Kapitel 51 ~ Romanze

In dem Moment, in dem Gu Yun diese Worte sprach, spürte er, wie Chang Gengs Puls zu rasen begann. Bei diesem Tempo konnte man kaum noch von einem Puls sprechen. Die Haut, die Gu Yun in seiner Handfläche hielt, glühte, als ob sich unter der Oberfläche von Chang Gengs innerem Handgelenk ein unsichtbarer Vulkan befände, und die geringste Störung würde einen so heftigen Ausbruch verursachen, dass alle Meridiane in Chang Gengs Körper zu Asche verbrennen würden.

Gu Yun hatte das nicht erwartet ‒ obwohl er so taktvoll wie möglich gesprochen hatte, reagierte Chang Geng immer noch so explosiv. Besorgt, dass er eine Grenze überschritten hatte, berührte er mit seiner Hand leicht Chang Gengs Brust. „Konzentriere dich. Reiß dich zusammen!"

Chang Geng riss Gu Yuns Hand weg und packte sie so fest, dass Gu Yuns Knöchel knackten. Gu Yuns Auge zuckte leicht. Chang Gengs Teint war so blass wie Räucherpapier, seine Augen blutrot. Unzählige Phantasmen blitzten in seinem Blickfeld auf, und das Geschrei einer tausendköpfigen Armee schien in seinen Ohren nachzuhallen wie eine große Eisenglocke. Die flackernden Schatten von Dämonen quälten ihn; das Wu'ergu trank das Blut seines Herzens durch seine packenden Wurzeln und schwoll mit Gebrüll zu monströser Größe an; seine dichten Äste waren mit Dornen bedeckt und erstickten ihn mit herzzerreißender Qual.

Und dort, jenseits des Wu'ergu, stand Gu Yun.

Die beiden hätten genauso gut durch gefährliche Berge und reißende Flüsse getrennt sein können.

Gu Yun war zu Tode erschrocken. Seine Lippen bewegten sich unmerklich, aber er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte.

Chang Geng nahm Gu Yuns Hand, die er fest zwischen seinen eigenen Händen verschränkte, und hob sie an seine Brust. Mit einem gedämpften Schluchzen schloss er die Augen und presste seine zitternden Lippen wie ein Brandzeichen auf den Rücken von Gu Yuns eiskalter Hand. Trotz Gu Yuns unbehaglichen Verdacht, damit hatte er nicht gerechnet. Als Chang Gengs sengender Atem seinen Ärmel hinaufbrannte, begann Gu Yun, vor ängstlicher Empörung zu strotzen. Fast wäre er damit herausgeplatzt: Bist du verrückt geworden?

Ohne Vorwarnung schubste Chang Geng ihn weg. Er zog sich so weit wie möglich in die kleine Kutsche zurück, rollte sich zusammen, senkte den Kopf und spuckte einen Mundvoll purpurschwarzes Blut aus.

Gu Yun war wie betäubt und schwieg.

Alles war innerhalb eines Augenblicks geschehen. Bevor Gu Yun die Gelegenheit hatte, aufzubrausen, wurde er von einem Schreck übermannt. Fassungslos blieb er an Ort und Stelle stehen und würgte seine Worte so sehr zurück, dass ihm die Kehle schmerzte.

Der Schmerz in Chang Gengs Augen wurde durch eine trostlose Verzweiflung ersetzt. Doch nachdem er den Mund voll geronnenen Blutes ausgespuckt hatte, schien sich sein Herz zu beruhigen, und sein Geist sammelte langsam sein zerstreutes Bewusstsein wieder ein. Als Gu Yun die Hand ausstreckte, um ihm aufzuhelfen, drehte er den Kopf und wich zurück. „Ich habe Yifu beleidigt", murmelte er. „Ob du mich nun schlägst oder ausschimpfst ... hust, tu bitte, was du für richtig hältst."

