im Namen der Gruppe sprechen konnte, war im Moment
nicht bei Verstand und hatte nicht einmal die tödliche Waffe in seinen Händen
weggelegt. Die Situation geriet in eine vorübergehende Pattsituation.
Gu Yun nutzte diesen Moment, um endlich seinen ehrwürdigen
Mund zu öffnen. „Warum vergeuden wir hier noch unsere Zeit? Wenn wir so
weitermachen, verpassen wir unsere Abfahrtszeit."
Er schien nicht die leiseste Ahnung zu haben, dass direkt
neben ihm ein so herzzerreißender Kampf ausgebrochen war.
Zhai Song beeilte sich, die Wogen zu glätten. „Natürlich,
natürlich, wir sind hier alle auf derselben Seite ..."
Er sprach noch, als Gu Yun die Hand hob und alle anderen in
der Nähe ignorierte. Chang Geng hielt inne, hob die Scheide mit der
Schwertspitze des Angreifers vom Deck und legte die Klinge wieder an. Er trat
vor, nahm Gu Yuns Arm und begleitete ihn ins Innere der Kabine. Liao Ran
bildete das Schlusslicht und grüßte die Gruppe der schockierten Dong Yingern mit
höflich geballten Händen und einem freundlichen Gesichtsausdruck. Er holte ein
schäbiges Set buddhistischer Gebetsperlen aus Holz hervor. Die Perlen waren
ursprünglich dunkelrot gestrichen worden, um rotes Sandelholz zu imitieren,
aber im Laufe der Jahre hatte der Mönch den größten Teil der Farbe abgerieben, sodass
die ‘Sandelholz‘-Perlen verblasst waren.
Der hübsche Mönch in seiner Kleidung, die ebenso
gesprenkelt war wie seine Perlen, lächelte freundlich, während er lautlos
Schriften rezitierte. Er betete für alle Menschen vor ihm und folgte dann Ge
Pangxiao und Cao Niangzi. Diesmal starrten alle Dongyinger, an denen sie
vorbeikamen, ihnen nach, als sie sich zurückzogen, als würden sie einen großen
Feind einschätzen. Keiner wagte es, sich ihnen in den Weg zu stellen.
Chang Geng führte Gu Yun in die eigens für den Duftexperten
vorbereitete Kabine, und seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er warf
einen vorsichtigen Blick durch die Tür, bevor er sie schloss und sich Gu Yun
zuwandte. „Yi ..."
Gu Yun hob einen Finger an seine Lippen.
In seinem jetzigen Zustand konnte er überhaupt nichts
hören, es sei denn, jemand drückte sich direkt an Gu Yuns Ohr und schrie. Er
spürte, dass Chang Geng ihn ansprechen wollte, als er nach dem Schließen der
Tür herumwirbelte, und wusste daher, dass er ihn vorzeitig zum Schweigen bringen
musste.
Kurz nach Gu Yuns zehntem Geburtstag fand einer der
Untergebenen des alten Grafen einen zivilen Medizin-Experten, der ihm die
spezielle Medizin verschrieb, die er immer noch nahm. Bis dahin hatte er
einfach mit den Beeinträchtigungen seines Seh- und Hörvermögens gelebt. Der
alte Graf hatte sein halbes Leben lang eisern gelebt – er war streng mit sich
selbst und noch strenger mit seinem Sohn. Er wusste nicht einmal, wie das Wort ‘liebevolle
Zuneigung‘ geschrieben wurde. Unabhängig davon, ob Gu Yun sehen konnte oder
nicht, und unabhängig davon, wie Gu Yun selbst darüber dachte, musste er
schließlich lernen, was er lernen musste. Und eine Eisenpuppe würde keine Gnade
mit ihm haben, nur weil er behindert war.
Gu Yuns Trainingsgefährten aus der Kindheit waren nicht mit
der Schwerttrainingspuppe zu vergleichen, die er zum Spielen mit Chang Geng
mitgebracht hatte. Die Schwerttrainingspuppe sah zwar furchterregend aus, aber
sie war speziell angepasst worden. Sie blieb immer dort stehen, wo es
angebracht war, wenn sie mit einer Person kämpfte, und ihre Waffen verletzten
niemanden. Wenn echte Eisenpuppen zu kämpfen begannen, waren sie gnadenlose
Eisenmonster. Was kümmerte es sie, ob sie Menschen verletzten?
