In dem Moment, in dem Gu Yun diese Worte sprach, spürte er, wie Chang Gengs Puls zu rasen begann. Bei diesem Tempo konnte man kaum noch von einem Puls sprechen. Die Haut, die Gu Yun in seiner Handfläche hielt, glühte, als ob sich unter der Oberfläche von Chang Gengs innerem Handgelenk ein unsichtbarer Vulkan befände, und die geringste Störung würde einen so heftigen Ausbruch verursachen, dass alle Meridiane in Chang Gengs Körper zu Asche verbrennen würden.
Gu Yun hatte das nicht erwartet ‒ obwohl er so taktvoll wie
möglich gesprochen hatte, reagierte Chang Geng immer noch so explosiv. Besorgt,
dass er eine Grenze überschritten hatte, berührte er mit seiner Hand leicht
Chang Gengs Brust. „Konzentriere dich. Reiß dich zusammen!"
Chang Geng riss Gu Yuns Hand weg und packte sie so fest,
dass Gu Yuns Knöchel knackten. Gu Yuns Auge zuckte leicht. Chang Gengs Teint
war so blass wie Räucherpapier, seine Augen blutrot. Unzählige Phantasmen
blitzten in seinem Blickfeld auf, und das Geschrei einer tausendköpfigen Armee
schien in seinen Ohren nachzuhallen wie eine große Eisenglocke. Die flackernden
Schatten von Dämonen quälten ihn; das Wu'ergu trank das Blut seines Herzens
durch seine packenden Wurzeln und schwoll mit Gebrüll zu monströser Größe an;
seine dichten Äste waren mit Dornen bedeckt und erstickten ihn mit
herzzerreißender Qual.
Und dort, jenseits des Wu'ergu, stand Gu Yun.
Die beiden hätten genauso gut durch gefährliche Berge und reißende
Flüsse getrennt sein können.
Gu Yun war zu Tode erschrocken. Seine Lippen bewegten sich
unmerklich, aber er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte.
Chang Geng nahm Gu Yuns Hand, die er fest zwischen seinen
eigenen Händen verschränkte, und hob sie an seine Brust. Mit einem gedämpften
Schluchzen schloss er die Augen und presste seine zitternden Lippen wie ein
Brandzeichen auf den Rücken von Gu Yuns eiskalter Hand. Trotz Gu Yuns
unbehaglichen Verdacht, damit hatte er nicht gerechnet. Als Chang Gengs
sengender Atem seinen Ärmel hinaufbrannte, begann Gu Yun, vor ängstlicher
Empörung zu strotzen. Fast wäre er damit herausgeplatzt: Bist du verrückt
geworden?
Ohne Vorwarnung schubste Chang Geng ihn weg. Er zog sich so
weit wie möglich in die kleine Kutsche zurück, rollte sich zusammen, senkte den
Kopf und spuckte einen Mundvoll purpurschwarzes Blut aus.
Gu Yun war wie betäubt und schwieg.
Alles war innerhalb eines Augenblicks geschehen. Bevor Gu
Yun die Gelegenheit hatte, aufzubrausen, wurde er von einem Schreck übermannt.
Fassungslos blieb er an Ort und Stelle stehen und würgte seine Worte so sehr
zurück, dass ihm die Kehle schmerzte.
Der Schmerz in Chang Gengs Augen wurde durch eine trostlose
Verzweiflung ersetzt. Doch nachdem er den Mund voll geronnenen Blutes
ausgespuckt hatte, schien sich sein Herz zu beruhigen, und sein Geist sammelte
langsam sein zerstreutes Bewusstsein wieder ein. Als Gu Yun die Hand
ausstreckte, um ihm aufzuhelfen, drehte er den Kopf und wich zurück. „Ich habe
Yifu beleidigt", murmelte er. „Ob du mich nun schlägst oder ausschimpfst
... hust, tu bitte, was du für richtig hältst."
