Auch wenn ihm der heftige Wind um die Ohren peitschte und die Hufe der Pferde über den Boden polterten, nahmen Shen Yis scharfe Sinne die ungewöhnlichen Geräusche in der Kutsche wahr. Er trieb sein Pferd an, um Gu Yun zu überholen, dann legte er eine Hand auf seine Brust, mimte eine Würgebewegung und fragte Gu Yun mit den Augen ‒ Was machen wir, wenn der Kerl kotzt?
Ein schwaches Grinsen kroch über Gu Yuns Gesicht und
drückte seine Haltung deutlich aus. Geschieht ihm recht, und er kann es
selbst aufwischen.
Gu Yun war auf dem Weg nach Süden, weil Fu Zhicheng, der oberste
Befehlshaber der südlichen Grenzarmee, in Trauer war. General Fus alte Mutter
war vor kurzem verstorbenen und er hatte dem Hof ein Memorandum vorgelegt, in
dem er erklärte, dass er sein Kommandosiegel abgeben und nach Hause
zurückkehren würde, um dort die Trauerzeit zu verbringen. Die Tatsache, dass er
trauerte, war eine harmlose Ausrede ‒ jemand, der trauerte, konnte Urlaub
nehmen oder auch nicht, und es gab in beiden Fällen eine angemessene Erklärung
für seine Entscheidung. Historisch gesehen stellten die Regionalkommandanten
jedoch keine solchen Anträge.
Wenn ein kommandierender General für mehrere Jahre nach
Hause ging, wer sollte dann im Falle eines Krieges die Truppen anführen?
Außerdem wusste ganz Groß-Liang, dass General Fu seine
Karriere als Banditenhäuptling begonnen hatte. Der alte Graf Gu hatte ihn in
die Knie gezwungen, und man bot ihm Amnestie an, wenn er in seine Dienste trat.
Auch heute noch vergaß der alte General manchmal sich selbst und ließ vor dem
Kaiser ein paar Schimpfwörter fallen. Er kümmerte sich nicht übermäßig um den
Anstand. Diese sogenannte Trauer war eindeutig ein Ausdruck der Unzufriedenheit
von General Fu über den Marschbefehlserlass. Außerdem hatte es in diesem Jahr
im Süden Überschwemmungen gegeben, und an der Südlichen Grenze herrschte Chaos.
Der General hatte den Zeitpunkt für seinen Rücktritt gewählt, um den Hof zum
Einlenken zu bewegen.
In der Kutsche befand sich Sun Jiao, der Vizeminister des
Kriegsministeriums und ein entschiedener Befürworter des Marschbefehlserlasses.
Der Kaiser hatte beabsichtigt, ihn als kaiserlichen Gesandten an die Südliche Grenze
zu schicken, um dem verstorbenen, verdienstvollen General Fu „sein Beileid
auszusprechen“, doch die Eier des Ministers zogen sich bei der Aussicht in seinen
Körper zurück. Tränenüberströmt überreichte Sun Jiao dem Kaiser ein Memorandum,
in dem er erklärte, dass dies seine letzte Reise sein würde und er bereit sei,
sein Leben für die Nation zu geben. In seiner Hilflosigkeit blieb dem Kaiser
nichts anderes übrig, als einen Boten mit einem goldenen Pfeil als Zeichen des
Befehls bis in den Nordwesten zu schicken und sowohl den nutzlosen, wehleidigen
Minister als auch das Chaos an der Südlichen Grenze Gu Yun vor die Füße zu
werfen.
Gu Yun hatte den größten Teil des Jahres auf der Flucht
verbracht, um dem Kaiser den Hintern abzuwischen. Inzwischen kochte er vor Wut.
Er konnte sich dem Kaiser nicht widersetzen, also setzte er alles daran, den
schamlosen Vizeminister Sun zu quälen.
