In diesem Jahr verabschiedete die Nation das Alte und begrüßte das Neue. Der Graf von Anding übergab sein Schwarzes Eisen-Tigeramulett, die Umsetzung des Marschbefehlerlasses war eine ausgemachte Sache. Das Kriegsministerium entsandte in Windeseile eigens ernannte Offiziere in das ganze Land, um die Truppen zu überwachen.
Damit zog der Longan-Kaiser die Zügel des Militärs in einem
noch nie da gewesenen Ausmaß an, das sogar Kaiser Wu übertraf.
Vielleicht war das Einzige, was Li Feng am Ende des Jahres nicht
übermäßig frustrierte, die Leichtigkeit, mit der sich Gu Yun an seine
gegenwärtigen Umstände anpasste. Und genau wie Chang Geng vorausgesagt hatte,
zeigte der Kaiser, nachdem er die gewünschten Ergebnisse erzielt hatte, große
Achtung vor Gu Yuns Stellung, indem er Shen Yi um zwei Ränge beförderte und ihn
per kaiserlichem Erlass zum Gouverneur der südwestlichen Armee ernannte.
Gleichzeitig verlieh er dem vierten kaiserlichen Prinzen Li Min den Titel des
Prinzen Yanbei.
Am sechzehnten Tag des ersten Monats schleppte der alte
Herr Shen zur Feier des Geburtstages des Grafen von Anding zwei riesige Pferdewagen
voller Geschenke herbei und blockierte das Eingangstor zum Grafenanwesen
vollständig.
Der alte Herr Shen hatte sich schon vor vielen Jahren von
seinem Posten zurückgezogen, sein einziges Kind, Shen Yi, war ein unambitionierter
Müßiggänger. Shen Yi war schon als Kind eigenartig gewesen. Er war sowohl in
der Literatur als auch in den Kampfkünsten bewandert, weigerte sich aber, sich
auf beides zu konzentrieren. Stattdessen zog er es vor, in seinem Hof zu sitzen
und mit Dampfmaschinen herumzuspielen. Jedes einzelne mechanische Gerät im Haus
der Familie Shen ‒ von großen Maschinen wie der Eisenpuppe, die das Grundstück
bewachte, bis hin zu den Gaslampen in allen Formen und Größen, die im Haus
hingen ‒ war von Shen Yi zerlegt worden. Der alte Herr Shen glaubte an Lao Zhuang und glaubte daran, dass man in allen Dingen
seinen natürlichen Neigungen folgen sollte. Doch vielleicht fehlte ihm ein
wenig die Kraft seines Glaubens, denn er klammerte sich immer noch an gewisse
Hoffnungen und Wünsche für seinen Sohn.
Gu Yun war gleich am Morgen zu einer geschäftlichen
Besprechung in den Palast gerufen worden und hatte das Anwesen bereits
verlassen. Obwohl er die meiste Zeit des Jahres außerhalb der Hauptstadt
verbrachte, war er dennoch eine mächtige Person mit hohem Status, sodass es
nicht an Leuten mangelte, die Geschenke schickten. Da es auf dem Grafenanwesen
keine Hausherrin gab, die das Haus verwaltete, war der alte Haushälter für die
Registrierung der Neujahrsgeschenke zuständig. Als er hörte, dass der alte Herr
Shen gekommen war, um den Stapel aufzustocken, folgte Chang Geng dem alten
Haushälter zum Tor, um ihn zu begrüßen und schaute ihn neugierig an.
Der alte Herr Shen war selbst ein ziemlicher Exzentriker.
Er hatte seine Jugend damit verbracht, dem Vergnügen zu frönen, und dies bis
ins hohe Alter fortgesetzt, bis er schließlich im Alter all dessen überdrüssig
wurde. Zu diesem Zeitpunkt begann er, sich auf die daoistischen Theorien von
Transzendenz und Unsterblichkeit zu fixieren. In diesen Tagen kümmerte er sich
nur noch wenig um die menschliche Welt und widmete sich stattdessen seinen
beiden Leidenschaften: der Alchemie und dem Weinanbau. Unter seinen Geschenken
an Gu Yun befanden sich keine Edelmetalle oder Edelsteine, keine Bänder aus
feiner Seide oder Satin und auch keine seltenen Antiquitäten oder kuriosen
Schätze. Stattdessen hatte er zwei Wagenladungen Wein dabei, die er alle selbst
gekeltert hatte.
