Kapitel 39 ~ Banditengeißel

Auch wenn ihm der heftige Wind um die Ohren peitschte und die Hufe der Pferde über den Boden polterten, nahmen Shen Yis scharfe Sinne die ungewöhnlichen Geräusche in der Kutsche wahr. Er trieb sein Pferd an, um Gu Yun zu überholen, dann legte er eine Hand auf seine Brust, mimte eine Würgebewegung und fragte Gu Yun mit den Augen ‒ Was machen wir, wenn der Kerl kotzt?

Ein schwaches Grinsen kroch über Gu Yuns Gesicht und drückte seine Haltung deutlich aus. Geschieht ihm recht, und er kann es selbst aufwischen.

Gu Yun war auf dem Weg nach Süden, weil Fu Zhicheng, der oberste Befehlshaber der südlichen Grenzarmee, in Trauer war. General Fus alte Mutter war vor kurzem verstorbenen und er hatte dem Hof ein Memorandum vorgelegt, in dem er erklärte, dass er sein Kommandosiegel abgeben und nach Hause zurückkehren würde, um dort die Trauerzeit zu verbringen. Die Tatsache, dass er trauerte, war eine harmlose Ausrede ‒ jemand, der trauerte, konnte Urlaub nehmen oder auch nicht, und es gab in beiden Fällen eine angemessene Erklärung für seine Entscheidung. Historisch gesehen stellten die Regionalkommandanten jedoch keine solchen Anträge.

Wenn ein kommandierender General für mehrere Jahre nach Hause ging, wer sollte dann im Falle eines Krieges die Truppen anführen?

Außerdem wusste ganz Groß-Liang, dass General Fu seine Karriere als Banditenhäuptling begonnen hatte. Der alte Graf Gu hatte ihn in die Knie gezwungen, und man bot ihm Amnestie an, wenn er in seine Dienste trat. Auch heute noch vergaß der alte General manchmal sich selbst und ließ vor dem Kaiser ein paar Schimpfwörter fallen. Er kümmerte sich nicht übermäßig um den Anstand. Diese sogenannte Trauer war eindeutig ein Ausdruck der Unzufriedenheit von General Fu über den Marschbefehlserlass. Außerdem hatte es in diesem Jahr im Süden Überschwemmungen gegeben, und an der Südlichen Grenze herrschte Chaos. Der General hatte den Zeitpunkt für seinen Rücktritt gewählt, um den Hof zum Einlenken zu bewegen.

In der Kutsche befand sich Sun Jiao, der Vizeminister des Kriegsministeriums und ein entschiedener Befürworter des Marschbefehlserlasses. Der Kaiser hatte beabsichtigt, ihn als kaiserlichen Gesandten an die Südliche Grenze zu schicken, um dem verstorbenen, verdienstvollen General Fu „sein Beileid auszusprechen“, doch die Eier des Ministers zogen sich bei der Aussicht in seinen Körper zurück. Tränenüberströmt überreichte Sun Jiao dem Kaiser ein Memorandum, in dem er erklärte, dass dies seine letzte Reise sein würde und er bereit sei, sein Leben für die Nation zu geben. In seiner Hilflosigkeit blieb dem Kaiser nichts anderes übrig, als einen Boten mit einem goldenen Pfeil als Zeichen des Befehls bis in den Nordwesten zu schicken und sowohl den nutzlosen, wehleidigen Minister als auch das Chaos an der Südlichen Grenze Gu Yun vor die Füße zu werfen.

Gu Yun hatte den größten Teil des Jahres auf der Flucht verbracht, um dem Kaiser den Hintern abzuwischen. Inzwischen kochte er vor Wut. Er konnte sich dem Kaiser nicht widersetzen, also setzte er alles daran, den schamlosen Vizeminister Sun zu quälen.

