Kapitel 48 ~ Eine verblüffende Erkenntnis

Liao Ran war schockiert. Er hätte nie gedacht, dass er den Tag erleben würde, an dem der Graf von Anding den Nationalen Tempel mit seiner Anwesenheit beehren würde. Er wandte sich eilig an Chang Geng: „Findet der Graf von Anding es nicht unheilvoll, den kleinsten Klecks Weihrauchasche zu berühren? Jetzt hat er sich tief in die Höhle des Tigers gewagt; wird er sich nach seiner Rückkehr mit Beifuß Blättern die Haut abschrubben?"

Chang Geng schenkte seinen Fragen keine Beachtung. Ein verunsicherter Ausdruck flackerte über seine Züge. Er war nicht bereit, sich Gu Yuns Wut und Verurteilung zu stellen.

In einer unerwarteten Wendung der Ereignisse dachten Chang Geng und Gu Yun, dass sie sich im betrunkenen Zustand gegenseitig belästigt hatten, sodass nun beide unter einem schlechten Gewissen litten.

Liao Ran sah Chang Geng verblüfft an. In den letzten Jahren hatte Chang Geng, um das Wu'ergu zu unterdrücken, seine meditative Atemtechnik bis zur Perfektion kultiviert. Er konnte mit dem Gesicht zur Wand sitzen und tagelang unbewegt meditieren. Sogar ein so angesehener Mönch wie Liao Ran musste ihm in dieser Hinsicht gnädig nachgeben.

Es war nicht ungewöhnlich, dass aufgewühlte Menschen in Chang Gengs Augen blickten und sich beruhigt fühlten. Dieser unvergleichlich gut aussehende junge Meister saß auf dem alten Gebetsteppich des mittellosen Mönchs, ganz in Weiß gekleidet und mit einem Weiqi-Stein in der Hand. Er schien einen friedlichen und tiefen Zustand der Erhabenheit erreicht zu haben ‒ bis die Worte des Grafen von Anding seine Ruhe erschütterten wie Wellen, die sich auf der stillen Oberfläche eines Teiches brechen.

Chang Geng bewegte sich unruhig und hob absichtslos die Hand, um nach Gott weiß was zu greifen. Auf halbem Weg bemerkte er, dass Liao Ran ihn unverwandt anstarrte. Er unterdrückte seine Emotionen und legte teilnahmslos die Hand auf seine Teetasse, senkte dann den Kopf und verbarg seine momentane Unaufmerksamkeit mit einem Schluck Tee.

Selbst der große Meister Liao Ran, der darin geübt war, sich geheimnisvoll zu verhalten, war leicht verwirrt. Was soll das? Kommt der Graf, um eine Schuld einzutreiben?

Wenige Augenblicke später betrat Gu Yun den Raum. In seinen Brauen und Augenwinkeln zeichnete sich eine kaum zu unterdrückende Abneigung ab, als wäre er versucht, auf Zehenspitzen hineinzugehen. Er schaute Liao Ran mit einem säuerlichen Blick an und lächelte unaufrichtig. „Es ist schon einige Jahre her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, großer Meister. Wie ich sehe, seid Ihr sauberer als je zuvor."

Liao Ran nahm das Benehmen eines großen Meisters an und begab sich nicht auf Gu Yuns Niveau herab. Er presste seine Handflächen zusammen, erhob sich zum Gruß und formte mit seinen Händen: „Amitabha Buddha. Das Herz dieses Mönchs ist wie ein Spiegel, klar und hell ‒ es gibt keinen Ort, an dem sich Staub niederlassen könnte.“

Offenbar war es möglich, die Klassiker zu zitieren, um die Verweigerung des Badens zu rechtfertigen!

Gu Yun sah aus, als hätte er etwas Ranziges gerochen. Da er keine weitere Minute in diesem zwielichtigen Etablissement ertragen konnte, wandte er sich an Chang Geng. „Du hast die spirituellen Übungen des großen Meisters schon seit mehreren Tagen gestört. Es ist höchste Zeit, komm nach Hause."