Zwischen Lachen und Weinen hin- und hergerissen, blickte
Chang Geng auf und sah den frischgebackenen Gouverneur der südwestlichen Armee
zu Pferd herbeieilen, der völlig erschöpft aussah.
Der alte Herr Shen hatte auf eigene Faust gehandelt, und
als Shen Yi ihn aufspürte und verfolgte, war es bereits zu spät. Beim Anblick
der Pferdewagen voller Wein, die das Eingangstor des Grafenanwesens
verbarrikadierten, konnte Shen Yi keine Tränen mehr vergießen. Er vergrub sein
Gesicht in der Mähne seines Pferdes und dachte: Das ist viel zu peinlich!
Als Gu Yun an diesem Abend zurückkehrte, sah er, wie sein
Haushalt die Pferdewagen mit dem Wein auslud, während Shen Yi mit versteinerter
Miene daneben stand. Wer wusste schon, was der Kaiser zu ihm gesagt hatte, aber
Gu Yun war ungewöhnlich gefasst. Normalerweise freute er sich auf die Rückkehr
in das Grafenanwesen. Doch heute, als er das Tor passierte, lächelte er nicht
und riss auch nicht seinen üblichen Scherz mit dem diensthabenden Wachmann. Es
schien, dass er wirklich unglücklich war.
„Was machst du hier?“, fragte Gu Yun.
Shen Yi nickte in Richtung des lächerlichen Weinwagens. „Eine
Bestechung meines alten Herrn als Dank für die Unterstützung meiner
Beförderung.“
Gu Yun atmete tief durch die Nase ein und trat vor, um
einen der Krüge aufzuheben. Dort am Eingangstor brach er das Tonsiegel auf,
schnupperte am Inhalt und genehmigte sich dann einen Schluck.
„Hervorragendes Timing. Dein Vater hat ihn selbst gemacht,
nicht wahr? Das kann ich schon am Geruch erkennen“, seufzte Gu Yun erfreut. „Das
passt gut. Wenn du schon mal hier bist, kannst du auch gleich bleiben. Noch vor
Ende des Monats werden sich unsere Wege trennen, und da wir beide am anderen
Ende des Landes leben, weiß keiner von uns, wann wir uns wiedersehen. Bleib und
trink heute Abend mit mir.“
Genau das war Shen Yis Absicht, und so stimmte er gerne zu.
„Wo ist Chang Geng?“, fragte Gu Yun.
„In der Küche.“
Gu Yuns Schritte hielten inne. „Was?“
„Er hat darauf bestanden, die Nudeln selbst zu machen“,
lachte Shen Yi. „Onkel Wang hat es wirklich versucht, aber er war nicht zu
bremsen. Unser Komturprinz ist ein ganz besonderer Mensch. Wenn er auf dem
Schlachtfeld Feinden gegenübersteht, hält er die Stellung, und wenn er nicht
auf dem Schlachtfeld ist, führt er Akupunkturbehandlungen aus. In seiner
Freizeit stellt er mit filigraner Sorgfalt Lederbeutel her und ist selbst auf
dem heiligen Boden der Küche eine geschickte Hand ... Wäre er eine junge Dame,
könnte nicht einmal das Schwarze Eisenbataillon die Freier abwehren, die vor deiner
Tür herumschwirren.“
Gu Yun zog die Stirn in Falten. „Ein
Gentleman hält sich von der Küche fern. Das ist absurd.“
Shen Yi bemerkte den merkwürdigen Ausdruck auf Gu Yuns
Gesicht und fragte: „Was ist los? Warum hat Seine Majestät dich in den Palast
gerufen?“
Gu Yun hielt inne, dann senkte er die Stimme. „Seine
Majestät möchte Meister Fenghan bestrafen.“
„Was?!“ Shen Yi war verblüfft.