Während sie die Pferde vorwärtstrieben, erblickte Gu Yun
einen jungen Meister, der sein Pferd am Straßenrand entlangführte. Er beachtete
ihn zunächst nicht, und erst als er an ihm vorbeiritt, warf er einen Blick auf
ihn. Ihre Blicke trafen sich. Es war ein kurzer Blick, so kurz wie der
Flügelschlag eines fliegenden Vogels, und im Nu war Gu Yuns schnelles Pferd
schon ein paar Dutzend Meter die Straße hinunter geritten. Ehe er sich versah,
hatten seine Hände schon kräftig an den Zügeln gezogen.
Das Pferd gab ein langes Wiehern von sich, seine Vorderhufe
erhoben sich hoch in die Luft, landeten wieder auf dem Boden und anschließend
vollführte es auf der Stelle eine schnelle Halbkreisumdrehung.
Das Pferd wieherte, und seine Vorderhufe bäumten sich hoch
in der Luft auf, bevor es wieder auf dem Boden landete, nachdem es auf der
Stelle eine schnelle Halbkreisumdrehung vollführt hatte. Gu Yun blieb stehen
und starrte den jungen Meister an ‒ er kam ihm irgendwie bekannt vor, doch Gu
Yun zögerte, seinen Namen zu rufen.
Das ist sicher ein zu großer Zufall, dachte
Gu Yun, immer noch unsicher. Denke ich zu viel nach? Habe ich die falsche
Person?
Während Gu Yun noch schwankte, war Shen Yi hinter ihm
herangaloppiert. „Was... aiya!“
Der junge Soldat, der Chang Geng begleitete, reagierte
endlich und stieg von seinem Pferd ab. „Marschall!“, rief er aufgeregt.
Erschrocken hob das Pferd von Gu Yun die Vorderhufe,
scharrte mit ihnen ihm Boden und schnaubte.
Selbst wenn Chang Geng in einen Haufen beruhigenden Dufts
geworfen worden wäre, hätte sein Herz immer noch so stark geschlagen, dass es
in seiner Brust wild geklopft hätte. Er saß wie betäubt auf seinem Pferd, sein Verstand
ein leeres weiß, als wäre seine Silberzunge zu einer Lache aus flüssigem Metall
geschmolzen und hätte jedes geschickte Wort in seinem Mund versiegelt. Aus
reinem Instinkt heraus erschien ein steifes Lächeln auf seinem Gesicht.
„Chang Geng?“, rief Gu Yun zögernd aus.
Diese zwei Silben trafen Chang Gengs Trommelfelle mit einem
Läuten wie das einer großen Glocke. Obwohl er sich bemühte, ruhig zu bleiben,
rieb er sich schließlich unbeholfen die Nase. „Ich war zufällig auf der
Durchreise durch Sichuan, als ich von Fräulein Chen hörte, dass Yifu in den
nächsten Tagen ankommen würde, also beschloss ich, eine Weile zu bleiben. Ich
hätte nie gedacht, dass ich dir begegnen würde, wenn ich gerade mein Pferd ausführe.“
Dem jungen Soldaten fiel fast das Kinn auf die Zehen. Ihr
habt euch jeden Tag gebadet und umgezogen und taucht genau zu dieser Zeit und
an diesem Ort auf, nur um Euer Pferd auszuführen?
Er betrachtete Chang Gengs unscheinbares Mischlingspferd
mit neuer Ehrfurcht und vermutete, dass sich unter seinem gefleckten Fell ein
göttliches Ross verbarg.
In diesem Moment stürzte eine Gestalt aus der nahen
Kutsche. Ohne auf das bewegende Wiedersehen zwischen Vater und Sohn zu achten,
stolperte er an den Straßenrand und übergab sich.