Gu Yun holte scharf Luft. Unzählige Gefühle verknoteten
sich in seiner Brust und gipfelten in einer langen Abhandlung, die in einer
Sammlung von General Shen Jipings größten Zitaten nicht fehl am Platz gewesen
wäre. Dennoch wagte er nicht, auch nur ein Wort davon auszusprechen. Er fühlte
sich wie erstickt und dachte bei sich: Ich habe ihn noch nicht einmal
beschimpft, und schon spuckt er Blut. Wie zum Teufel soll ich jetzt noch etwas
sagen!
Er bückte sich, hob Chang Geng vom Boden auf und setzte ihn
auf das geräumige Sofa im Inneren des Wagens. Er schob den Wirbelwind
verwirrter Gedanken beiseite und sagte scharf: „Halt den Mund. Reguliere deine
Atmung und kümmere dich zuerst um deine inneren Verletzungen."
Chang Geng schloss gehorsam die Augen und verstummte. Gu
Yun beobachtete ihn eine Weile und wandte sich dann ab, um den Wagen zu
durchwühlen. Bei seiner Durchsuchung fand er keinen einzigen Tropfen Wein, und
so blieb ihm nichts anderes übrig, als das wärmende Tonikum, das auf dem
kleinen Herd stand, in die Hand zu nehmen, und zurückzuschütten, denn der
frische Ingwer in dem Sud war so stark, dass ihm das Gehirn wehtat. Er hatte
gedacht, dass Chang Geng vielleicht nur ein wenig verwirrt war ‒ dass er
vielleicht von den schändlichen Dingen, die Gu Yun in betrunkenem Zustand getan
hatte, beeinflusst worden war und einige unangemessene Vorstellungen entwickelte.
Er hatte gedacht, dass er ihm angesichts der außergewöhnlichen Intelligenz des
Jungen nur einen kleinen Schubs geben müsste und er zur Vernunft käme. Er hätte
nie erwartet, dass Chang Geng, noch bevor er mit dem Anstupsen beginnen konnte,
beim ersten Versuch alles ausspucken würde!
Wie konnte das nur passieren?
Gu Yun blickte mürrisch zu Chang Geng, der gerade mit fest
geschlossenen Augen seine Atmung regulierte. Er nahm einen Platz an der Seite
ein und begann, mit einem klaren Verstand, sich ernsthaft zu sorgen. Die Alten
sagten: ‘Kultiviere dich selbst, und dein Haus wird
verwaltet werden, verwalte dein Haus, und dein Staat wird regiert werden.‘
Gu Yun fragte sich, ob es daran lag, dass er sich nicht richtig kultiviert
hatte, dass sowohl sein Haus als auch sein Staat in Aufruhr waren. Er fühlte
sich zerschlagen und zerschunden, bis zum Äußersten aufgeregt.
Das Grafenanwesen war nur wenige Schritte vom kaiserlichen
Palast entfernt. Selbst wenn die Kutsche von Schildkröten gezogen werden würde,
wäre es eine schnelle Reise gewesen.
In dem Moment, in dem Gu Yun aus der Kutsche stieg, wurde
er von einem Holzvogel begrüßt. Er landete zielsicher auf seiner Schulter,
neigte den Kopf und starrte ihn mit lebendigem Blick an. Ohne Vorwarnung griff
eine Hand hinter Gu Yun ‒ Chang Geng war irgendwann leise aus der Kutsche
gestiegen ‒ nach dem Vogel und fing ihn auf.
Sein Gesichtsausdruck war nicht weniger grässlich als
zuvor, aber er schien etwas von seiner gewohnten Gelassenheit zurückgewonnen zu
haben. Chang Geng hielt den Holzvogel in der Hand, öffnete ihn aber nicht
sofort, um den Absender zu überprüfen. Während sich der alte Haushälter um die
Pferdekutsche kümmerte, trat Chang Geng neben Gu Yun. „Wenn Yifu sich unwohl
fühlt, werde ich ausziehen", sagte er leise. „Ich werde nie wieder deine
Augen mit meiner Anwesenheit beleidigen und auch nicht die Grenzen des Anstands
überschreiten."
Jetzt, da das blutige Glitzern aus seinen Augen
verschwunden war, war Chang Gengs Gesichtsausdruck kalt und trostlos, und als
er seinen Blick senkte, war sein Verhalten von resignierter Wachsamkeit
geprägt. Gu Yun stand einige Sekunden lang wie betäubt da. Als er feststellte,
dass er nichts zu sagen hatte, machte er auf dem Absatz kehrt und ging ohne ein
Wort.