Gu Yun holte scharf Luft. Unzählige Gefühle verknoteten sich in seiner Brust und gipfelten in einer langen Abhandlung, die in einer Sammlung von General Shen Jipings größten Zitaten nicht fehl am Platz gewesen wäre. Dennoch wagte er nicht, auch nur ein Wort davon auszusprechen. Er fühlte sich wie erstickt und dachte bei sich: Ich habe ihn noch nicht einmal beschimpft, und schon spuckt er Blut. Wie zum Teufel soll ich jetzt noch etwas sagen!

Er bückte sich, hob Chang Geng vom Boden auf und setzte ihn auf das geräumige Sofa im Inneren des Wagens. Er schob den Wirbelwind verwirrter Gedanken beiseite und sagte scharf: „Halt den Mund. Reguliere deine Atmung und kümmere dich zuerst um deine inneren Verletzungen."

Chang Geng schloss gehorsam die Augen und verstummte. Gu Yun beobachtete ihn eine Weile und wandte sich dann ab, um den Wagen zu durchwühlen. Bei seiner Durchsuchung fand er keinen einzigen Tropfen Wein, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als das wärmende Tonikum, das auf dem kleinen Herd stand, in die Hand zu nehmen, und zurückzuschütten, denn der frische Ingwer in dem Sud war so stark, dass ihm das Gehirn wehtat. Er hatte gedacht, dass Chang Geng vielleicht nur ein wenig verwirrt war ‒ dass er vielleicht von den schändlichen Dingen, die Gu Yun in betrunkenem Zustand getan hatte, beeinflusst worden war und einige unangemessene Vorstellungen entwickelte. Er hatte gedacht, dass er ihm angesichts der außergewöhnlichen Intelligenz des Jungen nur einen kleinen Schubs geben müsste und er zur Vernunft käme. Er hätte nie erwartet, dass Chang Geng, noch bevor er mit dem Anstupsen beginnen konnte, beim ersten Versuch alles ausspucken würde!

Wie konnte das nur passieren?

Gu Yun blickte mürrisch zu Chang Geng, der gerade mit fest geschlossenen Augen seine Atmung regulierte. Er nahm einen Platz an der Seite ein und begann, mit einem klaren Verstand, sich ernsthaft zu sorgen. Die Alten sagten: ‘Kultiviere dich selbst, und dein Haus wird verwaltet werden, verwalte dein Haus, und dein Staat wird regiert werden.‘ Gu Yun fragte sich, ob es daran lag, dass er sich nicht richtig kultiviert hatte, dass sowohl sein Haus als auch sein Staat in Aufruhr waren. Er fühlte sich zerschlagen und zerschunden, bis zum Äußersten aufgeregt.

Das Grafenanwesen war nur wenige Schritte vom kaiserlichen Palast entfernt. Selbst wenn die Kutsche von Schildkröten gezogen werden würde, wäre es eine schnelle Reise gewesen.

In dem Moment, in dem Gu Yun aus der Kutsche stieg, wurde er von einem Holzvogel begrüßt. Er landete zielsicher auf seiner Schulter, neigte den Kopf und starrte ihn mit lebendigem Blick an. Ohne Vorwarnung griff eine Hand hinter Gu Yun ‒ Chang Geng war irgendwann leise aus der Kutsche gestiegen ‒ nach dem Vogel und fing ihn auf.

Sein Gesichtsausdruck war nicht weniger grässlich als zuvor, aber er schien etwas von seiner gewohnten Gelassenheit zurückgewonnen zu haben. Chang Geng hielt den Holzvogel in der Hand, öffnete ihn aber nicht sofort, um den Absender zu überprüfen. Während sich der alte Haushälter um die Pferdekutsche kümmerte, trat Chang Geng neben Gu Yun. „Wenn Yifu sich unwohl fühlt, werde ich ausziehen", sagte er leise. „Ich werde nie wieder deine Augen mit meiner Anwesenheit beleidigen und auch nicht die Grenzen des Anstands überschreiten."