Die Unterbrechung gab Chang Geng endlich die Möglichkeit,
wieder zu Atem zu kommen und ihn vorübergehend in seine Brust zurückzuholen. Er
drehte sich um und blickte den Vize-Kriegsminister an, der wie ein kleines
Küken zitterte, und warf ihm einen Blick der sanften und raffinierten
Überraschung zu. „Habe ich etwas Unangenehmes gesagt?“
Gu Yun begann zu lachen. Obwohl er die Aktivitäten von
Chang Geng im Laufe der Jahre nur vage kannte, hätte er nie erwartet, dass
Chang Geng sich zu so einem Menschen entwickeln würde. Es war, als wäre aus dem
jungen Mann, den er kannte, eine ganz neue Person geworden. Für einen Moment
vergaß Gu Yun ihre unglückliche Trennung, vergaß ihr langes Zerwürfnis, ihren
kalten Krieg, sein widerwärtiges Verhalten, indem er Leute schickte, um Chang
Geng auf all seinen Reisen zu beschatten, seine Weigerung, loszulassen. Er war
überrascht, dass er Chang Geng überhaupt noch erkennen konnte. Dieses Kind
hatte sich wirklich zu sehr verändert ‒ jede seiner Handlungen, jeder seiner
Gesichtsausdrücke hatte sich verändert.
Gu Yun zählte schnell zurück. Das ist richtig. Es sind
schon über vier Jahre vergangen, nicht wahr?
Shen Yi führte sein Pferd mit einem Lächeln zu ihnen
hinauf. „Meine Güte, der kleine Prinz ist wirklich in einem Wimpernschlag groß geworden
... Erinnerst Ihr Euch noch an mich?“
„Hallo, General Shen“, sagte Chang Geng mit einem Lächeln.
Shen Yi seufzte. „Wenn ich es wäre, hätte ich Euch dort
nicht erkannt. Das liegt daran, dass Euer Yifu jeden Tag an Euch gedacht hat.
Inzwischen hat sich das zu einem Komplex entwickelt; er kann sich nicht mehr
zurückhalten, einen zweiten Blick auf jeden zu werfen, denn er sieht und der Euch
ähnelt ...“
Gu Yun unterbrach ihn, weil er es nicht mehr aushielt. „Was
für einen Schwachsinn denkst du dir jetzt aus?“
Shen Yi sah erst den einen, dann den anderen an und spornte
schließlich sein Pferd an, um den Vizeminister Sun zurück in die Kutsche zu
ziehen. Er wedelte mit einer Hand vor dem Gesicht des Mannes. „Vizeminister
Sun, geht es Ihnen gut? Halten Sie noch ein bisschen durch, wir sind fast beim
Gasthaus.“
Sun Jiao lehnte sich an die Seite des Wagens, keuchte wie
ein Sterbender und wäre beinahe mitten auf der Straße umgefallen. Doch der
Minister stellte bald fest, dass Chang Geng sein Glücksstern war. Nachdem sie
auf Chang Geng gestoßen waren, verlangsamten die Tiere aus Schwarzem Eisen
ihren wilden Galopp zu einem gleichmäßigen Schritt, der so gemächlich war wie
ein Spaziergang nach dem Essen. Sogar der schallende Klang ihrer Hufschläge
wurde leiser. Unter Chang Gengs Führung erreichte die Gruppe bald das Gasthaus
der kleinen Stadt. Doch das bescheidene Gasthaus hatte nur eine begrenzte
Anzahl von Zimmern; selbst als sie das gesamte Haus buchen, mussten alle in
einem Doppelzimmer übernachten.
Gu Yun ließ sie am Eingang zurück. „Ich bleibe bei meinem
Sohn“, sagte er leichthin, „wir können ein Einzelzimmer für den Vizeminister
Sun freihalten.“
Sun Jiao lehnte höflich und instinktiv ab. „Nein, nein; wie
könnte ich mich dem Marschall aufdrängen ...“
Shen Yi klopfte Sun Jiao von hinten auf die Schulter, dann
senkte er die Stimme und sagte: „Herr Minister, akzeptieren Sie die Geste. Der
Marschall hat den vierten Prinzen getroffen und ist in bester Laune ‒ oder
wollt Ihr lieber zusehen, wie er sich die ganze Nacht überlegt, wie er Euch
ermorden kann?“
Der Schweiß auf Chang Gengs Handflächen trocknete nicht,
und die Zügel waren ihm mehrmals fast aus den Händen gerutscht. Es war fast so,
als wäre er betrunken ‒ er wusste, dass er wachsam bleiben sollte, aber er
konnte nicht anders, als noch tiefer in seinen berauschten Zustand zu
versinken. Bevor er Gu Yun erblickte, schwankte er noch zwischen Bleiben und
Fliehen, aber in dem Moment, in dem er ihn sah, flog ihm jeder einzelne Gedanke
aus dem Kopf.