Meister Fenghan hieß mit Nachnamen Zhang und trug den
Höflichkeitsnamen Fenghan. Er war achtzehn Jahre lang Leiter des
Lingshu-Instituts gewesen. Während seiner Zeit dort hatte Shen Yi direkt unter
der Aufsicht von Meister Fenghan gearbeitet. Der Mann war bereits über sechzig
Jahre alt und hatte sein ganzes Leben im Lingshu-Institut verbracht. Er war nie
verheiratet und hatte weder Frau noch Kinder, noch hatte er eine Vorliebe für
Menschen seines eigenen Geschlechts.
Gerüchten zufolge waren sogar die Bediensteten in seiner
Residenz aus Eisen gefertigt. Abgesehen von ihm selbst war das einzige lebende
Wesen auf dem Gelände ein alter Hund, der dem Tod nahe war. Doch das waren nur
Gerüchte ‒ niemand, nicht einmal Shen Yi, hatte jemals Meister Fenghans Anwesen
besucht.
Der alte Herr hatte eine recht merkwürdige Persönlichkeit.
Er empfing nur ungern Gäste und hatte sein Leben der Welt der Dampfmaschinen
und Eisenrüstungen gewidmet. Er hatte klar Stellung bezogen, als Gu Yun das Schwarze
Eisenbataillon wiederaufgebaut hatte, aber abgesehen von diesem Vorfall nahm er
andere Menschen kaum zur Kenntnis, geschweige denn kümmerte er sich um die
Regierung. Wie konnte jemand, der sich so wenig um weltliche Angelegenheiten
kümmerte, den Kaiser verärgern?
„Aber warum?“, fragte Shen Yi.
„Der alte Mann hat ein Memorandum eingereicht, in dem er
seine Ablehnung des Gesetzes über das Meisterschaftstoken zum Ausdruck bringt.
Seine Majestät ist wütend.“
Shen Yi runzelte die Stirn. „Aber er war schon immer
dagegen. Er hat nicht aufgehört zu protestieren, seit das Gesetz über die
Meisterschaftstoken verkündet wurde. Einer meiner alten Klassenkameraden hat
mir erzählt, dass er alle drei Tage ein Memorandum einreicht, egal ob Regen
oder Sonnenschein. Seine Majestät hat ihn noch nie beachtet ‒ warum sollte er plötzlich
...“
Das Gesetz über die Meisterschaftstoken war die Verordnung,
die die Aktivitäten der zivilen Kunsthandwerker einschränkte. Es war bei seiner
ersten Veröffentlichung Gegenstand einer intensiven Debatte gewesen, die jedoch
bald von der Flut der Kontroversen, die der Marschbefehlserlass ausgelöst
hatte, übertönt wurde.
„Meister Fenghans Temperament ist wirklich ...“ Gu Yun
seufzte. „Du hast nicht gesehen, was er neulich in seinem Memorandum
geschrieben hat. Er sagte, dass das Gesetz über die Meisterschaftstoken nicht
nur die Kunsthandwerker, sondern auch den Verstand und die Weisheit des Volkes
einschränkt und dass die Umsetzung dieser Politik auf lange Sicht die Nation
gefährden würde. Während wir Däumchen drehen, kommen die Menschen aus dem
fernen Westen mit ihren dampfgetriebenen Maschinen wie Unsterbliche aus dem
Nebel und klopfen an Groß-Liangs Türen. So wie ich das sehe, war er kurz davor,
mit dem Finger auf Seine Majestät zu zeigen und ihn als Verräter an der Nation
zu bezeichnen. Ehrlich gesagt, normalerweise hätte sich Seine Majestät nicht
auf sein Niveau herabgelassen ... aber seit den Unruhen an der Südlichen Grenze
ist der Kaiser mit seinen Gedanken in dieser Angelegenheit verstrickt. Der
Winter ist fast vorbei, aber dieser Knoten muss noch gelöst werden. Der alte
Mann ist direkt in die Mündung der Kanone gelaufen.“
Gu Yun schüttelte den Kopf. „Seine Majestät hielt mich
heute auf, als ich gehen wollte. Er sagte: 'Wir haben uns gefragt und unsere
Seele erforscht. Seit wir den Thron bestiegen haben, sind wir so eifrig bei der
Erfüllung unserer Pflichten, dass wir oft nicht schlafen können. Wie kommt es
dann, dass die Nation nicht in Frieden lebt?' ‒ Sagt mir, was wir dazu sagen
können.“
Es war erst wenige Jahre her, dass der Longan-Kaiser den
Thron bestiegen hatte. Doch zuerst war sein eigener Blutsverwandter, sein
Bruder dabei erwischt worden, wie er mit dem Volk von Dong Ying eine Rebellion
anzettelte, dann hatte sich ein hiesiger Kommandant mit Bergbanditen zu einem
bewaffneten Aufstand zusammengeschlossen. Für den Kaiser war jeder dieser
Vorfälle der größte Hohn. In der Zwischenzeit war der Schwarzmarkt für Violettes
Gold, der trotz wiederholter Verbote unvermindert weiterlief, zu einer Quelle
der Unruhe geworden.