Jetzt, da das blutige Glitzern aus seinen Augen verschwunden war, war Chang Gengs Gesichtsausdruck kalt und trostlos, und als er seinen Blick senkte, war sein Verhalten von resignierter Wachsamkeit geprägt. Gu Yun stand einige Sekunden lang wie betäubt da. Als er feststellte, dass er nichts zu sagen hatte, machte er auf dem Absatz kehrt und ging ohne ein Wort.

Ge Chen und Cao Chunhua hatten von den Ereignissen der vergangenen Nacht erfahren, als sie am frühen Morgen aufgewacht waren, und warteten schon lange am Eingangstor. Bevor sie die beiden begrüßen konnten, rauschte ein grimmig dreinblickender Gu Yun an ihnen vorbei, ohne sie auch nur zu grüßen. Chang Geng beobachtete seine verschwindende Gestalt. An seinem Mundwinkel klebte etwas, das wie Blut aussah, und sein Teint war irgendwie noch blasser als der von Gu Yun, der die ganze Nacht kniend im Schnee verbracht hatte.

„Dage, was ist passiert?", fragte Ge Chen verblüfft.

Chang Geng schüttelte nur den Kopf. Erst als Gu Yuns Gestalt völlig verschwunden war, riss er seinen Blick endgültig los. Er wandte sich dem kleinen Holzvogel in seiner Hand zu, öffnete seinen Bauch und entnahm ihm einen Zettel mit einer Nachricht.

 

Zu Beginn des ersten Jahres der Herrschaft des jetzigen Kaisers, als Marschall Gu den Kronprinzen der Nördlichen Barbaren über den Pass begleitete, erkrankte er schwer. Mein Erge verließ die Präfektur Taiyuan und eilte eigens herbei, um einen Monat später zurückzukehren.

 

Der Brief war mit Chen unterzeichnet.

Die hölzernen Flügel des Vogels wiesen deutliche Abnutzungserscheinungen auf ‒ wer wusste schon, wie weit er mit diesem Brief geflogen war.

Die Nachricht von Chen Qingxu hatte weder ein Anfang noch ein Ende; sie war völlig unverständlich. Als er sie zu Ende gelesen hatte, blitzten die Augen von Chang Geng leicht auf. Er klopfte dem Holzvogel auf den Hinterkopf, woraufhin dieser seinen eisernen Schnabel öffnete und einen winzigen Funken ausstieß, der den Zettel im Handumdrehen zu Asche verbrannte.

„Dage", begann Cao Chunhua vorsichtig, „in letzter Zeit habe ich Holzvögel bemerkt, die rund um die Uhr auf das Grafenanwesen ein- und ausgehen. Untersuchst du etwas?"

„Ein alter Fall", sagte Chang Geng leise. „Ich hatte immer das Gefühl, dass sich sein Wesen zwar nicht verändert hat, aber seine Denkweise hat sich nach seiner Ankunft im Nordwesten stark verändert. Ich hatte gedacht, es läge am allmählichen Einfluss von Loulan und der Seidenstraße, aber das scheint nicht der Fall zu sein."

Ge Chen und Cao Chunhua blickten sich an, verstanden aber nicht, worauf er hinauswollte.

Chang Geng schien sich kurz von seiner Niedergeschlagenheit von vor ein paar Minuten zu erholen. „Was geschah, als er über den Pass an der nördlichen Grenze reiste?", murmelte er.

Gu Yun war der Typ, der, wenn der Himmel einstürzte, dessen Scherben wie eine Decke um sich wickelte. Wie konnte dieser große Marschall auf dem Weg zu seinem Einsatz so schwer erkranken, dass die Familie Chen aus Taiyuan alarmiert genug war, um einen der ihren zu schicken?

Ist er jenseits des Passes jemandem begegnet ... oder hat er etwas gelernt ...?

„Xiao-Cao", brach Chang Geng das Schweigen. „Kannst du einen Botengang für mich machen?"

Nachdem Cao Chunhua das Grafenanwesen diskret verlassen hatte, kam Chang Geng, wenn überhaupt, nur heimlich aus seinen Zimmern, tauchte in einem Moment auf und verschwand im nächsten.