Während sie die Pferde vorwärtstrieben, erblickte Gu Yun einen jungen Meister, der sein Pferd am Straßenrand entlangführte. Er beachtete ihn zunächst nicht, und erst als er an ihm vorbeiritt, warf er einen Blick auf ihn. Ihre Blicke trafen sich. Es war ein kurzer Blick, so kurz wie der Flügelschlag eines fliegenden Vogels, und im Nu war Gu Yuns schnelles Pferd schon ein paar Dutzend Meter die Straße hinunter geritten. Ehe er sich versah, hatten seine Hände schon kräftig an den Zügeln gezogen.

Das Pferd gab ein langes Wiehern von sich, seine Vorderhufe erhoben sich hoch in die Luft, landeten wieder auf dem Boden und anschließend vollführte es auf der Stelle eine schnelle Halbkreisumdrehung.

Das Pferd wieherte, und seine Vorderhufe bäumten sich hoch in der Luft auf, bevor es wieder auf dem Boden landete, nachdem es auf der Stelle eine schnelle Halbkreisumdrehung vollführt hatte. Gu Yun blieb stehen und starrte den jungen Meister an ‒ er kam ihm irgendwie bekannt vor, doch Gu Yun zögerte, seinen Namen zu rufen.

Das ist sicher ein zu großer Zufall, dachte Gu Yun, immer noch unsicher. Denke ich zu viel nach? Habe ich die falsche Person?

Während Gu Yun noch schwankte, war Shen Yi hinter ihm herangaloppiert. „Was... aiya!“

Der junge Soldat, der Chang Geng begleitete, reagierte endlich und stieg von seinem Pferd ab. „Marschall!“, rief er aufgeregt.

Erschrocken hob das Pferd von Gu Yun die Vorderhufe, scharrte mit ihnen ihm Boden und schnaubte.

Selbst wenn Chang Geng in einen Haufen beruhigenden Dufts geworfen worden wäre, hätte sein Herz immer noch so stark geschlagen, dass es in seiner Brust wild geklopft hätte. Er saß wie betäubt auf seinem Pferd, sein Verstand ein leeres weiß, als wäre seine Silberzunge zu einer Lache aus flüssigem Metall geschmolzen und hätte jedes geschickte Wort in seinem Mund versiegelt. Aus reinem Instinkt heraus erschien ein steifes Lächeln auf seinem Gesicht.

„Chang Geng?“, rief Gu Yun zögernd aus.

Diese zwei Silben trafen Chang Gengs Trommelfelle mit einem Läuten wie das einer großen Glocke. Obwohl er sich bemühte, ruhig zu bleiben, rieb er sich schließlich unbeholfen die Nase. „Ich war zufällig auf der Durchreise durch Sichuan, als ich von Fräulein Chen hörte, dass Yifu in den nächsten Tagen ankommen würde, also beschloss ich, eine Weile zu bleiben. Ich hätte nie gedacht, dass ich dir begegnen würde, wenn ich gerade mein Pferd ausführe.“

Dem jungen Soldaten fiel fast das Kinn auf die Zehen. Ihr habt euch jeden Tag gebadet und umgezogen und taucht genau zu dieser Zeit und an diesem Ort auf, nur um Euer Pferd auszuführen?

Er betrachtete Chang Gengs unscheinbares Mischlingspferd mit neuer Ehrfurcht und vermutete, dass sich unter seinem gefleckten Fell ein göttliches Ross verbarg.

In diesem Moment stürzte eine Gestalt aus der nahen Kutsche. Ohne auf das bewegende Wiedersehen zwischen Vater und Sohn zu achten, stolperte er an den Straßenrand und übergab sich.