Zu diesem Zeitpunkt erinnerte sich Gu Yun endlich daran,
mit Chang Geng für sein Fehlverhalten abzurechnen. Als sie den Raum betraten,
schloss er die Tür hinter sich, sein Gesicht war finster. „Du gerätst wirklich
immer mehr aus der Reihe. Der alte Haushälter sagte, dass du in den letzten
vier Jahren nicht ein einziges Mal in das Grafenanwesen zurückgekehrt bist. Als
ich das letzte Mal den Palast betrat, um über meine Aufgaben zu berichten,
fragte sogar der Kaiser nach dir. Was hätte ich ihm denn sagen sollen?“
In der Vergangenheit hatte jede Veränderung in Gu Yuns
Gesichtsausdruck Chang Geng Angst eingejagt ‒ Angst davor, seine Fehler
zuzugeben oder Angst, hartnäckig zu erwidern. Aber nach so vielen Jahren der
Trennung war all die Vorsicht und Panik in seinem Herzen verschwunden. Jetzt
wollte er jeden von Gu Yuns Gesichtsausdrücken in sein Herz einritzen ‒ ob
Lächeln oder Wut, er wollte alles.
Vor vier Jahren hatte er seinen Kummer heruntergeschluckt
und eine ruhige Fassade aufgesetzt, als er erklärte: „Du kannst mich nicht ewig
im Auge behalten, und die Wachen auf dem Anwesen können mich nicht aufhalten.“
Heute sah er Gu Yun an und zeigte vorsichtig genau die
richtige Menge an Emotionen. „Wenn Yifu nicht da ist, welchen Grund gibt es
dann für mich, zurückzugehen?“
Was sollte Gu Yun sagen? Er schaffte es nie, länger als
drei Sätze wütend zu bleiben, und als er dies hörte, konnte er nicht einmal den
kalten Ausdruck auf seinem Gesicht aufrechterhalten. Sein eisernes Herz
erweichte zu einem Wattebausch. Gu Yun sah sich in dem kleinen Raum um, und als
er einige medizinische Texte auf dem Tisch liegen sah, griff er wahllos nach
einem und blätterte die Seiten durch. „Wozu liest du das?“
„Ich habe von Fräulein Chen etwas über Medizin gelernt. Ich
hatte gehofft, etwas davon zu lernen, damit ich mich in Zukunft um Yifu kümmern
kann. Leider sind meine Talente begrenzt; ich kenne nur einige Grundtechniken.“
Gu Yun war sprachlos. Wann ist dieses Kind so ein
Schmeichler geworden?, dachte er hilflos. Wie tödlich.
Nachdem er jahrelang die Seidenstraße bewacht hatte, war Gu
Yuns scharfe Ausstrahlung allmählich verblasst, wie eine legendäre Klinge in
ihrer Scheide. Auch sein Temperament schien ruhiger geworden zu sein. Sie
vereinbarten einen unausgesprochenen Waffenstillstand und sprachen nicht über
ihren unglücklichen Abschied, sondern unterhielten sich gutmütig über alles,
was sie in den letzten Jahren erlebt hatten.
Chang Geng redete und redete, bis er merkte, dass die
Geräusche neben ihm verstummt waren. Er nahm seinen Mut zusammen, drehte sich
um und sah nach ‒ die Betten in diesem Gasthaus waren zu schmal, und Gu Yuns
Körper hing fast zur Hälfte von der Matratze herunter. Er hatte sich achtlos
einen Zipfel der Decke übergezogen, und seine Füße standen dicht gedrängt am
Fußende des Bettes, während sein Kopf auf eine Hand gestützt war. Der
erschöpfte Graf war in dieser Position tatsächlich eingeschlafen, während er seine
Augen ausruhte.