Ge Chen und Cao Chunhua hatten von den Ereignissen der
vergangenen Nacht erfahren, als sie am frühen Morgen aufgewacht waren, und
warteten schon lange am Eingangstor. Bevor sie die beiden begrüßen konnten,
rauschte ein grimmig dreinblickender Gu Yun an ihnen vorbei, ohne sie auch nur
zu grüßen. Chang Geng beobachtete seine verschwindende Gestalt. An seinem
Mundwinkel klebte etwas, das wie Blut aussah, und sein Teint war irgendwie noch
blasser als der von Gu Yun, der die ganze Nacht kniend im Schnee verbracht
hatte.
„Dage, was ist passiert?", fragte Ge Chen verblüfft.
Chang Geng schüttelte nur den Kopf. Erst als Gu Yuns
Gestalt völlig verschwunden war, riss er seinen Blick endgültig los. Er wandte
sich dem kleinen Holzvogel in seiner Hand zu, öffnete seinen Bauch und entnahm
ihm einen Zettel mit einer Nachricht.
Zu Beginn des ersten Jahres der Herrschaft des
jetzigen Kaisers, als Marschall Gu den Kronprinzen der Nördlichen Barbaren über
den Pass begleitete, erkrankte er schwer. Mein Erge verließ
die Präfektur Taiyuan und eilte eigens herbei, um einen Monat später zurückzukehren.
Der Brief war mit Chen unterzeichnet.
Die hölzernen Flügel des Vogels wiesen deutliche
Abnutzungserscheinungen auf ‒ wer wusste schon, wie weit er mit diesem Brief
geflogen war.
Die Nachricht von Chen Qingxu hatte weder ein Anfang noch ein
Ende; sie war völlig unverständlich. Als er sie zu Ende gelesen hatte, blitzten
die Augen von Chang Geng leicht auf. Er klopfte dem Holzvogel auf den
Hinterkopf, woraufhin dieser seinen eisernen Schnabel öffnete und einen
winzigen Funken ausstieß, der den Zettel im Handumdrehen zu Asche verbrannte.
„Dage", begann Cao Chunhua vorsichtig, „in letzter
Zeit habe ich Holzvögel bemerkt, die rund um die Uhr auf das Grafenanwesen ein-
und ausgehen. Untersuchst du etwas?"
„Ein alter Fall", sagte Chang Geng leise. „Ich hatte
immer das Gefühl, dass sich sein Wesen zwar nicht verändert hat, aber seine
Denkweise hat sich nach seiner Ankunft im Nordwesten stark verändert. Ich hatte
gedacht, es läge am allmählichen Einfluss von Loulan und der Seidenstraße, aber
das scheint nicht der Fall zu sein."
Ge Chen und Cao Chunhua blickten sich an, verstanden aber
nicht, worauf er hinauswollte.
Chang Geng schien sich kurz von seiner Niedergeschlagenheit
von vor ein paar Minuten zu erholen. „Was geschah, als er über den Pass an der nördlichen
Grenze reiste?", murmelte er.
Gu Yun war der Typ, der, wenn der Himmel einstürzte, dessen
Scherben wie eine Decke um sich wickelte. Wie konnte dieser große Marschall auf
dem Weg zu seinem Einsatz so schwer erkranken, dass die Familie Chen aus
Taiyuan alarmiert genug war, um einen der ihren zu schicken?
Ist er jenseits des Passes jemandem begegnet ... oder hat
er etwas gelernt ...?
„Xiao-Cao", brach Chang Geng das Schweigen. „Kannst du
einen Botengang für mich machen?"
Nachdem Cao Chunhua das Grafenanwesen diskret verlassen
hatte, kam Chang Geng, wenn überhaupt, nur heimlich aus seinen Zimmern, tauchte
in einem Moment auf und verschwand im nächsten.