Die Unterbrechung gab Chang Geng endlich die Möglichkeit, wieder zu Atem zu kommen und ihn vorübergehend in seine Brust zurückzuholen. Er drehte sich um und blickte den Vize-Kriegsminister an, der wie ein kleines Küken zitterte, und warf ihm einen Blick der sanften und raffinierten Überraschung zu. „Habe ich etwas Unangenehmes gesagt?“

Gu Yun begann zu lachen. Obwohl er die Aktivitäten von Chang Geng im Laufe der Jahre nur vage kannte, hätte er nie erwartet, dass Chang Geng sich zu so einem Menschen entwickeln würde. Es war, als wäre aus dem jungen Mann, den er kannte, eine ganz neue Person geworden. Für einen Moment vergaß Gu Yun ihre unglückliche Trennung, vergaß ihr langes Zerwürfnis, ihren kalten Krieg, sein widerwärtiges Verhalten, indem er Leute schickte, um Chang Geng auf all seinen Reisen zu beschatten, seine Weigerung, loszulassen. Er war überrascht, dass er Chang Geng überhaupt noch erkennen konnte. Dieses Kind hatte sich wirklich zu sehr verändert ‒ jede seiner Handlungen, jeder seiner Gesichtsausdrücke hatte sich verändert.

Gu Yun zählte schnell zurück. Das ist richtig. Es sind schon über vier Jahre vergangen, nicht wahr?

Shen Yi führte sein Pferd mit einem Lächeln zu ihnen hinauf. „Meine Güte, der kleine Prinz ist wirklich in einem Wimpernschlag groß geworden ... Erinnerst Ihr Euch noch an mich?“

„Hallo, General Shen“, sagte Chang Geng mit einem Lächeln.

Shen Yi seufzte. „Wenn ich es wäre, hätte ich Euch dort nicht erkannt. Das liegt daran, dass Euer Yifu jeden Tag an Euch gedacht hat. Inzwischen hat sich das zu einem Komplex entwickelt; er kann sich nicht mehr zurückhalten, einen zweiten Blick auf jeden zu werfen, denn er sieht und der Euch ähnelt ...“

Gu Yun unterbrach ihn, weil er es nicht mehr aushielt. „Was für einen Schwachsinn denkst du dir jetzt aus?“

Shen Yi sah erst den einen, dann den anderen an und spornte schließlich sein Pferd an, um den Vizeminister Sun zurück in die Kutsche zu ziehen. Er wedelte mit einer Hand vor dem Gesicht des Mannes. „Vizeminister Sun, geht es Ihnen gut? Halten Sie noch ein bisschen durch, wir sind fast beim Gasthaus.“

Sun Jiao lehnte sich an die Seite des Wagens, keuchte wie ein Sterbender und wäre beinahe mitten auf der Straße umgefallen. Doch der Minister stellte bald fest, dass Chang Geng sein Glücksstern war. Nachdem sie auf Chang Geng gestoßen waren, verlangsamten die Tiere aus Schwarzem Eisen ihren wilden Galopp zu einem gleichmäßigen Schritt, der so gemächlich war wie ein Spaziergang nach dem Essen. Sogar der schallende Klang ihrer Hufschläge wurde leiser. Unter Chang Gengs Führung erreichte die Gruppe bald das Gasthaus der kleinen Stadt. Doch das bescheidene Gasthaus hatte nur eine begrenzte Anzahl von Zimmern; selbst als sie das gesamte Haus buchen, mussten alle in einem Doppelzimmer übernachten.

Gu Yun ließ sie am Eingang zurück. „Ich bleibe bei meinem Sohn“, sagte er leichthin, „wir können ein Einzelzimmer für den Vizeminister Sun freihalten.“

Sun Jiao lehnte höflich und instinktiv ab. „Nein, nein; wie könnte ich mich dem Marschall aufdrängen ...“

Shen Yi klopfte Sun Jiao von hinten auf die Schulter, dann senkte er die Stimme und sagte: „Herr Minister, akzeptieren Sie die Geste. Der Marschall hat den vierten Prinzen getroffen und ist in bester Laune ‒ oder wollt Ihr lieber zusehen, wie er sich die ganze Nacht überlegt, wie er Euch ermorden kann?“

Der Schweiß auf Chang Gengs Handflächen trocknete nicht, und die Zügel waren ihm mehrmals fast aus den Händen gerutscht. Es war fast so, als wäre er betrunken ‒ er wusste, dass er wachsam bleiben sollte, aber er konnte nicht anders, als noch tiefer in seinen berauschten Zustand zu versinken. Bevor er Gu Yun erblickte, schwankte er noch zwischen Bleiben und Fliehen, aber in dem Moment, in dem er ihn sah, flog ihm jeder einzelne Gedanke aus dem Kopf.