Chang Geng klappte der Mund zu. In der Dunkelheit starrte
er eine Weile auf Gu Yuns Seitenprofil. Er hob die Hand, dann ließ er sie
wieder sinken, mehrmals, auf und ab, seine Finger schwebten zögernd in der
Luft, wer weiß, für wie lange. Schließlich hielt er den Atem an, legte seine
Hand an Gu Yuns Taille und streichelte die Seite des Mannes so sanft, als würde
er Staub wegwischen.
„Yifu, rutsch ein Stück nach innen. Du fällst noch um“,
sagte er leise.
Gu Yun schreckte auf, erinnerte sich aber schnell daran, wo
er sich befand. Mit einem anerkennenden Brummen drehte er sich in die Richtung,
in die Chang Geng ihn angestupst hatte, und murmelte, ohne die Augen zu öffnen:
„Ich bin eingeschlafen, während wir uns unterhielten; ich werde wohl vorzeitig
alt.“
Chang Geng zog die Decke fester über ihn und griff hinüber,
um seinen Haarkrone zu entfernen. „Das liegt daran, dass ich beruhigenden Duft
neben das Kopfkissen gelegt habe. Du musst müde sein von einer so schnellen
Reise; ruh dich etwas aus.“
Diesmal sagte Gu Yun nichts, denn er war wirklich
eingeschlafen.
Auf dem Bett war nur sehr wenig Platz, und wenn zwei
Menschen, die darauf lagen, mit leisen Stimmen sprachen, wirkte es so, als
flüsterten sich die Liebenden etwas ins Ohr. Chang Geng beugte sich fast
hinunter, um Gu Yuns Schläfe zu küssen ‒ als wäre es die natürlichste Sache der
Welt ‒ wich aber zurück, als er die schändliche Richtung seiner Instinkte
erkannte. Hastig drehte er sich um und legte sich auf seine eigene Seite des
Bettes.
Der beruhigende Duft schien ein Erfolg zu sein: Gu Yun war
in dem Moment, als er sich entspannte, in einen tiefen Schlaf gefallen. Aber
die Wirkung muss selektiv gewesen sein, denn auf Chang Geng hatte er keinerlei
Wirkung. Während Gu Yun neben ihm lag, hatte er jedes Mal, wenn er die Augen
schloss, das Gefühl, zu träumen, und konnte nicht anders, als sie wieder zu
öffnen, um sich zu vergewissern, dass dieser Traum Wirklichkeit war. Nach ein
paar Runden war jede Spur von Müdigkeit verschwunden. Schließlich gab Chang
Geng den Schlaf auf und starrte stattdessen still auf Gu Yun.
Er starrte die ganze Nacht hindurch.
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Am nächsten Morgen kam Chen Qingxu im Gasthaus an. Als Erstes
schnappte sie sich den immer noch verzweifelt kränkelnden Vizeminister Sun als
Fallbeispiel und übergab ihn Chang Geng zum Spielen, d. h. zur Pflege, bevor
sie zu Gu Yun ging. Chang Geng warf einen Blick auf ihren Rücken, als sie die
Treppe hinaufstieg, zeigte aber nicht die geringste Spur von Neugierde, als
hätte er überhaupt kein Interesse an ihrem Patienten.