Gu Yun verbrachte unterdessen seine Nächte damit, sich hin
und her zu wälzen. Er hatte geplant, sich mit Chang Geng zu einem richtigen
Gespräch zusammenzusetzen, aber er war fassungslos, als er feststellte, dass er
ihn nicht erwischen konnte ‒ Chang Geng ging ihm absichtlich aus dem Weg! Da er
nichts Besseres zu tun hatte, als sich in wilden Fantasien zu verlieren,
beschloss er, die Einnahme seiner Medizin abzubrechen. Obwohl er weder sehen
noch hören konnte, fühlte er sich erstaunlich ruhig.
Doch schon bald geriet der kaiserliche Hof wieder in
Aufruhr.
Da war zunächst der Antrag des Longan-Kaisers, den
Gold-Konsolidierungserlass wieder in Kraft zu setzen. Sobald diese Absicht
bekannt gegeben wurde, legten die Ministerien für Arbeit und Finanzen gemeinsam
Protest ein. Sogar aus dem Kriegsministerium, das von allen Widersachern
gesäubert worden war und nun das gehorsamste Kind des Longan-Kaisers war, kamen
ein paar Gegenstimmen. Doch wie eine Schildkröte, die ein stählernes Gewicht
verschluckt hat, ließ sich Li Feng nicht beirren. Entschlossen, an seinem Kurs
festzuhalten, erwiderte er bald das Feuer.
Am zweiten Tag des zweiten Monats erhob die Zensurbehörde
Anklage gegen den stellvertretenden Finanzminister wegen des Verbrechens der
Annahme von Bestechungsgeldern von ausländischen Mächten. In den darauf
folgenden umfangreichen Ermittlungen wurde eine ganze Reihe unangenehmer
Vorfälle aufgedeckt, an denen verschiedene Regionalbeamte beteiligt waren, die
Schmiergelder angenommen und andere Vergehen begangen hatten. Der Fall
entwickelte sich schnell zum größten Korruptionsfall in der Longan-Ära.
Der Bauminister war dem kaiserlichen Onkel Wang sehr
ähnlich: Obwohl er der Nation und ihrem Volk dienen wollte, fehlte ihm der Mut,
dies auch durchzusetzen, und er wich beim ersten Anzeichen von Gefahr zurück.
Als er die Haltung des Kaisers sah, hielt er taktvoll den Mund, steckte den
Kopf in den Sand und ging zurück an seine Arbeit, Häuser zu bauen. Er wagte es
nicht, dem kaiserlichen Drachen zu trotzen oder den Zorn seines Herrschers zu
provozieren, indem er den Gold-Konsolidierungserlass noch einmal erwähnte.
Am zehnten Tag des zweiten Monats, nachdem Gu Yun mehrere
Wochen lang auf dem Grafenanwesen eingesperrt gewesen war, landete ein Schwarzer
Falke leise im nördlichen Lager am Rande der Hauptstadt. Dort legte der Soldat
seine Schwarze Falkenrüstung ab und zog sich Zivilkleidung an. Er betrat die
Hauptstadt bei Nacht und schlich sich heimlich in das Grafenanwesen ein.
So hatte Gu Yun endlich die Gelegenheit, sich mit Chang
Geng zu treffen, der ihn bisher wie die Pest gemieden hatte.
Als Chang Geng mit einer Schüssel medizinischer Suppe in
seinem Zimmer ankam, herrschte zwischen ihnen ein tiefes und unangenehmes
Schweigen. „Hier ist ein Schwarzer Falke, der dich sehen will", sagte
Chang Geng tonlos.
Gu Yun nickte, nahm die Schale mit der Medizin und leerte
sie aus. Chang Geng hatte bereits seine silbernen Nadeln vorbereitet. Nachdem
er gesehen hatte, wie Gu Yun die Schale absetzte, breitete er die Utensilien
vor ihm aus und fragte mit seinen Augen: Ist das in Ordnung?
Seine distanzierte Höflichkeit ließ Gu Yun erst recht
ratlos zurück.
Chang Geng besaß nicht mehr die Dreistigkeit, Gu Yun zu
bitten, sich über seine Beine zu legen. Er war wie ein fremder Arzt, der nur in
Zeichensprache mit ihm sprach oder seine Gliedmaßen klinisch neu positionierte.
Es war, als ob er Gu Yun gar nicht berühren wollte.