Shen Yi verstummte, als die beiden Seite an Seite in den
Innenhof des Grafenanwesens schritten. Obwohl Meister Fenghan mit seiner
Äußerung zweifellos Ärger provozierte, wussten sie beide, dass seine Worte
absolut sinnvoll waren. Wenn die zivilen Kunsthandwerker ihr Handwerk nicht
mehr ausüben durften und sich alle auf das Lingshu-Institut verlassen mussten,
wie sollten die Kunsthandwerker des Instituts dann noch Zeit haben,
Innovationen zu entwickeln? Außerdem war die Priorität des Lingshu-Instituts
immer die militärische Rüstung gewesen ‒ wie viel Raum blieb da für Wachstum
und Entwicklung von Technologien, die von Zivilisten genutzt wurden?
„Kannst du irgendetwas tun, um ihn zu retten?“, fragte Shen
Yi leise.
Gu Yun blickte hinauf in den dämmrigen Himmel über der
Hauptstadt und stieß eine weiße Wolke in die kalte Luft. „Ich weiß es nicht.
Ich werde tun, was ich kann.“
Shen Yi nickte. Nach einem kurzen Moment sagte er: „Marschall
ich bin in der Hauptstadt aufgewachsen, aber es gibt Zeiten, in denen ich nicht
einmal atmen kann, wenn ich hier bin.“
Gu Yun reichte den Weinkrug wortlos weiter, Shen Yi nahm
einen Schluck von seinem Familienwein. Der Wein war so stark, dass er ihn kaum
hinunterwürgen konnte. Er klopfte Gu Yun auf die Schulter. „Alle warten darauf,
deinen Geburtstag zu feiern. Sieh zu, dass du etwas gegen dein mürrisches
Gesicht tust, wenn wir reingehen.“
Die beiden standen in dem geschützten Gang und nippten
abwechselnd an dem Tonkrug, bis sie den Inhalt ausgetrunken hatten.
Wein hatte die Kraft, Ängste zu lindern und das Blut zu
erwärmen. Er konnte die Wangen rosig färben und es einem ermöglichen, die
Sorgen der Gegenwart und Zukunft beiseitezuschieben und sich zu entspannen,
zumindest für eine Weile.
Als Gu Yun jedoch den Innenhof betrat, war er doch ziemlich
verblüfft.
Wie es aussah, hatte Ge Chen eine Reihe alter Eisenpuppen
des Grafenanwesens ausgegraben, die zu Schrott geworden waren. Wer wusste
schon, wie viel Zeit es gebraucht hatte, um sie alle zu reparieren. Die
riesigen, pechschwarzen Maschinen bewegten sich so geschmeidig wie an dem Tag,
an dem sie hergestellt wurden, und stellten sich in einer zerlumpten Reihe auf.
Von ihren Rüstungen und Waffen befreit, war jede Puppe stattdessen mit einem
Paar Seidenfächer ausgestattet worden, und die ganze Truppe führte nun in der
Mitte des Hofes einen fröhlichen, aber unorganisierten Volkstanz auf. Der
Haupttänzer und einzige Person aus Fleisch und Blut in der Gruppe war der
fröhlich gekleidete Cao Niangzi.