Gu Yun war auf dem Weg in den Süden, um offizielle
Angelegenheiten zu erledigen, als er hörte, dass Chen Qingxu in Sichuan war, er
hatte jemanden mit einem Brief geschickt, der sie bat, seine Augen zu
untersuchen. Chen Qingxu hielt nicht inne, um sich nach seinen Symptomen zu
erkundigen, sondern begann direkt mit ihrer eigenen Untersuchung. Nach einem
Moment fragte sie: „Mein Herr, wird Ihre Sehkraft bereits schwächer?“
„Normalerweise hätte ich gestern Abend meine Medizin
eingenommen, aber ich habe es aufgeschoben, damit Fräulein Chen mich
untersuchen kann.“
Chen Qingxu zögerte, bevor er sprach. „Mein Herr, als mein
Großvater Ihnen dieses Rezept gab, muss er Ihnen gesagt haben, dass diese
Medizin kein Heilmittel ist und wahrscheinlich keine dauerhafte Lösung
darstellt.“
Gu Yun zeigte keine Anzeichen von Überraschung. „Wie lange
habe ich noch?“
Chen Qingxus Gesichtsausdruck war ernst. „Wenn Ihr es von
jetzt an sparsam verwendet, könnt Ihr es vielleicht noch ein paar Jahre
verlängern.“
„Sparsam damit umgehen ist vielleicht unmöglich“,
schüttelte Gu Yun den Kopf. „Was halten Sie davon, die Dosis zu erhöhen oder
auf ein anderes Medikament umzusteigen?“
Bevor Chen Qingxu antworten konnte, meldete sich Shen Yi,
der in der Nähe gesessen hatte, mit leiser Stimme zu Wort. „Jedes Medikament
ist ein Teil des Giftes, und du nimmst es ständig ein. Selbst wenn du die
Medikamente wechselst, bleibt dir nur die Möglichkeit, ein aggressiveres
Medikament zu nehmen. Würdest du dann nicht nur deinen momentanen Durst mit
einem langsam wirkenden Gift stillen?“
„Er hat recht“, sagte Chen Qingxu. „Ich schäme mich, sagen
zu müssen, dass wir, obwohl sich unsere Familie als Clan der Wunderdoktoren
gerühmt hat, in all den Jahren nicht in der Lage waren, Eure Augen und Ohren zu
heilen.“
Gu Yun lächelte. „Was sagen Sie da, Fräulein Chen? Ich bin
es, der Ihnen so viel Mühe bereitet hat.“
Chen Qingxu schüttelte den Kopf. „Zu lange haben wir auf
die fremden Stämme um uns herum als unwissend und unzivilisiert herabgesehen
und uns auf die Zentralebene beschränkt. Mein Herr, gebt mir ein paar Jahre
Zeit. Schon bald werde ich mich auf eine Reise jenseits unserer Grenzen begeben.
Vielleicht werde ich auf eine Lösung stoßen.“
Gu Yun war von ihren Worten verblüfft. Der Hauptgrund,
warum er Chen Qingxu gebeten hatte, sich mit ihm in Sichuan zu treffen, war,
dass er eine plausible Ausrede brauchte, um sich ein paar Tage zu verspäten ‒
er wollte sicherstellen, dass jemand wusste, dass er in der Nähe war. Er
rechnete nicht damit, dass eine junge Dame wie Chen Qingxu ein Problem lösen
könnte, das selbst ihren Großvater in Verlegenheit gebracht hatte. „Fräulein
Chen“, beeilte er sich, zu sagen, „das dürfen Sie nicht. Es spielt keine Rolle,
ob ich hören kann oder nicht; die Nordbarbaren sind seit Generationen unsere
Feinde. Wie könnte ich der Familie Chen gegenübertreten, wenn Sie ein solches
Risiko für meine unbedeutende Angelegenheit eingehen?“
Chen Qingxu schwieg einen Moment lang. Sie holte ihre
kleine Tasche hervor und nahm ein handgeschriebenes Büchlein heraus. „Dies ist
eine Akupunkturbehandlung, die ich entwickelt habe. Es ist kein Wundermittel,
aber es kann die Kopfschmerzen lindern, die durch Ihre Medizin verursacht
werden. Seine Hoheit hat einige Zeit bei mir die Akupunktur und ihre Behandlung
studiert; er wird es verstehen.“
Als er Gu Yuns Stirnrunzeln sah, fügte Chen Qingxu hinzu: „Ich
habe es ihm nicht gesagt, er hat es selbst herausgefunden.“
Gu Yuns Gesicht zeigte verschiedene Ausdrücke, aber
schließlich seufzte er. Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf bereits zu
schmerzen begann.
Nach ein paar weiteren Worten der Belehrung holte Chen Qingxu
Papier und einen Pinsel und schrieb eine Handvoll nahrhafter Rezepte auf. „Das
ist besser als nichts. Wenn das alles ist, werde ich mich jetzt verabschieden.