Gu Yun schloss die Augen und ließ die Medizin einwirken.
Langsam kehrte sein Gehör zurück, und seine Umgebung schwoll allmählich mit
Geräuschen an. Das leise Murmeln der Diener, die draußen den Schnee wegfegten,
das Geräusch der Rüstungen und Waffen der Wachen des Anwesens, die aneinander rieben
... sogar das leise Rascheln von Chang Gengs Kleidung, wenn er sich hin und her
bewegte ‒ all das drang in seine Ohren. Nach über zehn Tagen der Stille fühlte es
sich für Gu Yun unglaublich ungewohnt an.
Trotz seines Unbehagens ergriff Gu Yun die Gelegenheit und
sagte: „Chang Geng, können wir reden?"
Natürlich wusste Chang Geng, was er fragen wollte. Er gab
keinen Laut von sich.
„Ist es, weil ..." Gu Yun begann zögernd: „Ich war an
diesem Tag betrunken und etwas... äh ... mit dir ... gemacht habe ..."
Chang Gengs Hand zitterte leicht, und die Nadel, die er in
der Hand hielt, schwebte mehrere Sekunden lang in der Luft.
Es war kaum nötig zu erwähnen, wie unangenehm sich Gu Yun
angesichts des langen Schweigens von Chang Geng fühlte. Ganz gleich, welche
Misshandlungen er von Li Feng erlitten hatte, er empfand weder Scham noch Reue
und konnte mit gutem Gewissen vor Himmel und Erde treten. Aber bei Chang Geng
konnte sich Gu Yun keinen Reim auf die Dinge machen. Er spürte, dass eine
romantische Bindung zwischen zwei Menschen entstehen kann, so wie eine Hand
nicht allein klatschen kann. Wenn er nicht von vornherein etwas Unrechtes getan
hatte, wie konnte Chang Geng dann ...
„Nein", antwortete Chang Geng gelassen. „An jenem Tag
war ich es, der sich zuerst mit Yifu vergnügte.“
Gu Yun wusste nicht, was er sagen sollte.
„Dafür gibt es keinen Grund." Chang Geng drückte sanft
auf Gu Yuns Kopf, um ihn daran zu hindern, eine plötzliche Bewegung zu machen.
Als er fortfuhr, war seine Stimme außerordentlich distanziert. „Wenn es um
solche Dinge geht, welchen Grund kann es dann überhaupt geben? Wenn ich es
sagen müsste, dann liegt es wahrscheinlich daran, dass ich ohne Mutter und
Vater aufgewachsen bin, die sich um mich gekümmert haben. Außer Yifu hat mich
niemand geliebt, und so habe ich mit der Zeit diese unangemessene Anhänglichkeit
entwickelt. Du hast es nie bemerkt, und ich hatte auch nicht die Absicht, es
jemandem gegenüber zu erwähnen. Aber an jenem Tag haben mich meine Gefühle für
einen Moment überwältigt, und ich habe versehentlich eine Andeutung meiner
Gefühle fallen lassen."
Gu Yun fühlte sich, als wäre ein Felsbrocken von der Größe
eines Männerkopfes vom Himmel gefallen und hätte ihn in die Brust gebohrt. Eine
Sekunde lang konnte er kaum atmen. Ursprünglich hatte er gedacht, dass Chang
Gengs trauriger Zustand an diesem Tag nur ein Hauch von Lebensqi war, der in
die falsche Richtung ging ‒ aber es stellte sich heraus, dass es tatsächlich
ein Symptom einer chronischen Krankheit war, die schon seit Jahren gärte!
„Du musst dir das nicht zu Herzen nehmen, Yifu. Du kannst
einfach so tun, als wäre nichts passiert", sagte Chang Geng gleichgültig.
Seine Hände, mit denen er die Nadeln setzte, waren ruhig.
Hätte Chang Geng es nicht gerade selbst zugegeben, hätte Gu Yun sich vielleicht
gefragt, ob er in seiner Schamlosigkeit vergessen hatte, sich seinem Alter
entsprechend zu verhalten, und sich mit seinen schändlichen Anmaßungen selbst
schmeichelte. Aber wie konnte er so tun, als sei nichts geschehen? Gu Yun war
kurz davor, verrückt zu werden. Plötzlich fühlte er sich viel zu alt; zum
ersten Mal wurde ihm bewusst, dass die Blume des Nordwestens nicht mehr im
Frühling des Lebens stand. Er konnte nicht verstehen, was die jungen Leute
heutzutage dachten!