Der junge Gu Yun hatte seine schwache Sehkraft, sein Gehör
und das Gefühl der schwachen Luftveränderung auf seiner Haut genutzt, um sich
gegen sie zu behaupten. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte nie mit
den Erwartungen des alten Grafen mithalten. Jedes Mal, wenn er sich an eine
Stufe von Geschwindigkeit und Kraft gewöhnt hatte, wurde die Messlatte sofort
höher gelegt.
Um es mit den Worten des alten Grafen zu sagen: ‘Entweder
du stehst auf oder du suchst dir einen Balken, um dich zu erhängen. Die
Gu-Familie würde lieber ihre Blutlinie beenden, als Abschaum in ihren Reihen zu
haben. ‘
Diese Worte waren wie ein kalter Stahlnagel, der seit
seiner frühen Kindheit in Gu Yuns Knochen steckte. Er konnte ihn nie wieder
herausholen, egal wie lange er lebte. Selbst als der ehemalige Graf starb und
Gu Yun in den Palast einzog, wagte er es nicht, sich auch nur einen Tag lang zu
entspannen. Seine durch jahrelanges Training bis ins Äußerste geschärften Sinne
konnten ihm zumindest helfen, bei bestimmten Gelegenheiten den Schein zu
wahren. Das war auch der Grund, warum er sich weigerte, dickere Kleidung zu
tragen, außer bei Temperaturen, die kein sterbliches Fleisch aushalten konnte,
denn dicke und schwere Fuchspelzmäntel und wattierte Baumwollkleidung stumpften
seine Sinne ab.
Gu Yun tastete ein wenig in der Luft nach Chang Gengs
Handfläche und schrieb dann: „Derjenige, der dich gerade angegriffen hat, war
ein Dong Ying-Ninja. Sie sind geschickt darin, zu schleichen und Ärger zu
machen. Nimm dich in Acht, die Wände haben Ohren."
Chang Geng senkte den Kopf und konnte nicht widerstehen, Gu
Yuns leicht schwielige Hand zu ergreifen. Mit einem langen Seufzer atmete er
all die gewalttätige Energie aus, die in seiner Brust aufgewühlt war, und
schüttelte den Kopf, um sich selbst zu tadeln. Gu Yun war immer ruhig, und er
war immer derjenige, der sich halb zu Tode erschreckte.
Gu Yun war verblüfft, als er Chang Geng aus dem Nichts
seufzen hörte. Er legte den Kopf schief und ‘sah‘ ihn mit einer hochgezogenen
Augenbraue an. Chang Geng nutzte Gu Yuns verbundene Augen aus und starrte ihn
unverhohlen an, bis Gu Yun seinen Arm abtastete und ihm den Scheitel
tätschelte. Chang Geng schloss die Augen und schaffte es gerade noch, dem Drang
zu widerstehen, sich in seine Berührung zu schmiegen. Stattdessen zupfte er Gu
Yuns Hand weg und schrieb: „Das ist das erste Mal, dass ich an der Seite von
Yifu in eine solche Situation gerate. Ich war mir nicht sicher, wie ich damit
umgehen sollte, und hatte Angst.“
Der erschreckendste Moment war, als der Mann aus Dongying
sein Shuriken direkt auf Gu Yuns Brust geworfen hatte.
Gu Yun schien sich an etwas zu erinnern und stieß ein
Lachen aus.
„Warum lachst du?"
„Ich war zu nachsichtig mit dir", kritzelte Gu Yun in
krakeliger Schreibschrift auf seine Handfläche. „Hätte ich den Mut gehabt,
meinem Vater ins Gesicht zu sagen, dass ich 'Angst' habe, hätte ich Prügel
bezogen."
Chang Geng dachte bei sich: Warum schlägst du mich dann
nie?