Chang Geng hatte all die Tage und viel Mühe damit verbracht, seinen Geist zur Ruhe zu bringen, nur um jetzt durch die Worte ‘komm nach Hause‘ wieder aufgewühlt zu werden. Er wusste, dass er, selbst wenn er unter einem Bodhi-Baum sitzen würde, nicht in der Lage wäre, die Worte ‘Lust ist ein unwürdiges Streben‘ zu rezitieren. So konnte er nur sein großes Durcheinander an Gefühlen zusammennehmen und gehorsam aufstehen. Der betäubende Duft des Sandelholzweihrauchs, der im Nationalen Tempel brannte, brachte Gu Yun zum Husten. Schnell zog er sich zurück, um außerhalb der Zelle zu warten, und sah gelangweilt zu, wie Chang Geng sich von Liao Ran verabschiedete.

Wenn es um Freunde und Familie ging, achtete Gu Yun, sobald er sich an dessen Gesicht gewöhnt hatte, nicht mehr so sehr darauf, ob sie attraktiv waren oder nicht. Gu Yun hatte immer gedacht, dass Chang Geng seiner Nördlichen Barbarenmutter ähnelte; erst jetzt, als er ihn von der Tür aus betrachtete, wurde ihm klar, dass das nicht ganz stimmte. Der junge Mann war in seine Gesichtszüge hineingewachsen und hatte ein elegantes und hübsches Gesicht. Es war schwierig, auf den ersten Blick zu sagen, wem er ähnelte, aber wie ein Stück schwarzer Jade hatte er etwas an sich, das dem Auge auf einzigartige Weise gefiel.

Gu Yun schreckte auf. Plötzlich erinnerte er sich daran, dass es in der Jianghu Menschen aus allen Gesellschaftsschichten gab. Seit der Etablierung des Seehandels waren die Volksbräuche in Groß-Liang immer liberaler geworden. Vor allem in den Küstengebieten entlang des Ostmeeres war männliche Homosexualität weit verbreitet, wie man munkelte. Könnte es sein, dass Chang Geng als weißer Drache, der sich in einen Fisch verwandelt hatte, um in einem tiefen Becken unter dem einfachen Volk zu schwimmen, von jemandem belästigt worden war, der seinen Platz nicht kannte? War er deshalb neulich so wütend gewesen?

Das stimmt, dachte Gu Yun, und sein Verstand verfolgte den Gedanken bis zu seinem logischen Ende, während seine Fantasie sich auf einen wilden Höhenflug begab. Wenn ich Shen Jiping eine reinhauen würde, würde er das auf keinen Fall ernst nehmen. Mit seinem verarmten Gesicht würde er nicht glauben, dass ich es ernst meine. Ehrlich gesagt, wenn ich ihn küssen würde, wäre ich derjenige, der den Kürzeren ziehen würde.

Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab es und desto unangenehmer fühlte er sich. Nach einigem Überlegen beschloss er, dass er sich auch dumm stellen konnte. Als Chang Geng zu ihm herüberkam, sagte er lässig: „Warum bist du so lange geblieben? Sind der Kohl und der Tofu im Nationalen Tempel so gut?"

Als er Gu Yuns lockere Art bemerkte, entspannte sich auch Chang Geng. „Die Stimme des Buddhas und vegetarisches Essen helfen bei der Meditation."

„Junge Leute wie du sollten bunte Farben tragen und extravagant leben. Es ist ja nicht so, dass du ein Mönch werden willst ‒ wozu meditierst du?" Gu Yun, der neben Chang Geng ging, wollte wie üblich einen Arm über seine Schultern legen. Doch gerade, als er die Hand hob, überkam ihn die plötzliche Angst, dass Chang Geng dies missverstehen könnte. Leise zog er sich zurück und verstaute die Hand hinter seinem Rücken.

„Ich habe es in Erwägung gezogen", sagte Chang Geng gleichmütig.

Er hatte einmal darüber nachgedacht, seine weltlichen Bindungen zu brechen und sich in ein religiöses Leben zu flüchten. Vielleicht würden auf diese Weise all die ungezähmten Fantasien in seinem Herzen durch die grenzenlosen Lehren des Buddhas transformiert werden.

„Was?" Gu Yun erstarrte mitten im Schritt. Es dauerte einige lange Sekunden, bis er reagierte und Chang Geng verblüfft anstarrte. „Du meinst, du willst ein Mönch werden?", fragte er ungläubig.