„In letzter Zeit hat mich Seine Majestät gebeten, am Hof zu
erscheinen. Chang Geng wechselte ziemlich steif das Thema. „Ich habe gehört,
dass die Hofbeamten den ganzen Tag gestritten haben und dass es ihnen gelungen
ist, einen großen Fall von Korruption aufzudecken. Ich kann mir die Absichten
Seiner Majestät ziemlich gut vorstellen. Was gedenkt Yifu zu tun?"
Gu Yun schaute ihn mit einem ausdruckslosen Blick an. Er
war nicht in der Stimmung, über Hofpolitik zu diskutieren.
Chang Geng seufzte leise, nahm Gu Yun das Glasmonokel aus
der Hand und legte es beiseite. „Für dich bin ich zu allem bereit. Wenn du mich
für einen Schandfleck hältst, werde ich mich nicht blicken lassen. Wenn du nur
einen treuen und braven Patensohn willst, verspreche ich, diese Grenze niemals
zu überschreiten. Yifu, ich schäme mich bereits so sehr, dass ich es nicht
ertragen kann, mein Gesicht zu zeigen. Kannst du bitte aufhören, mich danach zu
fragen?"
Gu Yuns Ablehnung war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
Chang Geng begann, die silbernen Nadeln aus Gu Yuns Körper
zu entfernen. „Was soll ich dann tun?", fragte er gleichmütig. Bevor Gu
Yun antworten konnte, fügte er hinzu: „Alles ist gut."
Wenn Chang Geng wirklich so respektlos gewesen wäre, seine
Wünsche zu missachten und ihn ständig belästigte, hätte Gu Yun wahrscheinlich
schon längst die dreihundert Wachen des Grafenanwesens herbeigerufen und ihn
zum Anwesen des Prinzen Yanbei abtransportieren lassen. Dann hätte er, wie ein
scharfes Schwert, das ein verheddertes Seil durchschneidet, entschlossen
gehandelt und Chang Geng etwa ein Jahr lang rücksichtslos ignoriert, bis sich
alles wieder normalisiert hätte. Aber Chang Geng war gegangen und hatte diese
Art von Gegenmaßnahme eingeleitet: ‘Selbst wenn du mich bis ans Ende der Welt
verbannen würdest, würde ich es bereitwillig ertragen.‘
Gu Yuns Kopfschmerzen waren quälend. Er fühlte sich wie ein
Hund, der versucht, in eine Schildkröte zu beißen ‒ er konnte seine Reißzähne
nirgends vergraben. Nachdem er mehrmals versucht hatte, zu sprechen, fragte er
schließlich: „Hast du dich von deinen inneren Verletzungen erholt?"
Chang Geng nickte und gab ein zustimmendes Brummen von
sich, als ob er sich nicht traute, auch nur ein einziges fremdes Wort zu sagen.
„Was ist passiert?"
Chang Geng antwortete leichthin. „Nachdem ich mich so viele
Jahre lang törichten Hoffnungen und wilden Fantasien hingegeben habe, bin ich
versehentlich von einer Qi-Abweichung unterworfen worden."
Als Gu Yun dies hörte, fühlte er sich nur noch mehr
verärgert.
Nachdem er seine Silbernadeln eingesammelt hatte, begab
sich Chang Geng in eine Ecke des Raumes und zündete ein wenig beruhigenden Duft
an. „Soll ich den Schwarzen Falkenbruder hereinbitten?", fragte er mit
fader Miene.
„Eure Hoheit", rief Gu Yun ihm zu, nun feierlich. „Du
bist ein edler Nachkomme der kaiserlichen Familie. In Zukunft wird dein Status
vielleicht noch unschätzbarer werden. Andere behandeln dich wie eine
unbezahlbare Perle oder kostbare Jade; dieser bescheidene Diener hofft, dass
Eure Hoheit sich selbst ebenfalls mit Sorgfalt behandeln wird, unabhängig von
Zeit und Ort. Sprich also bitte nicht so verächtlich von dir selbst."