Passt auf Euch auf, mein Herr.“
„Wartet“, rief Gu Yun ihr nach. „Fräulein Chen, bitte
denken Sie gut nach, bevor Sie sich entscheiden, die Grenze zu überqueren.“
Chen Qingxu drehte sich zu ihm um, und ein schwaches
Lächeln erschien auf ihrem eiskalten Gesicht, wie Blüten an einem Eisenbaum.
„Es geht nicht nur um Euren Zustand ‒ manche Dinge müssen
einfach getan werden. Wenn ich so frei sprechen darf: Obwohl meine Position
niedrig und meine Macht schwach ist, sind meine Ambitionen so hoch wie die
Euren. Ich wurde in den Chen-Clan hineingeboren und wählte den Weg von Linyuan.
Wie könnte ich mein Leben im Schutz der Errungenschaften meiner Vorfahren
verbringen und hinter dem Rücken anderer Sicherheit suchen? Mein Herr, mögen
wir uns wiedersehen.“
Damit wandte sie sich ab und schwebte die Treppe hinunter,
ohne Gu Yun eine weitere Chance zu geben, sie zurückzurufen.
Chang Geng war nach den vielen Jahren, die er in der
Jianghu umhergezogen war, recht rücksichtsvoll geworden und ging schnell zu ihr
hinüber. „Fräulein Chen, ich bringe Sie zur Tür.“
Chen Qingxu winkte sein Angebot ab und sah ihm forschend in
die Augen. Er war jung und stark; eine schlaflose Nacht würde ihm nicht viel
schaden, aber sein Gesicht zeigte noch immer Anzeichen von Müdigkeit. Chen Qingxu
fragte verwirrt: „Stimmt etwas mit dem beruhigenden Duft nicht?“
„Ich fürchte, das Problem liegt bei mir“, sagte Chang Geng
mit einem bitteren Lächeln.
Chen Qingxu überlegte einen Moment lang. „Ich sage dir
immer, dass du dich beruhigen sollst, aber in Wahrheit kenne ich den Grund für
die Unruhe in dir nicht. Vielleicht sind meine Lösungen unpraktisch ‒ ein
Mensch kann nicht wirklich ohne Emotionen und Begierden sein. Wenn du diese
unruhigen Gefühle wirklich nicht im Zaum halten kannst, solltest du vielleicht
der Natur ihren Lauf lassen.“
Chang Geng zuckte zusammen und schürzte unbewusst seine
Lippen. Wie genau soll ich denn der Natur ihren Lauf lassen?
Chen Qingxu übernahm keine Verantwortung für die
Beseitigung ihrer Worte. Sie ging direkt nach dem tödlichen Schlag weg, lass
der Natur ihren Lauf und ließ Chang Geng für den Rest des Tages wie betäubt
umherirren.
Gu Yun blieb zwei Tage und Nächte lang in dem kleinen
Gasthaus. Sun Jiao wollte unbedingt weiterreisen, aber als er sich an die
rasante Fahrt erinnerte, die ihm fast die Eingeweide aus dem Hals gerissen
hatte, hatte er Angst, die anderen zum Aufbruch zu drängen. Doch als sie sich
schließlich wieder auf den Weg machten, stellte er fest, dass Gu Yun nicht mehr
so rasant unterwegs war, als würde er sich auf seine Wiedergeburt stürzen. Mit
dem vierten Prinzen an seiner Seite schlenderten die beiden jeden Tag wie
Urlauber auf einem Frühlingsausflug. Manchmal mischte sich ihre Gruppe sogar
unter Handelskarawanen, die auf dem Rückweg vom Handel im Norden waren.