Chang Geng hat selten ein solches Erstaunen auf dem Gesicht seines Patenonkels gesehen. „Ich habe nur gesagt, dass ich darüber nachgedacht habe; ich hatte nicht den Mut, es tatsächlich zu tun", sagte er lächelnd.

Blödsinn, dachte Gu Yun. Wenn du es tätest, würde ich dir die Beine brechen.

Aber am Ende hielt Gu Yun seinen Mund. Chang Geng war nicht mehr, der hilflose kleine Patensohn, den er unter dem Dachvorsprung des Grafanwesens verstecken konnte. Er hatte seine Volljährigkeitszeremonie hinter sich und war zum Komturprinzen ernannt worden. Er nannte Gu Yun immer noch "Yifu", aber das geschah aus reiner Zuneigung und nicht aufgrund eines offiziellen Status. Es war für Gu Yun nicht mehr angemessen, diesen jungen Mann zu belehren, als wäre er sein echter Sohn.

So fragte er nur mit leicht niedergeschlagener Miene: „Warum?"

Chang Geng tauschte einen höflichen Gruß mit dem jungen Mönchsnovizen aus, der an ihnen vorbeiging, und antwortete dann: „Als Kind wuchs ich mit dem Anblick der Kalligraphie 'Die Welt ist unentrinnbar' auf, die in Yifus Zimmer hing. Später bin ich meinem Shifu gefolgt und durch das Land gereist. Ich habe die Härten und Gefahren der Welt kaum gekostet ‒ wie könnte ich mich ihr entziehen? Ich wurde in diese Welt hineingeboren. Auch wenn meine natürlichen Fähigkeiten begrenzt sind und ich vielleicht keine großen Taten vollbringe, die den Test der Zeit überdauern, wie die bedeutenden Weisen der Vergangenheit, ist das Mindeste, was ich tun kann, mich nicht zu schämen, dem Himmel, der Erde und mir selbst gegenüberzutreten ..."

...und dir.

Chang Geng sprach diese letzten Worte nicht laut aus, sondern verbarg sie in seinem Herzen.

Xiu-Niang hatte Chang Geng einmal hinter ihrem Pferd hergeschleift, aber am Ende hatte sie es nicht geschafft, ihn in den Tod zu reißen. Das Wu'ergu quälte ihn, aber bisher war es dem Gift nicht gelungen, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Manchmal dachte Chang Geng, dass er nur dann, wenn er sich durch die stürmischsten Wellen schlug und ständig gegen den Strom schwamm, einen Ort erreichen würde, an dem er sich endlich selbst respektieren konnte. Und nur dann würde er es verdienen, mitten in der Nacht von seinem kleinen Yifu zu träumen, wenn auch nur kurz.

Gu Yuns Gesichtsausdruck hellte sich auf, aber er fragte immer noch unglücklich: „Warum rennst du dann ständig weg, um dich mit einem Haufen Mönche zu umgeben?"

„Ich komme, um mit dem großen Meister Liao Ran Tee zu trinken", wich Chang Geng der Frage geschickt aus. „Manchmal leide ich an übermäßiger innerer Hitze und kann nicht schlafen. Fräulein Chen hat mir doch ein Rezept für einen beruhigenden Duft gegeben, oder etwa nicht? Er ist in meinem Beutel, aber ich habe ihn in den letzten Tagen nicht finden können.“

Gu Yun verstummte abrupt.

„Ich weiß nicht, wo ich ihn verloren habe", fuhr Chang Geng verblüfft fort.

Daraufhin wurde Gu Yun blass ‒ manche Leute waren wirklich bemerkenswert geschickt darin, genau dort zuzuschlagen, wo es wehtat.

Marschall Gu kämpfte eine Weile schweigend mit seinem Gewissen, aber schließlich griff er in sein Revers und zog das kleine, lederne Duftsäckchen heraus. Er reichte es Chang Geng. „Hier."

Jetzt war es an Chang Geng, zu schweigen.

Die schockierende Enthüllung traf Chang Geng, der versehentlich in eine von ihm selbst gestellte Falle getappt war, so unvorbereitet, dass er sich fast auf die Zunge biss. Prinz Yanbei, der noch vor wenigen Augenblicken der Inbegriff eines weltgewandten und fähigen Gelehrten gewesen war, spürte, wie seine Handflächen sofort von kaltem Schweiß benetzt wurden. „W-warum hat Yifu ihn?", stotterte er.