Zu diesem Zeitpunkt erinnerte sich Gu Yun endlich daran, mit Chang Geng für sein Fehlverhalten abzurechnen. Als sie den Raum betraten, schloss er die Tür hinter sich, sein Gesicht war finster. „Du gerätst wirklich immer mehr aus der Reihe. Der alte Haushälter sagte, dass du in den letzten vier Jahren nicht ein einziges Mal in das Grafenanwesen zurückgekehrt bist. Als ich das letzte Mal den Palast betrat, um über meine Aufgaben zu berichten, fragte sogar der Kaiser nach dir. Was hätte ich ihm denn sagen sollen?“

In der Vergangenheit hatte jede Veränderung in Gu Yuns Gesichtsausdruck Chang Geng Angst eingejagt ‒ Angst davor, seine Fehler zuzugeben oder Angst, hartnäckig zu erwidern. Aber nach so vielen Jahren der Trennung war all die Vorsicht und Panik in seinem Herzen verschwunden. Jetzt wollte er jeden von Gu Yuns Gesichtsausdrücken in sein Herz einritzen ‒ ob Lächeln oder Wut, er wollte alles.

Vor vier Jahren hatte er seinen Kummer heruntergeschluckt und eine ruhige Fassade aufgesetzt, als er erklärte: „Du kannst mich nicht ewig im Auge behalten, und die Wachen auf dem Anwesen können mich nicht aufhalten.“

Heute sah er Gu Yun an und zeigte vorsichtig genau die richtige Menge an Emotionen. „Wenn Yifu nicht da ist, welchen Grund gibt es dann für mich, zurückzugehen?“

Was sollte Gu Yun sagen? Er schaffte es nie, länger als drei Sätze wütend zu bleiben, und als er dies hörte, konnte er nicht einmal den kalten Ausdruck auf seinem Gesicht aufrechterhalten. Sein eisernes Herz erweichte zu einem Wattebausch. Gu Yun sah sich in dem kleinen Raum um, und als er einige medizinische Texte auf dem Tisch liegen sah, griff er wahllos nach einem und blätterte die Seiten durch. „Wozu liest du das?“

„Ich habe von Fräulein Chen etwas über Medizin gelernt. Ich hatte gehofft, etwas davon zu lernen, damit ich mich in Zukunft um Yifu kümmern kann. Leider sind meine Talente begrenzt; ich kenne nur einige Grundtechniken.“

Gu Yun war sprachlos. Wann ist dieses Kind so ein Schmeichler geworden?, dachte er hilflos. Wie tödlich.

Nachdem er jahrelang die Seidenstraße bewacht hatte, war Gu Yuns scharfe Ausstrahlung allmählich verblasst, wie eine legendäre Klinge in ihrer Scheide. Auch sein Temperament schien ruhiger geworden zu sein. Sie vereinbarten einen unausgesprochenen Waffenstillstand und sprachen nicht über ihren unglücklichen Abschied, sondern unterhielten sich gutmütig über alles, was sie in den letzten Jahren erlebt hatten.

Chang Geng redete und redete, bis er merkte, dass die Geräusche neben ihm verstummt waren. Er nahm seinen Mut zusammen, drehte sich um und sah nach ‒ die Betten in diesem Gasthaus waren zu schmal, und Gu Yuns Körper hing fast zur Hälfte von der Matratze herunter. Er hatte sich achtlos einen Zipfel der Decke übergezogen, und seine Füße standen dicht gedrängt am Fußende des Bettes, während sein Kopf auf eine Hand gestützt war. Der erschöpfte Graf war in dieser Position tatsächlich eingeschlafen, während er seine Augen ausruhte.