Gu Yun fehlten die Worte.
Shen Yi schüttelte den Kopf und seufzte tief. „Was für ein
Genie.“
„...Wie bitte?“
Shen Yi legte einen Arm um seine Schultern. „Dieses Kind Ge
Chen ist ein echtes Wunderkind. Wenn ich daran denke, dass die erste
dampfgetriebene Rüstung, die er je angefasst hat, von mir stammt, dann ... Tsk,
ich wünschte, ich könnte ihn an die Südliche Grenze entführen.“
Gu Yun hielt seinen Mund. Irgendetwas an den Worten von
General Shen schien nicht zu stimmen.
Wie versprochen hatte Chang Geng Gu Yun eine Schüssel mit
Langlebigkeitsnudeln zubereitet. Beim letzten Mal hatte er ein Ei aufgeschlagen
und ihm am Ende auch noch die Schale mit serviert. Als er heute die Küche des
Anwesens betrat, schien dieser junge Mann ein ganz anderer Mensch zu sein.
Seine heutigen Kochkünste waren kaum mit seinen früheren Bemühungen zu
vergleichen. Die Nudeln schmeckten erstaunlich gut. Nachdem er mit dem Essen
fertig war, inhalierte Gu Yun praktisch die Schüssel mit dem Essen und sagte
nie wieder so entmutigende Worte wie ‘ein Gentleman hält sich von der Küche
fern‘.
Drei Schalen Wein später benahm sich jeder im Hof wie ein
Verrückter.
„All diese Jahre, von der Hauptstadt bis zu den westlichen
Regionen, von der Nördlichen Grenze bis nach Loulan, überall, wo ich war, warst
du immer an meiner Seite.“ Shen Yi seufzte. „Es wird sich jetzt seltsam
anfühlen ohne dich.“
„Genug der Plauderei“, sagte Gu Yun. „Trink!“
Ge Chen huschte herbei. „General Shen“, sagte er ernsthaft.
„Ich habe einige Freunde aus der Jianghu im Südwesten. Wenn ihr in
Schwierigkeiten geratet, könnt ihr sie um Hilfe bitten!“
Shen Yi war so gerührt, dass ihm die Tränen in die Augen
stiegen. „Vergiss deine Jianghu-Freunde. Gibst du mir einen deiner Holzvögel?“
Die beiden sahen sich tränenüberströmt an, als hätten sie
einen lang vermissten Freund gefunden, bevor sie sich in eine hitzige
Diskussion über die Verbesserung der Lebensdauer von Dampfmaschinen stürzten. Wurden
sie von Gu Yun mit jeweils drei Schalen Wein bestraft.
Nachdem er seine Strafe abgesessen hatte, rollte sich Ge
Chen unter den Tisch und verschwand. Erschöpft von seinem Auftritt im
Rampenlicht brach schließlich auch Cao Chunhua in einem Wirrwarr zwischen den
Eisenpuppen im Hof zusammen. Chang Geng streckte sich in vier Richtungen
gleichzeitig aus und kümmerte sich um eine Person nach der anderen.
Am Ende waren alle platt.
Shen Yi, der sich an Gu Yun festhielt, brabbelte durch den
dicken Brei, der seine Worte verstümmelte. „Zixi ... Oh, Zixi. Die Familie Gu
steht dort, wo die Winde und Wellen am heftigsten sind ‒
hicks sie stand schon immer dort, wo die Winde und Wellen am heftigsten
sind. Du musst ... Du musst vorsichtig sein ...“
Gu Yun lag zusammengesunken neben einem Weinkrug. Er hatte
weder Lust, sich zu bewegen, noch wollte er sprechen, also lachte er nur. Wenn
er einmal angefangen hatte, war es schwer, damit aufzuhören, und er lachte, bis
ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Er dachte: Ich bin das einzige
Mitglied der Familie Gu, das noch übrig ist.