Mit seinem dicken Gesicht, das durch allerlei unangenehme Situationen durch und durch gezeichnet war, sagte Gu Yun, ohne mit der Wimper zu zucken: „Er ist irgendwie auf mein Bett gefallen. Vielleicht habe ich ihn dir an dem Tag, an dem ich sturzbetrunken war, aus Versehen entrissen."

Chang Geng überprüfte seinen Gesichtsausdruck wie versteinert.

Gu Yun täuschte schamlos seine Unschuld vor. „Was ist denn los?"

Chang Geng beeilte sich, den Kopf zu schütteln, und atmete erleichtert auf. Irgendwie hatte er es geschafft, dieses Desaster zu überstehen, und konnte wieder ruhig und vertraut mit Gu Yun verkehren, wie früher.

Gleichzeitig konnte er nicht umhin, einen Hauch von Enttäuschung zu empfinden.

Als Gu Yun seinen veränderten Gesichtsausdruck bemerkte, dachte er, dass Chang Geng immer noch beleidigt war, und bot ihm einen Olivenzweig an. „Ich habe neulich vergessen, das zu erwähnen, aber Seine Majestät möchte, dass du bei den Hofversammlungen zuhörst", sagte er. „Was für eine Position willst du denn? Ich werde sehen, ob ich ein Wort für dich einlegen kann."

Chang Gengs entspannte Miene wurde ernst. „Jedes der sechs Ministerien hat seinen eigenen Einflussbereich", sagte er. „Es wäre nicht gut, wenn ich ihre Arbeit stören würde. In all den Jahren habe ich keine zivilen oder militärischen Verdienste erworben und bin an den Müßiggang gewöhnt. Wenn seine Majestät darauf besteht, dass ich bei den Hofversammlungen zuhöre, dann reicht es, wenn ich zuhöre. Es würde mir auch nichts ausmachen, Richter Jiang vom kaiserlichen Revisionsgericht bei seinen Ermittlungen zu helfen."

Gu Yun war sich nicht sicher, ob Chang Gengs Antwort seine wahren Gefühle widerspiegelte, aber er war sich sicher, dass der Kaiser sie gerne hören würde. Er fühlte einen leichten Schmerz in seinem Herzen. Er wollte Chang Geng nicht zum Longan-Kaiser schicken, nur um ihn zu misshandeln und seine Talente zu vergeuden ‒ aber die Alternative war ein Ding der Unmöglichkeit. Chang Gengs Nachname war Li. Selbst wenn er zu einem faulen Prinzen wurde und der Dekadenz erlag, konnte er sich nicht sein ganzes Leben lang auf dem Anwesen des Grafen von Anding verstecken.

„Du kannst am kaiserlichen Hof arbeiten, wenn du willst, aber warte noch eine Weile ‒ geh noch nicht", sagte Gu Yun. „Seine Majestät beabsichtigt, den Schwarzmarkt für Violettes Gold zu untersuchen, daher steht Richter Jiang im Moment unter großem Druck. Die Situation ist schon chaotisch genug, also haltet dich da raus. Zieh den Linyuan-Pavillon nicht mit hinein."

Chang Geng brummte zustimmend; er schien von dieser Nachricht nicht im Geringsten überrascht zu sein. „So bald? Ich sehe, Seine Majestät kann es wirklich nicht erwarten. Erst neulich habe ich mich gefragt, wann der Gold-Konsolidierungserlass wieder in Kraft treten wird."

„Woher weißt du davon?", fragte Gu Yun erstaunt.

„Nur eine Vermutung." Ein leichter Schneefall hatte begonnen, durch die Luft zu treiben. Chang Geng lieh sich einen Regenschirm aus Ölpapier von der Tür einer Mönchszelle. Der Schirm war klein, und Chang Geng schwenkte ihn immer wieder in Gu Yuns Richtung. Im Handumdrehen war seine entblößte Schulter mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Er machte sich nicht die Mühe, ihn wegzuwischen, sondern ging in gleichmäßigem Tempo weiter, als ob er die Erfahrung genießen würde. „Eigentlich ist es gar keine Vermutung. Denk darüber nach, Yifu. Seine Majestät der Longan-Kaiser, der Yuanhe-Kaiser vor ihm, sogar Kaiser Wu ‒ sie alle sind zwar auf unterschiedliche Weise außerordentlich weise, aber wenn es um das Violette Gold geht, waren sie alle genau gleich. Sie alle sehen es als eine Quelle der Gefahr und der Besorgnis."