Die Menschen an der Südlichen Grenze waren wild, und in der
Region liefen Banditen Amok. Minister Sun war angeblich geschickt worden, um
dem Regionalkommandanten sein Beileid auszusprechen, aber das war nur ein
Vorwand. Sein eigentliches Ziel war es, sich die Macht des Grafen von Anding zunutze
zu machen, um Beweise dafür zu finden, dass Fu Zhicheng, ein ernannter Beamter
des Hofes, mit gesetzlosen Banditen konspirierte, und die Armee an der Südlichen
Grenze zu einem Sprungbrett für die Durchsetzung des Marschbefehlserlasses zu
machen. Doch kaum hatte Gu Yun Shu betreten, wurde seine Reise durch ein
Problem nach dem anderen verzögert. Alles südlich von Sichuan gehörte zum
Gebiet von Fu Zhicheng, und inzwischen war Zeit genug, dass der örtliche Tyrann
von ihrem Aufenthaltsort erfuhr. Wie sollten sie ihn bei diesem Tempo
überrumpeln?
Als Minister Sun zu dieser Frage kam, hörte er auf zu
kotzen und bekam stattdessen vor Angst einen blutigen Ring aus Blasen an den
Lippenwinkeln.
„Man kann einen aufrechten Gentleman beleidigen, aber man
sollte keine unbedeutenden Leute beleidigen“, flüsterte Shen Yi Gu Yun zu. „Genug
ist genug. Nimm dich lieber in Acht, wenn dieser Bastard versucht, sich an dir
zu rächen, wenn du in die Hauptstadt zurückkehrst.“
Gu Yun lächelte nur.
Der Anblick dieses unbekümmerten Grinsens brachte Shen Yi
dazu, sich eine langatmige Rede auszudenken. Doch Gu Yun erwiderte fast
unhörbar: „Weder ein aufrechter Gentleman noch eine unbedeutende Person werden
für mich ein Problem darstellen.“
„Es wird ein Problem sein, wenn du einen Fehler machst“,
schnauzte Shen Yi zurück. Gu Yun ließ sich nicht auf das Niveau von Shen Yi
herab, sondern senkte seine Stimme noch weiter. „Dieser Kerl ist das
eigentliche Problem ... Mit dem Kriegsministerium zu streiten ist wie Feuer und
Wasser. Das ist der beste Weg für mich, meinst du nicht?“
Shen Yi starrte lange Zeit ins Leere, seufzte dann und
sagte nichts mehr. Seit wann schenkte Marschall Gu, der sich für die Nummer
eins in der Welt hielt, dieser Art von hinterhältigen Manövern Aufmerksamkeit?
„Ich werde mir das Geschwätz einer alten Jungfer wie dir
nicht länger anhören“, sagte Gu Yun mit einem dramatischen Kopfschütteln. „Ich
mache mich auf den Weg, um meinen Sohn zu finden.“
Er trieb sein Pferd an und ignorierte alles, was Shen Yi
noch zu sagen hatte.
Shen Yi hatte das Gefühl, dass die beiden ihm viel zu sehr
auf die Nerven gingen.
Im Süden erhoben sich zwei grüne Berge, deren üppige Hänge
auch dann noch keine Anzeichen von Verfall zeigten, als der Herbst in den
Winter überging. Zwischen ihnen verlief eine gewundene Straße, deren Ende nicht
zu erkennen war, und die sich bis zum Gipfel hinaufschlängelte.
Mit der Peitsche in der Hand wies Gu Yun Chang Geng auf die
Landschaft hin, als ob er wichtige Staatsangelegenheiten besprechen würde. „Soldaten
werden immer nervös, wenn sie ein solches Terrain sehen. Wenn ein Feind hier
einen Hinterhalt legt, ist ein direkter Durchmarsch fast schon ein gefundenes
Fressen für uns ‒ selbst innerhalb der Grenzen Groß-Liangs kommen oft Banditen
und erklären sich an einem Ort wie diesem zum König ...“
Noch bevor er die letzten Worte ausgesprochen hatte,
ertönte von oben in den Bergen der schrille Ruf eines Horns.
Shen Yi war am Rande des Zusammenbruchs. „Marschall, bist
du eine Krähe in Menschengestalt?!“
Erklärungen:
Aiya, 哎呀, ist ein Ausruf in China der für Überraschung, Verärgerung, Schmerz, Frustration, Sarkasmus und vieles mehr verwendet wird.
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