Shen Yi richtete sich taumelnd auf, schwankte zwei Schritte
zur Seite und fiel mit einem lauten Knall um, wobei er die ganze Zeit
murmelte: „Seine Majestät ... Seine Majestät hat Angst vor dir.“
Es war schwer zu sagen, vor wem Seine Majestät Angst hatte
oder nicht, aber Chang Geng hatte in diesem Moment sicherlich vor beiden etwas Angst.
Er winkte eilig die Wachen des Anwesens herbei und wies sie an, Shen Yi
aufzuhelfen. „Beeilt euch und tragt General Shen in eines der Nebenzimmer.“
Gu Yun lehnte sich an den Tisch, den Kopf in eine Hand
gestützt, mit einem unergründlichen Lächeln im Gesicht. Wäre sein Blick nicht
so träge gewesen, könnte man meinen, er sei völlig nüchtern.
Durch die Bemühungen der Fleißigen, wenn auch etwas
ungeschickten Wachen des Anwesens wurde Shen Yi aufgerichtet, aber er weigerte
sich immer noch, sich zu benehmen. Er sträubte sich gegen die stützenden Hände
der Wachen und lallte: „Du ... Gu Zixi ... Du magst ... Darüber hinweggekommen
sein, aber Seine M-Majestät ist es nicht. Er hat Angst vor dir, genau wie der
verstorbene Kaiser. Wie kann er keine Angst haben? Sie haben dich damals so schwer
verwundet ... Sie haben versucht, dich zu vernichten ... aber du hast überlebt.
Und das Schwarze Eisenbataillon ist immer noch so ... So mächtig. Diese Leute
denken sich, wenn die Situation andersherum wäre, wie würden sie sich rächen?
Sie beurteilen andere nach ihrem eigenen Maßstab, Zixi ... Jeder auf dieser
Welt beurteilt andere nach seinem eigenen Maßstab ...“
Chang Gengs Fähigkeit, Alkohol zu vertragen, war nicht
besser als der Durchschnitt. Auf Gu Yuns Drängen hin hatte er bereits reichlich
getrunken und konnte sich kaum noch einen Funken Klarheit bewahren. Doch bei
Shen Yis Worten lief ihm ein Schauer über den Rücken, der ihn augenblicklich nüchtern
machte.
Was bedeutete ‘sie haben versucht, dich zu vernichten‘?
Waren Shen Yis Worte nur das Geschwätz eines betrunkenen
Mannes? Chang Geng konnte nicht anders, als einen Schritt nach vorne zu machen,
um mehr verstehen zu können.
Doch nachdem er noch etwas länger gebrüllt hatte, drehte
sich Shen Yi um, umklammerte die Säule hinter sich und erbrach sich. Als er mit
dem Durcheinander fertig war, brach er schwach zusammen, wie ein Haufen nasser
Schlamm, und fiel in eine betrunkene Ohnmacht.
Chang Geng war mit seinen Kräften am Ende. Ihm blieb nichts
anderes übrig, als die noch nüchternen Mitglieder des Haushalts aufzufordern,
die liederlichen Betrunkenen, die auf dem Hof zusammengesackt waren,
einen nach dem anderen wegzutragen.
Schließlich blieb nur noch eine Handvoll Eisenpuppen übrig,
die noch immer pflichtbewusst ihre Gliedmaßen schwangen, während aus ihren
Köpfen weiße Dampfschwaden aufstiegen. Das Gelächter und der Jubel in der
Hauptstadt verebbten langsam.
Gu Yun lag halb auf dem Tisch. Er schien verwirrt zu sein
und murmelte mit kaum vernehmbarer Stimme: „Gar nicht so standhaft, was? Diese
Verlierer können nicht einmal auf ihren eigenen zwei Beinen gehen; sie mussten
hinausgetragen werden.“
Dieser Mann hat Nerven. Seufzend spielte Chang Geng mit und
überredete ihn mit leiser Stimme. „Das stimmt, und du bist der standhafteste von
allen. Da du so standhaft bist, lass uns zurück in dein Zimmer gehen. Ich werde
dir helfen, okay?“
Gu Yun sah zu ihm auf, seine Augen waren so tief und
dunkel, dass das schwankende Gefühl der Trunkenheit, das Chang Geng gerade
unterdrückt hatte, wieder auftauchte.