Gu Yun hatte Chang Geng immer als ein Kind der jüngeren Generation betrachtet. Dies war das erste Mal, dass er mit ihm Schulter an Schulter ging und seinen Gedanken zuhörte. Er empfand diese Erfahrung als furchtbar neu, deshalb unterbrach er ihn nicht und hörte ihm nur beim Sprechen zu.

„Als ich jung war und in der Stadt Yanhui lebte, sah ich mit eigenen Augen, wie der kaiserliche Hof Arbeitskräfte und Ressourcen für das Violette Gold verschwendete. In den letzten Jahren hatte ich auch den Gedanken, warum wird seine Verwendung so streng kontrolliert? Wenn Violettes Gold wie Lebensmittel oder Textilien behandelt würde und jeder so viel kaufen könnte, wie er will, würde der Schwarzmarkt dann nicht aufhören zu existieren?" Chang Geng schüttelte den Kopf, dann fuhr er fort: „Später wurde mir klar, dass so etwas unmöglich ist. Vielleicht ist es verräterisch, das zu sagen, aber es spielt keine Rolle, wer der Kaiser ist ‒ ob er unfähig oder erleuchtet ist, ein schwacher Gelehrter oder ein kräftiger Kampfkünstler ‒ niemand kann dem einfachen Volk erlauben, mit Violettem Gold zu handeln. Andernfalls könnten in Zukunft mächtige Kaufleute, Ausländer aus dem Westen, Barbaren aus dem Osten, ruchlose Verbrecher, sogar Beamte mit ein paar Mitteln ... jeder von ihnen könnte der Nation die Klinge an die Kehle setzen."

„Wie diese Banditen an der Südlichen Grenze.", sagte Gu Yun.

„Ganz genau. Das waren nur der Schwarzmarkt, ein paar Banditen und eine Handvoll Berggipfel nahe der Südlichen Grenze ‒ aber was wäre, wenn wir den Bereich auf die gesamte Nation Groß-Liang ausdehnen würden? Was wäre, wenn jeder eine solche ‘Klinge‘ besäße? Es ist unmöglich, dass der kaiserliche Hof es allen recht machen kann. Wenn es so weit käme, würden ähnliche Fälle wie Unkraut aus dem Boden schießen, und es wäre unmöglich, dass die Regierung sich um alle kümmern könnte. Die Nation würde von demjenigen kontrolliert werden, der die größte Waffe führt. Diejenigen, die um die Macht wetteifern, werden vor nichts zurückschrecken, um diese unschätzbare Drachentöterklinge zu erhalten und sich gegenseitig zu besiegen. Wenn man den freien Handel mit Violettem Gold zuließe, wäre das so, als würde man das legendäre Gu-Insekt züchten ‒ wer wird dann, wenn alle anderen Kreaturen verschlungen sind und der Gu-König sein giftiges Haupt erhebt, über das Land herrschen?"

Gu Yun runzelte die Stirn. „Chang Geng, es ist nicht schlimm, wenn du das zu mir sagst, aber sag es keinem anderen. Meinst du also, dass der Kaiser recht hat, das Gold-Konsolidierungsdekret wieder in Kraft zu setzen?"