Chang Geng klappte der Mund zu. In der Dunkelheit starrte er eine Weile auf Gu Yuns Seitenprofil. Er hob die Hand, dann ließ er sie wieder sinken, mehrmals, auf und ab, seine Finger schwebten zögernd in der Luft, wer weiß, für wie lange. Schließlich hielt er den Atem an, legte seine Hand an Gu Yuns Taille und streichelte die Seite des Mannes so sanft, als würde er Staub wegwischen.

„Yifu, rutsch ein Stück nach innen. Du fällst noch um“, sagte er leise.

Gu Yun schreckte auf, erinnerte sich aber schnell daran, wo er sich befand. Mit einem anerkennenden Brummen drehte er sich in die Richtung, in die Chang Geng ihn angestupst hatte, und murmelte, ohne die Augen zu öffnen: „Ich bin eingeschlafen, während wir uns unterhielten; ich werde wohl vorzeitig alt.“

Chang Geng zog die Decke fester über ihn und griff hinüber, um seinen Haarkrone zu entfernen. „Das liegt daran, dass ich beruhigenden Duft neben das Kopfkissen gelegt habe. Du musst müde sein von einer so schnellen Reise; ruh dich etwas aus.“

Diesmal sagte Gu Yun nichts, denn er war wirklich eingeschlafen.

Auf dem Bett war nur sehr wenig Platz, und wenn zwei Menschen, die darauf lagen, mit leisen Stimmen sprachen, wirkte es so, als flüsterten sich die Liebenden etwas ins Ohr. Chang Geng beugte sich fast hinunter, um Gu Yuns Schläfe zu küssen ‒ als wäre es die natürlichste Sache der Welt ‒ wich aber zurück, als er die schändliche Richtung seiner Instinkte erkannte. Hastig drehte er sich um und legte sich auf seine eigene Seite des Bettes.

Der beruhigende Duft schien ein Erfolg zu sein: Gu Yun war in dem Moment, als er sich entspannte, in einen tiefen Schlaf gefallen. Aber die Wirkung muss selektiv gewesen sein, denn auf Chang Geng hatte er keinerlei Wirkung. Während Gu Yun neben ihm lag, hatte er jedes Mal, wenn er die Augen schloss, das Gefühl, zu träumen, und konnte nicht anders, als sie wieder zu öffnen, um sich zu vergewissern, dass dieser Traum Wirklichkeit war. Nach ein paar Runden war jede Spur von Müdigkeit verschwunden. Schließlich gab Chang Geng den Schlaf auf und starrte stattdessen still auf Gu Yun.

Er starrte die ganze Nacht hindurch.

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Am nächsten Morgen kam Chen Qingxu im Gasthaus an. Als Erstes schnappte sie sich den immer noch verzweifelt kränkelnden Vizeminister Sun als Fallbeispiel und übergab ihn Chang Geng zum Spielen, d. h. zur Pflege, bevor sie zu Gu Yun ging. Chang Geng warf einen Blick auf ihren Rücken, als sie die Treppe hinaufstieg, zeigte aber nicht die geringste Spur von Neugierde, als hätte er überhaupt kein Interesse an ihrem Patienten.

Gu Yun war auf dem Weg in den Süden, um offizielle Angelegenheiten zu erledigen, als er hörte, dass Chen Qingxu in Sichuan war, er hatte jemanden mit einem Brief geschickt, der sie bat, seine Augen zu untersuchen. Chen Qingxu hielt nicht inne, um sich nach seinen Symptomen zu erkundigen, sondern begann direkt mit ihrer eigenen Untersuchung. Nach einem Moment fragte sie: „Mein Herr, wird Ihre Sehkraft bereits schwächer?“

„Normalerweise hätte ich gestern Abend meine Medizin eingenommen, aber ich habe es aufgeschoben, damit Fräulein Chen mich untersuchen kann.“

Chen Qingxu zögerte, bevor er sprach. „Mein Herr, als mein Großvater Ihnen dieses Rezept gab, muss er Ihnen gesagt haben, dass diese Medizin kein Heilmittel ist und wahrscheinlich keine dauerhafte Lösung darstellt.“