Gu Yun verbrachte unterdessen seine Nächte damit, sich hin und her zu wälzen. Er hatte geplant, sich mit Chang Geng zu einem richtigen Gespräch zusammenzusetzen, aber er war fassungslos, als er feststellte, dass er ihn nicht erwischen konnte ‒ Chang Geng ging ihm absichtlich aus dem Weg! Da er nichts Besseres zu tun hatte, als sich in wilden Fantasien zu verlieren, beschloss er, die Einnahme seiner Medizin abzubrechen. Obwohl er weder sehen noch hören konnte, fühlte er sich erstaunlich ruhig.

Doch schon bald geriet der kaiserliche Hof wieder in Aufruhr.

Da war zunächst der Antrag des Longan-Kaisers, den Gold-Konsolidierungserlass wieder in Kraft zu setzen. Sobald diese Absicht bekannt gegeben wurde, legten die Ministerien für Arbeit und Finanzen gemeinsam Protest ein. Sogar aus dem Kriegsministerium, das von allen Widersachern gesäubert worden war und nun das gehorsamste Kind des Longan-Kaisers war, kamen ein paar Gegenstimmen. Doch wie eine Schildkröte, die ein stählernes Gewicht verschluckt hat, ließ sich Li Feng nicht beirren. Entschlossen, an seinem Kurs festzuhalten, erwiderte er bald das Feuer.

Am zweiten Tag des zweiten Monats erhob die Zensurbehörde Anklage gegen den stellvertretenden Finanzminister wegen des Verbrechens der Annahme von Bestechungsgeldern von ausländischen Mächten. In den darauf folgenden umfangreichen Ermittlungen wurde eine ganze Reihe unangenehmer Vorfälle aufgedeckt, an denen verschiedene Regionalbeamte beteiligt waren, die Schmiergelder angenommen und andere Vergehen begangen hatten. Der Fall entwickelte sich schnell zum größten Korruptionsfall in der Longan-Ära.

Der Bauminister war dem kaiserlichen Onkel Wang sehr ähnlich: Obwohl er der Nation und ihrem Volk dienen wollte, fehlte ihm der Mut, dies auch durchzusetzen, und er wich beim ersten Anzeichen von Gefahr zurück. Als er die Haltung des Kaisers sah, hielt er taktvoll den Mund, steckte den Kopf in den Sand und ging zurück an seine Arbeit, Häuser zu bauen. Er wagte es nicht, dem kaiserlichen Drachen zu trotzen oder den Zorn seines Herrschers zu provozieren, indem er den Gold-Konsolidierungserlass noch einmal erwähnte.

Am zehnten Tag des zweiten Monats, nachdem Gu Yun mehrere Wochen lang auf dem Grafenanwesen eingesperrt gewesen war, landete ein Schwarzer Falke leise im nördlichen Lager am Rande der Hauptstadt. Dort legte der Soldat seine Schwarze Falkenrüstung ab und zog sich Zivilkleidung an. Er betrat die Hauptstadt bei Nacht und schlich sich heimlich in das Grafenanwesen ein.

So hatte Gu Yun endlich die Gelegenheit, sich mit Chang Geng zu treffen, der ihn bisher wie die Pest gemieden hatte.

Als Chang Geng mit einer Schüssel medizinischer Suppe in seinem Zimmer ankam, herrschte zwischen ihnen ein tiefes und unangenehmes Schweigen. „Hier ist ein Schwarzer Falke, der dich sehen will", sagte Chang Geng tonlos.

Gu Yun nickte, nahm die Schale mit der Medizin und leerte sie aus. Chang Geng hatte bereits seine silbernen Nadeln vorbereitet. Nachdem er gesehen hatte, wie Gu Yun die Schale absetzte, breitete er die Utensilien vor ihm aus und fragte mit seinen Augen: Ist das in Ordnung?

Seine distanzierte Höflichkeit ließ Gu Yun erst recht ratlos zurück.