„Nein, das ist es nicht. Eigentlich wäre es die beste Lösung, die moderaten Beschränkungen des verstorbenen Kaisers für das Violette Gold beizubehalten, bis die Situation stabil ist, und sich auf die Lösung des wichtigsten Problems zu konzentrieren: Geld. Seit der Einführung der Ackerpuppen verrottet ein erheblicher Teil der jährlichen Ernteerträge in den Kornkammern. Da der Reispreis stark gefallen ist, horten viele Menschen lieber Gold und Silber, als sich mit Lebensmitteln einzudecken. Es gibt nur so viel Gold und Silber, wie man braucht ‒ wenn alles gehortet wird, ist es unvermeidlich, dass die Staatskasse leer bleibt. Barren können nicht aus dem Nichts geschaffen werden, auch eine ferne Quelle kann den gegenwärtigen Durst nicht stillen ‒ selbst wenn wir mehr Münzen prägen würden, wäre das zu wenig und zu spät. Daher müssen wir auf den Außenhandel als Quelle für Gold und Silber zurückgreifen. Wenn die Seidenstraße erst einmal vollendet ist, wird sie Yifus größte Errungenschaft sein. Selbst hundert niedergeschlagene Rebellionen sind kein Vergleich zu einer solchen Großtat.

„Solange es Geld gibt", fuhr Chang Geng fort, „hat das Haus seine Dachsparren und das Volk seinen Stützpfeiler. Dann können wir uns langsam um die inneren Angelegenheiten der Nation kümmern, wie ein Topf, der auf kleiner Flamme köchelt. Es wird weiterhin Herausforderungen geben, aber die Situation wird nicht eskalieren. Wir können uns auf Jahrhunderte des Friedens und des Wohlstands freuen. Nach ein paar Generationen der Stabilität werden wir vielleicht einen Weg nach vorne finden. Chang Geng seufzte leise. „Es ist bedauerlich, dass die beiden bewaffneten Rebellionen der letzten Jahre mit dem Schwarzmarkt zu tun hatten. Die extreme Reaktion Seiner Majestät ist nicht überraschend. Ehrlich gesagt, vermute ich, dass die Vorfälle im Ostmeer und an der Südlichen Grenze kein Zufall sind. Ich habe mir die Ressourcen des Linyuan-Pavillons für meine Nachforschungen ausgeliehen und bin erst kürzlich auf eine vage Spur gestoßen ... Aber unsere Feinde sind wahrlich hinterhältig. Yifu, du musst vorsichtig sein."

Nachdem er Chang Gengs Rede zugehört hatte, schwieg Gu Yun für eine lange Zeit, sein Gesichtsausdruck war schwer zu lesen. Chang Geng überließ ihn seinen Gedanken und begleitete ihn langsam aus dem Nationalen Tempel.

Die Abendtrommel ertönte aus dem Inneren des Tempels und hallte in den Bergen wider. In der darauf folgenden tiefen Stille rieselte der Schnee lautlos herab.

Der alte General Zhong konnte einen militärischen Befehlshaber heranziehen, der in der Lage war, der Nation durch Siege auf dem Schlachtfeld Frieden zu bringen, aber er konnte nicht im Alleingang einen Beamten hervorbringen, der talentiert genug war, die Nation zu regieren und dem Land Frieden bringt. Nicht zum ersten Mal überkam Gu Yun ein tiefes Bedauern. Warum muss dieses Kind den Nachnamen Li tragen?

Wäre Chang Geng nicht der Prinz Li Min, wäre es ein Kinderspiel, durch die Beamtenprüfung Beamter zu werden. Anstatt in diesem lausigen Tempel, ein paar verirrte Gedanken mit Gu Yun zu teilen und dabei zu verkünden, dass es sein einziger Wunsch sei, seine Tage als hübsches, aber nutzloses Inventar am Hofe zu vertrödeln, könnte er einen kometenhaften Aufstieg erleben, der Nation zu ihrem Aufschwung verhelfen und der größte Staatsmann seiner Generation werden ... Aber so war sein Schicksal.

„Das Wetter verschlechtert sich, Yifu ist viel zu leicht bekleidet", sagte Chang Geng. „Warum fährst du nicht mit mir in meiner Kutsche, anstatt auf deinem Pferd zurückzureiten?"

Gu Yun war noch immer in Gedanken versunken. Beim Klang seiner Stimme drehte Gu Yun den Kopf und begegnete unerwartet den Augen von Chang Geng. Sein Herz stotterte in seiner Brust. Er hatte noch nie bemerkt, wie Chang Geng ihn ansah. Sein Blick, in dem sich der weiche, weiße Schnee spiegelte, war unverwandt scharf. Es war, als wolle er Gu Yun in der Tiefe seiner Augen verschlingen.