Gu Yun zeigte keine Anzeichen von Überraschung. „Wie lange habe ich noch?“

Chen Qingxus Gesichtsausdruck war ernst. „Wenn Ihr es von jetzt an sparsam verwendet, könnt Ihr es vielleicht noch ein paar Jahre verlängern.“

„Sparsam damit umgehen ist vielleicht unmöglich“, schüttelte Gu Yun den Kopf. „Was halten Sie davon, die Dosis zu erhöhen oder auf ein anderes Medikament umzusteigen?“

Bevor Chen Qingxu antworten konnte, meldete sich Shen Yi, der in der Nähe gesessen hatte, mit leiser Stimme zu Wort. „Jedes Medikament ist ein Teil des Giftes, und du nimmst es ständig ein. Selbst wenn du die Medikamente wechselst, bleibt dir nur die Möglichkeit, ein aggressiveres Medikament zu nehmen. Würdest du dann nicht nur deinen momentanen Durst mit einem langsam wirkenden Gift stillen?“

„Er hat recht“, sagte Chen Qingxu. „Ich schäme mich, sagen zu müssen, dass wir, obwohl sich unsere Familie als Clan der Wunderdoktoren gerühmt hat, in all den Jahren nicht in der Lage waren, Eure Augen und Ohren zu heilen.“

Gu Yun lächelte. „Was sagen Sie da, Fräulein Chen? Ich bin es, der Ihnen so viel Mühe bereitet hat.“

Chen Qingxu schüttelte den Kopf. „Zu lange haben wir auf die fremden Stämme um uns herum als unwissend und unzivilisiert herabgesehen und uns auf die Zentralebene beschränkt. Mein Herr, gebt mir ein paar Jahre Zeit. Schon bald werde ich mich auf eine Reise jenseits unserer Grenzen begeben. Vielleicht werde ich auf eine Lösung stoßen.“

Gu Yun war von ihren Worten verblüfft. Der Hauptgrund, warum er Chen Qingxu gebeten hatte, sich mit ihm in Sichuan zu treffen, war, dass er eine plausible Ausrede brauchte, um sich ein paar Tage zu verspäten ‒ er wollte sicherstellen, dass jemand wusste, dass er in der Nähe war. Er rechnete nicht damit, dass eine junge Dame wie Chen Qingxu ein Problem lösen könnte, das selbst ihren Großvater in Verlegenheit gebracht hatte. „Fräulein Chen“, beeilte er sich, zu sagen, „das dürfen Sie nicht. Es spielt keine Rolle, ob ich hören kann oder nicht; die Nordbarbaren sind seit Generationen unsere Feinde. Wie könnte ich der Familie Chen gegenübertreten, wenn Sie ein solches Risiko für meine unbedeutende Angelegenheit eingehen?“

Chen Qingxu schwieg einen Moment lang. Sie holte ihre kleine Tasche hervor und nahm ein handgeschriebenes Büchlein heraus. „Dies ist eine Akupunkturbehandlung, die ich entwickelt habe. Es ist kein Wundermittel, aber es kann die Kopfschmerzen lindern, die durch Ihre Medizin verursacht werden. Seine Hoheit hat einige Zeit bei mir die Akupunktur und ihre Behandlung studiert; er wird es verstehen.“

Als er Gu Yuns Stirnrunzeln sah, fügte Chen Qingxu hinzu: „Ich habe es ihm nicht gesagt, er hat es selbst herausgefunden.“

Gu Yuns Gesicht zeigte verschiedene Ausdrücke, aber schließlich seufzte er. Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf bereits zu schmerzen begann.