Gu Yun hatte ihn nicht nur nie geschlagen, er erhob auch
selten seine Stimme oder sprach wütend mit ihm. Und selbst wenn er es tat,
blieb er nie länger wütend als eine Handvoll strenger Worte. Er verhätschelte
Chang Geng praktisch wie eine Tochter. Bei den ersten Malen, als Chang Geng
gegen die Schwerttrainingsmarionette antrat, war er verängstigt gewesen und
hatte den Dreh nicht herausbekommen, aber Gu Yun zeigte nie Enttäuschung oder
Ungeduld. Wenn Chang Geng jetzt zurückschaute, hatte er das Gefühl, dass sein
Blick nicht der eines strengen Älteren war, der einen Jüngeren unterrichtet,
sondern eher der von jemandem, der mit Nachsicht die ungeschickten Spiele eines
Kindes beobachtet.
„Das Volk der Dongyinger ist im Kampf sehr schwer zu
besiegen. Sie haben eine Menge kleiner Tricks", schrieb Gu Yun. „Aber sie
haben nicht viele echte Experten. Dieses Shuriken sah furchterregend aus, aber
seine Flugbahn war gekrümmt. Es war nur ein Test, um zu sehen, ob ich wirklich
blind bin. Von den Dongyingern auf diesem Schiff habe ich nichts zu befürchten –
was mich beunruhigt, ist ihr Ziel."
Das Handelsschiff sollte die Wasserstraße zwischen dem
Kanal und den Seehäfen überqueren und nach Osten über den Ozean fahren, um
seine Fracht im Gebiet von Dongying abzuliefern, wobei es unterwegs mehrere
Kontrollpunkte passieren musste. Alle Schiffe, die Duftstoffe transportierten,
mussten einen Duftexperten an Bord haben, der an jedem Kontrollpunkt
verifizierte Proben abgab. Unabhängig vom wahren Zweck dieser Flotte müssen sie
sich auf diesen Duftexperten verlassen, um ihre Tarnung aufrechtzuerhalten.
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Etwa zehn Tage nach Beginn ihrer Reise schlich sich Ge
Pangxiao in GuYuns Zimmer. „Mein lo-Zhang-Xiansheng. Chang Geng-Dage."
Als er keine Antwort erhielt, betrachtete er die Augenbinde
auf dem Gesicht des Grafen Gu und murmelte: „Ich vergaß, dass er taub ist."
Ge Pangxiao begann, Dinge aus seinem Revers zu ziehen.
Zuerst waren es zwei Kompasse, dann ein kleines Kästchen, das einen endlosen
Strom weißen Dampfes ausstieß. Dieser pummelige Junge war ein wahres Wunder. Es
war, als ob sein Bauch sich ausdehnen und wieder einziehen könnte – er konnte
jede Menge Dinge in sein Revers stecken, als ob er sie einsaugen würde, doch
selbst nachdem er die Gegenstände herausgenommen hatte, schien er nicht
schlanker zu werden.
„Was ist das? Brennt da drinnen etwas?", fragte Chang
Geng und deutete auf die Schachtel.
„Ha, ha, das ist Violettes Gold."
Chang Geng war schockiert. „Ist das nicht heiß?"
Ge Pangxiao öffnete seine Kleidung und zeigte eine dunkle
Platte, die die Vorderseite seiner Brust bedeckte. Es handelte sich um eine
Platte, die als Schutzisolierung für die Befestigung von Miniaturkanonen in
schweren Rüstungen diente. Er hatte sie in ein Muster geschnitten, das wie ein
rautenförmiges Dudou-Unterhemd aussah, und
klopfte sich nun schamlos auf den Bauch. „Ein Eisen-Dudou!"
Gu Yun nahm seine Augenbinde ab, setzte sein Glasmonokel
auf und ging näher heran, um Ge Pangxiaos Meisterwerk zu betrachten. Er war
ziemlich beeindruckt. Obwohl dieser freche Junge normalerweise so tat, als ob
er nur spielen würde, bewies die Entschlossenheit, in dem er die Stadt Yanhui
verließ und Chang Geng in so jungen Jahren in die Hauptstadt folgte, dass er,
auch wenn er manchmal das große Ganze nicht sah, durchaus eigene Gedanken
hatte.
Indem er Liao Rans Zeichensprache nachahmte, unterschrieb
Ge Pangxiao: „Wer sagt, dass nur Frauen Dudou tragen können?"
Gu Yun gab ihm einen Daumen hoch — das stimmt!