„A-Yan ...“, rief Gu Yun leise aus. Chang Geng runzelte die
Stirn.
„A-Yan.“ Gu Yun kicherte und sagte mit einer Mischung aus
hilfloser Verzweiflung und seiner üblichen bissigen Respektlosigkeit: „Ich
werde dir ein Geheimnis verraten, aber du darfst es niemandem sonst erzählen
... Dein Vater ... ist ein echter Bastard.“
Chang Geng starrte vor sich hin.
Was war das für ein Unsinn?!
Gu Yun gluckste leise vor sich hin und flüsterte
unzusammenhängend: „Wer weiß, welchen Frost mein Herz erträgt, wer mit mir
diesen Becher bitteren Weins teilen wird ...“
Chang Geng hatte nicht die Absicht, sich mit einem
Trunkenbold einen Wettstreit der Blicke zu liefern. Er half Gu Yun auf und
zerrte ihn in sein Schlafzimmer. Wer hätte gedacht, dass Gu Yun ein so
anhänglicher Betrunkener war? Er betatschte Chang Geng wie ein
unverbesserlicher alter Lustmolch. Angesichts der Hände von Gu Yun war Chang
Geng so erregt, dass er ihn am liebsten direkt auf das Bett geworfen hätte.
Doch als er auf das harte Holzbett von Marschall Gu mit seiner dünnen,
wattegepolsterten Matratze hinunterblickte, brachte er es nicht übers Herz, ihn
fallen zu lassen.
Und wer konnte schon ahnen, dass Gu Yun sich plötzlich
umdrehen und nach dem empfindlichen Nerv an Chang Gengs Ellenbogen greifen
würde? Chang Geng war überrascht; er spürte, wie sein Arm schwach wurde, und
hätte Gu Yun beinahe fallen lassen. In seiner Eile, ihn aufzufangen, verlor
Chang Geng auch noch das Gleichgewicht und wurde auf ihn heruntergezogen. Das
plötzliche Gewicht von Chang Geng, der gegen seinen Brustkorb prallte, raubte
Gu Yun die Luft aus den Lungen. Nachdem er eine Weile gekeucht hatte, klopfte
Gu Yun Chang Geng auf den Rücken und sagte unsinnig: „Aiyo,
Liebling, du erdrückst mich zu Tode.“
Als Chang Geng auf Gu Yuns Körper lag, entfaltete sich ein
leiser Keim aus dem Samen, den er tief in der Dunkelheit seines Herzens zu
vergraben versucht hatte. Er starrte genau auf die blassen Linien von Gu Yuns
Kiefer und fragte plötzlich mit leiser Stimme: „Wen rufst du da?“
Gu Yun gab keinen Laut von sich.
Chang Geng war betrunken. Wie sonst könnte er so furchtlos
handeln? Er drängte sich näher heran und fasste Gu Yuns Kinn. „Yifu, wen rufst
du?“
Das Wort Yifu schien Gu Yuns Gedächtnis auf die
Sprünge zu helfen. „Chang Geng“, murmelte er.
Diese zwei Silben waren wie ein stumpfes Stück Eisen, das
an Chang Gengs Ohren vorbeistrich. Eine grollende Explosion ging in seinem Kopf
los, und die Worte, der Natur ihren Lauf zu lassen, trieben ihn vorwärts, als
er sich herunterbeugte und Gu Yun wie besessen küsste. Gu Yun zuckte überrascht
zusammen. Nach einigen langen Momenten reagierte er langsam. Er klammerte sich
unbeholfen an Chang Gengs Kragen und stieß ihn dann abrupt weg.
Chang Gengs Rücken knallte gegen Gu Yuns steinhartes Bett.
Sein Geist klärte sich, die Farbe wich aus seinem Gesicht. Was mache ich
nur?, dachte er panisch?
Gu Yun starrte von oben auf ihn herab. Chang Geng öffnete
den Mund, um ‘Yifu‘ zu rufen, doch er konnte nicht sprechen.