Chang Geng besaß nicht mehr die Dreistigkeit, Gu Yun zu bitten, sich über seine Beine zu legen. Er war wie ein fremder Arzt, der nur in Zeichensprache mit ihm sprach oder seine Gliedmaßen klinisch neu positionierte. Es war, als ob er Gu Yun gar nicht berühren wollte.

Gu Yun schloss die Augen und ließ die Medizin einwirken. Langsam kehrte sein Gehör zurück, und seine Umgebung schwoll allmählich mit Geräuschen an. Das leise Murmeln der Diener, die draußen den Schnee wegfegten, das Geräusch der Rüstungen und Waffen der Wachen des Anwesens, die aneinander rieben ... sogar das leise Rascheln von Chang Gengs Kleidung, wenn er sich hin und her bewegte ‒ all das drang in seine Ohren. Nach über zehn Tagen der Stille fühlte es sich für Gu Yun unglaublich ungewohnt an.

Trotz seines Unbehagens ergriff Gu Yun die Gelegenheit und sagte: „Chang Geng, können wir reden?"

Natürlich wusste Chang Geng, was er fragen wollte. Er gab keinen Laut von sich.

„Ist es, weil ..." Gu Yun begann zögernd: „Ich war an diesem Tag betrunken und etwas... äh ... mit dir ... gemacht habe ..."

Chang Gengs Hand zitterte leicht, und die Nadel, die er in der Hand hielt, schwebte mehrere Sekunden lang in der Luft.

Es war kaum nötig zu erwähnen, wie unangenehm sich Gu Yun angesichts des langen Schweigens von Chang Geng fühlte. Ganz gleich, welche Misshandlungen er von Li Feng erlitten hatte, er empfand weder Scham noch Reue und konnte mit gutem Gewissen vor Himmel und Erde treten. Aber bei Chang Geng konnte sich Gu Yun keinen Reim auf die Dinge machen. Er spürte, dass eine romantische Bindung zwischen zwei Menschen entstehen kann, so wie eine Hand nicht allein klatschen kann. Wenn er nicht von vornherein etwas Unrechtes getan hatte, wie konnte Chang Geng dann ...

„Nein", antwortete Chang Geng gelassen. „An jenem Tag war ich es, der sich zuerst mit Yifu vergnügte.“

Gu Yun wusste nicht, was er sagen sollte.

„Dafür gibt es keinen Grund." Chang Geng drückte sanft auf Gu Yuns Kopf, um ihn daran zu hindern, eine plötzliche Bewegung zu machen. Als er fortfuhr, war seine Stimme außerordentlich distanziert. „Wenn es um solche Dinge geht, welchen Grund kann es dann überhaupt geben? Wenn ich es sagen müsste, dann liegt es wahrscheinlich daran, dass ich ohne Mutter und Vater aufgewachsen bin, die sich um mich gekümmert haben. Außer Yifu hat mich niemand geliebt, und so habe ich mit der Zeit diese unangemessene Anhänglichkeit entwickelt. Du hast es nie bemerkt, und ich hatte auch nicht die Absicht, es jemandem gegenüber zu erwähnen. Aber an jenem Tag haben mich meine Gefühle für einen Moment überwältigt, und ich habe versehentlich eine Andeutung meiner Gefühle fallen lassen."

Gu Yun fühlte sich, als wäre ein Felsbrocken von der Größe eines Männerkopfes vom Himmel gefallen und hätte ihn in die Brust gebohrt. Eine Sekunde lang konnte er kaum atmen. Ursprünglich hatte er gedacht, dass Chang Gengs trauriger Zustand an diesem Tag nur ein Hauch von Lebensqi war, der in die falsche Richtung ging ‒ aber es stellte sich heraus, dass es tatsächlich ein Symptom einer chronischen Krankheit war, die schon seit Jahren gärte!

„Du musst dir das nicht zu Herzen nehmen, Yifu. Du kannst einfach so tun, als wäre nichts passiert", sagte Chang Geng gleichgültig.