Auf dem Tisch drehten sich die beiden Kompasse völlig
unverständlich im Kreis. Ge Pangxiao forderte die anderen beiden auf,
hinzuschauen, klopfte leicht mit den Fingerknöcheln auf den Tisch und hob dann
drei Finger – die Kompasse drehten sich schon seit mindestens drei Tagen.
Gu Yun war ein erfahrener Reisender, also verstand er es auf
einen Blick. Feng-Shui-Meister nahmen immer zwei Kompasse mit, wenn sie auf
Reisen gingen – wenn einer von ihnen nicht mehr funktionierte, konnten sie am
anderen ablesen, ob der Kompass kaputt war oder ob es an dem Ort etwas
Seltsames gab. Es gab viele Orte auf dem Meer oder in der Wüste, an denen sich
Kompasse ziellos drehten, und Handelsschiffe und Fischereifahrzeuge mieden
diese Orte normalerweise. Diese Gruppe von Dongyingern jedoch mied solche
Gegenden nicht nur nicht, sondern steuerte ihr Schiff direkt in eine solche
hinein. Ihre Route war eindeutig vom erklärten Ziel abgewichen.
„‘Von der Erde in das Land der Toten‘ — was genau bedeutete
das Land der Toten"?
„Zum Glück", sagte Ge Pangxiao, „habe ich auch das
hier mitgebracht."
Er öffnete die Schachtel, aus der noch immer weißer Dampf
stieg. Darin befand sich ein exquisites kleines Gerät mit einem winzigen
Zahnrad, das sich in der Mitte im Kreis drehte. Dieses Zahnrad war mit einer
Achse verbunden, und an den Rändern des Inneren befanden sich mehrere glänzende
goldene Ringe. In der Ecke war in Siegelschrift
das Zeichen ‘Ling‘ eingraviert – eine Erfindung des Lingshu-Instituts.
„Das Lingshu-Institut hat uns die Vorlage dafür geliefert.
Wenn es läuft, zeigt diese Achse hier", Ge Pangxiao zeigte auf das
betreffende Bauteil, „immer in die gleiche Richtung – sie ist genauer als ein
Kompass, aber sie läuft mit Violettem Gold, sodass das fertige Produkt nie auf
den Markt kam. Wie ich höre, wurde es von höherer Stelle abgelehnt. Der Große
Meister und ich haben heimlich einen selbst gebaut und vor unserer Abreise ein
paar Reste des Violetten Goldes aus Dages Schwertpuppe mitgenommen."
Gu Yun hob das kleine Ding vorsichtig hoch. Es war so zart,
dass er befürchtete, es würde zerbrechen, wenn er es grob anfasste. „Wenn Shen
Yi das sehen würde, würde er seinen Körper und seine Seele gerne seinem
Schöpfer übergeben."
Ge Pangxiao griff erneut in sein Revers, holte eine Karte
aus Schafsleder hervor und breitete das zerknitterte Material auf dem Tisch
aus. Sein pummeliger Finger fuhr eine Weile darüber, bevor er auf einer
bestimmten Stelle landete. „Anhand unseres derzeitigen Kurses haben der Große
Meister und ich festgestellt, dass wir fast am Ziel sind."
Erklärungen:
Shintō wird auch als Shintoismus bezeichnet,
und ist die ethnische Religion der Japaner.
Ein Shuriken
ist eine kurze japanische Wurfwaffe. Im allgemeinen Sprachgebrauch sind sie
auch als Wurf- oder Ninja-Sterne bekannt, obwohl sie in vielen verschiedenen
Formen vorkommen.
Ein Dudou ist eine
traditionelle chinesische Form des Mieders, die ursprünglich als Unterhemd mit
medizinischen Eigenschaften getragen wurde. Mit der Öffnung Chinas findet man
es manchmal in der westlichen und modernen chinesischen Mode als ärmelloses
Hemd und rückenfreie Haltertop-Bluse.
Die Siegelschrift ist ein uralter Stil zum Schreiben chinesischer Schriftzeichen, der in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends vor Christus verbreitet war und ursprünglich aus der Schrift der Zhou-Dynastie hervorgegangen ist. Später wird es häufig verwendet und erscheint nur noch in dekorativen Gravuren und Siegeln.
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