Nach ein paar weiteren Worten der Belehrung holte Chen Qingxu Papier und einen Pinsel und schrieb eine Handvoll nahrhafter Rezepte auf. „Das ist besser als nichts. Wenn das alles ist, werde ich mich jetzt verabschieden. Passt auf Euch auf, mein Herr.“

„Wartet“, rief Gu Yun ihr nach. „Fräulein Chen, bitte denken Sie gut nach, bevor Sie sich entscheiden, die Grenze zu überqueren.“

Chen Qingxu drehte sich zu ihm um, und ein schwaches Lächeln erschien auf ihrem eiskalten Gesicht, wie Blüten an einem Eisenbaum.

„Es geht nicht nur um Euren Zustand ‒ manche Dinge müssen einfach getan werden. Wenn ich so frei sprechen darf: Obwohl meine Position niedrig und meine Macht schwach ist, sind meine Ambitionen so hoch wie die Euren. Ich wurde in den Chen-Clan hineingeboren und wählte den Weg von Linyuan. Wie könnte ich mein Leben im Schutz der Errungenschaften meiner Vorfahren verbringen und hinter dem Rücken anderer Sicherheit suchen? Mein Herr, mögen wir uns wiedersehen.“

Damit wandte sie sich ab und schwebte die Treppe hinunter, ohne Gu Yun eine weitere Chance zu geben, sie zurückzurufen.

Chang Geng war nach den vielen Jahren, die er in der Jianghu umhergezogen war, recht rücksichtsvoll geworden und ging schnell zu ihr hinüber. „Fräulein Chen, ich bringe Sie zur Tür.“

Chen Qingxu winkte sein Angebot ab und sah ihm forschend in die Augen. Er war jung und stark; eine schlaflose Nacht würde ihm nicht viel schaden, aber sein Gesicht zeigte noch immer Anzeichen von Müdigkeit. Chen Qingxu fragte verwirrt: „Stimmt etwas mit dem beruhigenden Duft nicht?“

„Ich fürchte, das Problem liegt bei mir“, sagte Chang Geng mit einem bitteren Lächeln.

Chen Qingxu überlegte einen Moment lang. „Ich sage dir immer, dass du dich beruhigen sollst, aber in Wahrheit kenne ich den Grund für die Unruhe in dir nicht. Vielleicht sind meine Lösungen unpraktisch ‒ ein Mensch kann nicht wirklich ohne Emotionen und Begierden sein. Wenn du diese unruhigen Gefühle wirklich nicht im Zaum halten kannst, solltest du vielleicht der Natur ihren Lauf lassen.“

Chang Geng zuckte zusammen und schürzte unbewusst seine Lippen. Wie genau soll ich denn der Natur ihren Lauf lassen?

Chen Qingxu übernahm keine Verantwortung für die Beseitigung ihrer Worte. Sie ging direkt nach dem tödlichen Schlag weg, lass der Natur ihren Lauf und ließ Chang Geng für den Rest des Tages wie betäubt umherirren.

 

Gu Yun blieb zwei Tage und Nächte lang in dem kleinen Gasthaus. Sun Jiao wollte unbedingt weiterreisen, aber als er sich an die rasante Fahrt erinnerte, die ihm fast die Eingeweide aus dem Hals gerissen hatte, hatte er Angst, die anderen zum Aufbruch zu drängen. Doch als sie sich schließlich wieder auf den Weg machten, stellte er fest, dass Gu Yun nicht mehr so rasant unterwegs war, als würde er sich auf seine Wiedergeburt stürzen. Mit dem vierten Prinzen an seiner Seite schlenderten die beiden jeden Tag wie Urlauber auf einem Frühlingsausflug. Manchmal mischte sich ihre Gruppe sogar unter Handelskarawanen, die auf dem Rückweg vom Handel im Norden waren.