Erschrocken wandte Chang Geng schnell den Blick ab. Er ließ den Kopf sinken und zupfte an seinem Ärmel, um harmlos zu wirken, doch das wirkte nur noch verdächtiger. Der Ärmel war bereits durchnässt, sodass der Stoff an seiner Hand klebte. Erst jetzt bemerkte Gu Yun, dass Chang Gengs Schulter mit einer kalten Schicht aus geschmolzenem Schnee bedeckt war. Er hatte kein Wort darüber verloren, während er Gu Yun auf seinem gemütlichen Spaziergang begleitete.

Gu Yun streckte seine Hand aus und strich über den feuchten Stoff, der sich eiskalt anfühlte. „Du ..."

In dem Moment, als er seine Hand hob, verkrampfte sich Chang Gengs Körper. Es dauerte nur einen flüchtigen Moment, aber Gu Yuns Augen entging das nicht.

Gu Yun war nicht jemand, der sich um Kleinigkeiten in seinem Privatleben kümmerte; er war eher gleichgültig und nahm selten Notiz von solchen Kleinigkeiten. Aber da ihm der unangenehme Vorfall aus dem Alkoholrausch noch frisch in Erinnerung war, reagierte er auf Chang Gengs Reaktionen empfindlicher als sonst.

Bilde ich mir das nur ein?, fragte sich Gu Yun verwirrt, als er in die Pferdekutsche kletterte.

Die Heizung in der Kutsche war bereits angezündet worden, also lehnte sich Gu Yun zurück und schloss die Augen, um sich auszuruhen. Er war noch im Halbschlaf, als er spürte, dass sich jemand näherte. Er hielt die Augen geschlossen und spürte nach einem kurzen Augenblick, wie Chang Geng eine dünne Decke über ihn legte. Seine Berührung war leicht wie eine Feder, als hätte er Angst, ihn zu wecken. Wenn es sich um Shen Yi handelte, warf der Mann immer nur achtlos eine Decke über ihn, und selbst das machte ihn zu einem äußerst rücksichtsvollen Untergebenen. Seine Bewegungen waren nie so sanft, als dass man sie mit liebevoller Hingabe verwechseln könnte.

Gu Yuns Schläfrigkeit verflüchtigte sich sofort. Er bemühte sich, weiterhin Schlaf vorzutäuschen, ohne sich einen Millimeter zu bewegen, bis sein Nacken vor Anstrengung steif war. Die ganze Zeit über hatte er das Gefühl, als ob ihn ein Augenpaar unverwandt anstarrte.

Vielleicht gibt es in dieser Welt keine Geheimnisse, die für immer perfekt versteckt werden konnten, ‒ nur eine kleine sorgfältige Beobachtung war erforderlich.

Eine Schnur in Gu Yuns Herz spannte sich leise an und er konnte nicht anders, als Chang Geng heimlich zu beobachten. Doch anstatt diese unbeschreiblichen Bedenken zu zerstreuen, wurde er, je länger er beobachtete, immer panischer.

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Neben dem inneren Aufruhr, den Chang Geng verursachte, hatte Gu Yun alle Hände voll zu tun, sich um den Gold-Konsolidierungserlass und die Versuche des Kaisers zu kümmern, gegen den Schwarzmarkt für Violettes Gold vorzugehen. Darüber hinaus musste er einen Umweg finden, um Meister Fenghan, den größten Griesgram des Lingshu-Instituts, zu retten. Es war eine höllische Situation, die Gu Yun geistig und körperlich auslaugte.

Am dreiundzwanzigsten Tag des ersten Monats reiste Gu Yun an den Rand der Hauptstadt, um Shen Yi zu verabschieden, der zu seinem neuen Posten im Südwesten aufbrechen wollte.