Seine Hände, mit denen er die Nadeln setzte, waren ruhig. Hätte Chang Geng es nicht gerade selbst zugegeben, hätte Gu Yun sich vielleicht gefragt, ob er in seiner Schamlosigkeit vergessen hatte, sich seinem Alter entsprechend zu verhalten, und sich mit seinen schändlichen Anmaßungen selbst schmeichelte. Aber wie konnte er so tun, als sei nichts geschehen? Gu Yun war kurz davor, verrückt zu werden. Plötzlich fühlte er sich viel zu alt; zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass die Blume des Nordwestens nicht mehr im Frühling des Lebens stand. Er konnte nicht verstehen, was die jungen Leute heutzutage dachten!

„In letzter Zeit hat mich Seine Majestät gebeten, am Hof zu erscheinen. Chang Geng wechselte ziemlich steif das Thema. „Ich habe gehört, dass die Hofbeamten den ganzen Tag gestritten haben und dass es ihnen gelungen ist, einen großen Fall von Korruption aufzudecken. Ich kann mir die Absichten Seiner Majestät ziemlich gut vorstellen. Was gedenkt Yifu zu tun?"

Gu Yun schaute ihn mit einem ausdruckslosen Blick an. Er war nicht in der Stimmung, über Hofpolitik zu diskutieren.

Chang Geng seufzte leise, nahm Gu Yun das Glasmonokel aus der Hand und legte es beiseite. „Für dich bin ich zu allem bereit. Wenn du mich für einen Schandfleck hältst, werde ich mich nicht blicken lassen. Wenn du nur einen treuen und braven Patensohn willst, verspreche ich, diese Grenze niemals zu überschreiten. Yifu, ich schäme mich bereits so sehr, dass ich es nicht ertragen kann, mein Gesicht zu zeigen. Kannst du bitte aufhören, mich danach zu fragen?"

Gu Yuns Ablehnung war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Chang Geng begann, die silbernen Nadeln aus Gu Yuns Körper zu entfernen. „Was soll ich dann tun?", fragte er gleichmütig. Bevor Gu Yun antworten konnte, fügte er hinzu: „Alles ist gut."

Wenn Chang Geng wirklich so respektlos gewesen wäre, seine Wünsche zu missachten und ihn ständig belästigte, hätte Gu Yun wahrscheinlich schon längst die dreihundert Wachen des Grafenanwesens herbeigerufen und ihn zum Anwesen des Prinzen Yanbei abtransportieren lassen. Dann hätte er, wie ein scharfes Schwert, das ein verheddertes Seil durchschneidet, entschlossen gehandelt und Chang Geng etwa ein Jahr lang rücksichtslos ignoriert, bis sich alles wieder normalisiert hätte. Aber Chang Geng war gegangen und hatte diese Art von Gegenmaßnahme eingeleitet: ‘Selbst wenn du mich bis ans Ende der Welt verbannen würdest, würde ich es bereitwillig ertragen.‘

Gu Yuns Kopfschmerzen waren quälend. Er fühlte sich wie ein Hund, der versucht, in eine Schildkröte zu beißen ‒ er konnte seine Reißzähne nirgends vergraben. Nachdem er mehrmals versucht hatte, zu sprechen, fragte er schließlich: „Hast du dich von deinen inneren Verletzungen erholt?"

Chang Geng nickte und gab ein zustimmendes Brummen von sich, als ob er sich nicht traute, auch nur ein einziges fremdes Wort zu sagen.

„Was ist passiert?"

Chang Geng antwortete leichthin. „Nachdem ich mich so viele Jahre lang törichten Hoffnungen und wilden Fantasien hingegeben habe, bin ich versehentlich von einer Qi-Abweichung unterworfen worden."

Als Gu Yun dies hörte, fühlte er sich nur noch mehr verärgert.