Die Menschen an der Südlichen Grenze waren wild, und in der Region liefen Banditen Amok. Minister Sun war angeblich geschickt worden, um dem Regionalkommandanten sein Beileid auszusprechen, aber das war nur ein Vorwand. Sein eigentliches Ziel war es, sich die Macht des Grafen von Anding zunutze zu machen, um Beweise dafür zu finden, dass Fu Zhicheng, ein ernannter Beamter des Hofes, mit gesetzlosen Banditen konspirierte, und die Armee an der Südlichen Grenze zu einem Sprungbrett für die Durchsetzung des Marschbefehlserlasses zu machen. Doch kaum hatte Gu Yun Shu betreten, wurde seine Reise durch ein Problem nach dem anderen verzögert. Alles südlich von Sichuan gehörte zum Gebiet von Fu Zhicheng, und inzwischen war Zeit genug, dass der örtliche Tyrann von ihrem Aufenthaltsort erfuhr. Wie sollten sie ihn bei diesem Tempo überrumpeln?

Als Minister Sun zu dieser Frage kam, hörte er auf zu kotzen und bekam stattdessen vor Angst einen blutigen Ring aus Blasen an den Lippenwinkeln.

„Man kann einen aufrechten Gentleman beleidigen, aber man sollte keine unbedeutenden Leute beleidigen“, flüsterte Shen Yi Gu Yun zu. „Genug ist genug. Nimm dich lieber in Acht, wenn dieser Bastard versucht, sich an dir zu rächen, wenn du in die Hauptstadt zurückkehrst.“

Gu Yun lächelte nur.

Der Anblick dieses unbekümmerten Grinsens brachte Shen Yi dazu, sich eine langatmige Rede auszudenken. Doch Gu Yun erwiderte fast unhörbar: „Weder ein aufrechter Gentleman noch eine unbedeutende Person werden für mich ein Problem darstellen.“

„Es wird ein Problem sein, wenn du einen Fehler machst“, schnauzte Shen Yi zurück. Gu Yun ließ sich nicht auf das Niveau von Shen Yi herab, sondern senkte seine Stimme noch weiter. „Dieser Kerl ist das eigentliche Problem ... Mit dem Kriegsministerium zu streiten ist wie Feuer und Wasser. Das ist der beste Weg für mich, meinst du nicht?“

Shen Yi starrte lange Zeit ins Leere, seufzte dann und sagte nichts mehr. Seit wann schenkte Marschall Gu, der sich für die Nummer eins in der Welt hielt, dieser Art von hinterhältigen Manövern Aufmerksamkeit?

„Ich werde mir das Geschwätz einer alten Jungfer wie dir nicht länger anhören“, sagte Gu Yun mit einem dramatischen Kopfschütteln. „Ich mache mich auf den Weg, um meinen Sohn zu finden.“

Er trieb sein Pferd an und ignorierte alles, was Shen Yi noch zu sagen hatte.

Shen Yi hatte das Gefühl, dass die beiden ihm viel zu sehr auf die Nerven gingen.

 

Im Süden erhoben sich zwei grüne Berge, deren üppige Hänge auch dann noch keine Anzeichen von Verfall zeigten, als der Herbst in den Winter überging. Zwischen ihnen verlief eine gewundene Straße, deren Ende nicht zu erkennen war, und die sich bis zum Gipfel hinaufschlängelte.

Mit der Peitsche in der Hand wies Gu Yun Chang Geng auf die Landschaft hin, als ob er wichtige Staatsangelegenheiten besprechen würde. „Soldaten werden immer nervös, wenn sie ein solches Terrain sehen. Wenn ein Feind hier einen Hinterhalt legt, ist ein direkter Durchmarsch fast schon ein gefundenes Fressen für uns ‒ selbst innerhalb der Grenzen Groß-Liangs kommen oft Banditen und erklären sich an einem Ort wie diesem zum König ...“

Noch bevor er die letzten Worte ausgesprochen hatte, ertönte von oben in den Bergen der schrille Ruf eines Horns.

Shen Yi war am Rande des Zusammenbruchs. „Marschall, bist du eine Krähe in Menschengestalt?!“

 

 

 

Erklärungen:

Aiya, 哎呀, ist ein Ausruf in China der für Überraschung, Verärgerung, Schmerz, Frustration, Sarkasmus und vieles mehr verwendet wird.




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GLOSSAR und die Welt von Stars of Chaos

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