Am fünfundzwanzigsten Tag des ersten Monats hatte die kaiserliche Drachenkutsche auf dem Weg zu den kaiserlichen Gärten eine Panne. Eine zufällige Bemerkung eines seiner persönlichen Diener erinnerte den Longan-Kaiser daran, dass Meister Fenghan einst niedergekniet war, um ihm bei der Reparatur seiner dampfgetriebenen Kutsche zu helfen. Ein Großteil des Zorns, der in seinem Herzen brodelte, verflog sofort. Nach weiteren Nachforschungen erfuhr er, wie einsam und verarmt der alte Mann war ‒ nämlich, dass er nach seiner Inhaftierung außer seinen Schülern vom Lingshu-Institut, die ihn besuchten, keinen einzigen Freund oder Familienangehörigen hatte, der ihm Essen brachte. Der Longan-Kaiser war zufällig gut gelaunt, als er dies hörte, hatte er Mitleid mit dem alten Mann. Seufzend ordnete er an, dass Zhang Fenghan aus dem Gefängnis entlassen wurde, und zog ihm zur Strafe nur ein halbes Jahr seines Gehalts ab. Damit war dieser Fall abgeschlossen.

Nachdem diese beiden Angelegenheiten geklärt waren, hielt es Gu Yun keinen Tag länger in der Hauptstadt aus. Er reichte ein Memorandum ein, in dem er um seine Rückkehr nach Loulan bat.

In der Tat war es an der Zeit, dass er sich auf den Weg machte. Der Kaiser hatte keine Einwände und genehmigte sein Gesuch noch am Tag der Einreichung.

Es war nun der Abend, bevor Gu Yun seine Sachen packen und abreisen sollte. Es war schon tiefste Nacht, er hatte gerade seine Medizin genommen. Obwohl Chang Geng ihn seit einiger Zeit einer Akupunkturbehandlung unterzog, konnten diese Mittel seine Symptome nur abschwächen. Sie konnten seine Kopfschmerzen nicht an der Wurzel beseitigen.

Zu diesem Zeitpunkt, als er gerade mit dem Einschlafen kämpfte, kam ein Bote mit einer Vorladung des Grafen von Anding in den kaiserlichen Palast. Vielleicht war es eine Nebenwirkung der Medizin ‒ Gu Yuns Augenlid begann plötzlich zu zucken.

 

 

 

Erklärungen:

Beifuß Blätter werden zur Vertreibung böser Geister verwendet.

… es gibt keinen Ort, an dem sich Staub niederlassen könnte: Leicht abgewandelt von einem buddhistischen Vers von Huineng, dem sechsten Patriarchen des südlichen Chan-Buddhismus.

Der Bodhi-Baum ("Baum des Erwachens"), ist ein großer heiliger Feigenbaum in Bodh Gaya, Bihar, Indien. Siddhartha Gautama, der spirituelle Lehrer, der als Buddha bekannt wurde, soll etwa 500 v. Chr. unter diesem Baum die Erleuchtung oder die Buddhaschaft erlangt haben. In der religiösen Ikonografie ist der Bodhi-Baum an seinen herzförmigen Blättern zu erkennen, die in der Regel gut sichtbar ausgestellt sind. Außerdem ist 色即是空 ein Teil des buddhistischen Sutra "Das Herz der Prajna Paramita", das täglich in Tempeln zur Meditation gesungen wird. Das Sutra lehrt einem etwas über die "Leere“.

Lust ist ein unwürdiges Streben: Humorvolle Neuinterpretation einer Zeile aus dem Herz-Sutra. Die vollständige Zeile lautet 色即是空,空即是色, "Form ist Leere, Leere ist Form", aber , "Form", kann auch mit "Lust" übersetzt werden.

…bot ihm einen Olivenzweig an: Der Ausdruck "einen Olivenzweig anbieten" ist eine Redewendung, die aus der Antike stammt. Sie symbolisiert eine Geste des guten Willens, des Friedens oder der Versöhnung. Wenn jemand einen Olivenzweig ausstreckt, drückt er damit seinen Wunsch aus, Konflikte zu lösen und eine gemeinsame Basis zu finden. Es ist, als würde man sagen: „Lass uns unsere Differenzen beiseitelegen und eine Lösung finden."

Gu-Insekten: Blut-Gu () ist ein Fluch in der traditionellen, chinesischen Hexerei. Der Legende nach entstehen Gu, indem man giftige Tiere (häufig Insekten) in einem Behälter einschließt und sie sich gegenseitig verschlingen lässt. Das resultierende Gu muss von einem Ziel aufgenommen werden, wonach das Gu ferngesteuert werden kann, um den Wirt zu verletzen oder zu töten.




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GLOSSAR und die Welt von Stars of Chaos

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