Plötzlich lächelte Gu Yun. Der Betrunkene schien ihn nicht
mehr zu erkennen und streckte die Hand aus, um seine Wange zu streicheln. Er
lallte mit nasaler Stimme: „Und jetzt benimm dich.“
Er nahm Chang Geng, der von Kopf bis Fuß steif wie ein
Brett war, in die Arme und drückte ihm ernsthaft eine Reihe von Küssen von der
Stirn auf die Lippen. Er leckte mit äußerster Zärtlichkeit über Chang Gengs
Mund und verwöhnte ihn mit einer lang anhaltenden, aber inbrünstigen, süßen
Folter. Auch seine Hände waren nicht untätig, als sie an Chang Gengs Revers
herumfummelten.
Chang Geng fühlte sich, als würde er gleich explodieren.
Seine Hand zitterte, als er Gu Yuns Taille festhielt, doch er wehrte sich
dagegen, seinen Griff fester zu ziehen.
Gu Yun schien das Zittern an seinem Körper zu spüren. Er lag
erstaunlich ruhig im Bett, wie man es von einem eleganten jungen Meister aus
einer aristokratischen Familie erwarten würde. Als er Chang Gengs Gürtelschärpe
betastete, schenkte er ihm ein berauschendes Lächeln: „Hab keine Angst“,
beschwichtigte er sanft. „Bleib bei mir und ich werde dich gut behandeln.“
Chang Geng senkte seine Stimme bis zum leisesten Flüstern
und fragte heiser: „Wer bin ich?“
Gu Yun starrte ins Leere, dann hielt er inne, um über seine
Antwort nachzudenken. Leider war sein aufgeweichtes Gehirn zu solchen
Denkübungen nicht fähig. Er kam nicht nur nicht zu einer endgültigen Antwort,
sondern verhedderte sich auch noch in Chang Gengs Gürtelschärpe. Er spielte
eine halbe Ewigkeit damit herum, aber je mehr er versuchte, sie zu lösen, desto
fester wurde der Knoten. Schließlich ließ sich Gu Yun, erschöpft von den
Versuchen, Chang Gengs Robe zu öffnen, auf die Seite fallen und schlief ein.
In der darauf folgenden tiefen Stille biss Chang Geng die
Zähne zusammen und zählte akribisch seine langen, zitternden Atemzüge. Als er
bei sechzig angelangt war, hatte er die Kraft aufgebracht, Gu Yun zur Seite zu
schieben und aufzustehen.
Er riss seine Gürtelschärpe aus Gu Yuns Griff, legte ihn
flach auf das Bett und zog ihm wahllos eine Decke über den Körper. Da er keine
Sekunde länger bleiben konnte, drehte er sich um und floh.
Erklärungen:
Lao Zhuang bezieht sich auf die Begründer
des Daoismus, Laozi und Zhuangzi
Ein Gentleman hält sich von der Küche fern: Eine
Redewendung, die sich von dem Zitat ‘Ein Gentleman, der ein lebendes Tier
gesehen hat, kann es nicht ertragen, es sterben zu sehen, deshalb hält er sich
von der Küche fern‘ ableitet, dass aus dem gleichnamigen philosophischen Text
von Menzius stammt.
Wo die Winde und Wellen am heftigsten sind, ist
eine Redewendung, die bedeutet nicht, einfach nur zu überleben, sondern zu
gedeihen. Es geht darum, die wechselnden Gezeiten zu verstehen, Verschiebungen
vorauszusehen und rechtzeitig Entscheidungen zu treffen. Die fähigsten
Seefahrer harmonieren mit den Kräften der Natur und navigieren selbst durch die
turbulentesten Gewässer mit Anmut und Präzision.
Aiyo ist ein japanischer Ausdruck, mit dem man Überraschung, Schock, Tauer, Bedauern oder Bestürzung ausdrückt. Es wird auch verwendet, um Mitgefühl und Verständnis auszudrücken. Obwohl es wie ein einziges Wort klingt, ist Aiyo eigentlich eine Kombination aus zwei Wörtern „a“ und „iyo“.
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