Nachdem er seine Silbernadeln eingesammelt hatte, begab sich Chang Geng in eine Ecke des Raumes und zündete ein wenig beruhigenden Duft an. „Soll ich den Schwarzen Falkenbruder hereinbitten?", fragte er mit fader Miene.

„Eure Hoheit", rief Gu Yun ihm zu, nun feierlich. „Du bist ein edler Nachkomme der kaiserlichen Familie. In Zukunft wird dein Status vielleicht noch unschätzbarer werden. Andere behandeln dich wie eine unbezahlbare Perle oder kostbare Jade; dieser bescheidene Diener hofft, dass Eure Hoheit sich selbst ebenfalls mit Sorgfalt behandeln wird, unabhängig von Zeit und Ort. Sprich also bitte nicht so verächtlich von dir selbst."

Mit halb im Schatten verborgenem Gesicht antwortete Chang Geng völlig ungerührt: „Mm, du kannst beruhigt sein, mein Herr."

Er stand eine Weile da, als ob er auf weitere Anweisungen wartete. Als er sah, dass Gu Yun nichts mehr zu sagen hatte, drehte er sich um und ging ohne einen Laut.

Gu Yun lehnte sich schwer auf dem Bett zurück und stieß einen Seufzer aus. Ihm wäre es viel lieber, Chang Geng würde sich wie ein Kind verhalten, seine Erklärungen ignorieren und einen Riesenstreit anfangen. Er hatte bald gemerkt, dass dieser Bastard, sobald er mit seiner ‘Ich verlange nichts‘-Routine anfing, praktisch unbesiegbar wurde. Der überreizte Gu Yun ging ein paar Mal in seinem Zimmer auf und ab, bevor er beschloss, nie wieder von duftenden Schönheiten zu fantasieren, die sich um seine Bedürfnisse kümmerten, oder anderen solchen Unsinn. Genug war genug.

Schließlich klopfte der lang erwartete Schwarze Falke an die Tür und trat ein.

Dieser Schwarze Falke schien den ganzen Weg hierher geeilt zu sein. Obwohl er sich gewaschen hatte, war sein Gesicht noch immer hager, und sein Kiefer war mit Stoppeln übersät, die er nicht hatte rasieren können.

„Marschall." Der Schwarze Falke sank auf die Knie.

„Kein Grund für hohle Höflichkeiten." Gu Yun zwang sich, sich zu konzentrieren. „Was ist passiert? Hat He Ronghui Euch geschickt?"

„Ja, Marschall!"

„Gebt mir seinen Bericht."

Er entfaltete den Brief mit einer Handbewegung und überflog seinen Inhalt. Die Hühnerkratzer vom Schwarzen Falken-Kommandant He Ronghui waren hässlich, aber seine Worte waren kurz und bündig:

Ende letzten Monats gerieten Qiemo und Qiuci, zwei kleine Länder in den westlichen Regionen, wegen des Grenzhandels in Konflikt. Streitigkeiten zwischen den Ländern der westlichen Regionen wurden stets von den Ländern selbst beigelegt. Ein Eingreifen der dort stationierten Truppen von Groß-Liang wäre unangebracht gewesen, und so verfolgten sie die Situation zunächst nicht weiter. Diese beiden Nationen bildeten zusammen mit Loulan eine Triade von Macht und Einfluss in den westlichen Regionen, und so schickte der König von Loulan seinen jüngeren Bruder als Friedensgesandten, um den Konflikt zu schlichten. Die diplomatische Mission geriet jedoch an der Grenze zu Qiuci in einen Hinterhalt und wurde vollständig ausgelöscht.

Zunächst gab man Wüstenräubern die Schuld an der Ermordung des Gesandten. Doch als der König von Loulan eine Gruppe zur Untersuchung entsandte, entdeckte diese ein Schwert mit dem Emblem der königlichen Garde von Qiuci. Der König von Loulan verlangte von Qiuci sofort einen Bericht über die Geschehnisse. Die Qiuci leugneten jedoch nicht nur kategorisch jede Beteiligung an dem Angriff, sondern beschuldigten die Loulaner, mit Qiemo gemeinsame Sache zu machen, und demütigten den Gesandten der Loulaner weiter. Daraufhin entsandte Loulan seinen königlichen Prinzen mit dreitausend Mann leichter Kavallerie, um auf Qiuci vorzurücken und eine Erklärung zu verlangen. Zunächst verschlossen die Qiuci ihre Tore und weigerten sich, ihn zu empfangen. Als sie schließlich ihre Tore öffneten, kamen mehrere Hundert Sandtiger zum Vorschein.

Dieser sogenannte "Sandtiger" war eine Art Kriegswagen, der in der Wüste eingesetzt wurde. Er war extrem schwer, und die Kosten für das Violette Gold, das zu seinem Betrieb benötigt wurde, waren exorbitant hoch. Auch der Bau dieser Maschinen war äußerst kompliziert.

Gu Yun war auf solche Kriegswagen gestoßen, als er vor zehn Jahren den Aufstand in den westlichen Regionen niedergeschlagen hatte. Damals verfügte der Feind nur über drei riesige Sandtiger, die jedoch beinahe die Hälfte von Gu Yuns noch unausgereifter Schwarzer Rossdivision in ihre Gewalt gebracht hätten. Doch soweit er wusste, mussten die rebellierenden Nationen der westlichen Regionen alle ihre Ressourcen zusammenlegen, um auch nur drei Sandtiger aufzustellen.

Als er den Brief zu Ende gelesen hatte, erhob sich Gu Yun von seinem Platz.

Er runzelte die Stirn und kniff unwillkürlich in die Gebetsperlen an seinem Handgelenk. Diese Situation hatte eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der bewaffneten Rebellion im Südwesten. Mit gesenkter Stimme fragte er: „Das waren echte Sandtiger, keine hohlen Muscheln?"

Der Schwarze Falke war schnell bei der Sache und antwortete, ohne zu zögern. „Ja, Marschall, es waren echte Sandtiger. Die leichte Kavallerie von Loulan wurde in weniger Zeit besiegt, als man braucht, um eine Tasse Tee zu trinken. Der kleine Prinz wäre beinahe getötet worden; er überlebte nur, weil seine Soldaten ihr Leben für ihn riskierten. Noch am selben Tag schickte der König von Loulan einen Abgesandten zu unserer Garnison, der um Hilfe bat. Doch bevor wir auch nur das Wachssiegel seines Briefes brechen konnten, hatte sich die Nachricht bereits bei den anderen Völkern entlang der Seidenstraße herumgesprochen und versetzte alle in Alarmbereitschaft. Und nun haben die anderen Nationen der westlichen Regionen, Sindhu, die fernen Westler ‒ sie alle ‒ damit begonnen, ihre Streitkräfte in ihren jeweiligen Garnisonen zu sammeln. Generalprotektor Meng vom Protektorat des Nordwestens kam persönlich zu unserer Garnison und befahl uns, uns zurückzuziehen und auf einen Marschbefehl zu warten."

Gu Yun schlug seine Hand scharf auf den Tisch. „Absurd."

Der Schwarze Falke dachte, dass er sich auf den Marschbefehl bezog, und fügte hinzu: „General He von der Schwarzen Falkendivision sagte dasselbe; das Schwarze Eisenbataillon ist nicht an den Marschbefehl gebunden. Aber dieser Generalprotektor Meng sagte, seine Majestät habe den Grafen unter Hausarrest gestellt mit dem Befehl, über seine Verfehlungen nachzudenken, und den drei Divisionen befohlen, auf einen kaiserlichen Erlass zu warten."

 

 

 

Erklärungen:

Kultiviere dich selbst, und dein Haus wird verwaltet werden, verwalte dein Haus, und dein Staat wird regiert werden: Eine Zeile aus dem Buch der Riten.

Erge, 二哥, ist ein Wort, das ‘zweitältester Bruder‘ bedeutet.




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GLOSSAR und die Welt von Stars of Chaos

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