Mit halb im Schatten verborgenem Gesicht antwortete Chang
Geng völlig ungerührt: „Mm, du kannst beruhigt sein, mein Herr."
Er stand eine Weile da, als ob er auf weitere Anweisungen
wartete. Als er sah, dass Gu Yun nichts mehr zu sagen hatte, drehte er sich um
und ging ohne einen Laut.
Gu Yun lehnte sich schwer auf dem Bett zurück und stieß
einen Seufzer aus. Ihm wäre es viel lieber, Chang Geng würde sich wie ein Kind
verhalten, seine Erklärungen ignorieren und einen Riesenstreit anfangen. Er
hatte bald gemerkt, dass dieser Bastard, sobald er mit seiner ‘Ich verlange
nichts‘-Routine anfing, praktisch unbesiegbar wurde. Der überreizte Gu Yun ging
ein paar Mal in seinem Zimmer auf und ab, bevor er beschloss, nie wieder von
duftenden Schönheiten zu fantasieren, die sich um seine Bedürfnisse kümmerten,
oder anderen solchen Unsinn. Genug war genug.
Schließlich klopfte der lang erwartete Schwarze Falke an
die Tür und trat ein.
Dieser Schwarze Falke schien den ganzen Weg hierher geeilt
zu sein. Obwohl er sich gewaschen hatte, war sein Gesicht noch immer hager, und
sein Kiefer war mit Stoppeln übersät, die er nicht hatte rasieren können.
„Marschall." Der Schwarze Falke sank auf die Knie.
„Kein Grund für hohle Höflichkeiten." Gu Yun zwang
sich, sich zu konzentrieren. „Was ist passiert? Hat He Ronghui Euch geschickt?"
„Ja, Marschall!"
„Gebt mir seinen Bericht."
Er entfaltete den Brief mit einer Handbewegung und überflog
seinen Inhalt. Die Hühnerkratzer vom Schwarzen Falken-Kommandant He Ronghui waren
hässlich, aber seine Worte waren kurz und bündig:
Ende letzten Monats gerieten Qiemo und Qiuci, zwei kleine
Länder in den westlichen Regionen, wegen des Grenzhandels in Konflikt.
Streitigkeiten zwischen den Ländern der westlichen Regionen wurden stets von
den Ländern selbst beigelegt. Ein Eingreifen der dort stationierten Truppen von
Groß-Liang wäre unangebracht gewesen, und so verfolgten sie die Situation
zunächst nicht weiter. Diese beiden Nationen bildeten zusammen mit Loulan eine
Triade von Macht und Einfluss in den westlichen Regionen, und so schickte der
König von Loulan seinen jüngeren Bruder als Friedensgesandten, um den Konflikt
zu schlichten. Die diplomatische Mission geriet jedoch an der Grenze zu Qiuci
in einen Hinterhalt und wurde vollständig ausgelöscht.
Zunächst gab man Wüstenräubern die Schuld an der Ermordung
des Gesandten. Doch als der König von Loulan eine Gruppe zur Untersuchung
entsandte, entdeckte diese ein Schwert mit dem Emblem der königlichen Garde von
Qiuci. Der König von Loulan verlangte von Qiuci sofort einen Bericht über die
Geschehnisse. Die Qiuci leugneten jedoch nicht nur kategorisch jede Beteiligung
an dem Angriff, sondern beschuldigten die Loulaner, mit Qiemo gemeinsame Sache
zu machen, und demütigten den Gesandten der Loulaner weiter. Daraufhin
entsandte Loulan seinen königlichen Prinzen mit dreitausend Mann leichter
Kavallerie, um auf Qiuci vorzurücken und eine Erklärung zu verlangen. Zunächst
verschlossen die Qiuci ihre Tore und weigerten sich, ihn zu empfangen. Als sie
schließlich ihre Tore öffneten, kamen mehrere Hundert Sandtiger zum Vorschein.
Dieser sogenannte "Sandtiger" war eine Art Kriegswagen,
der in der Wüste eingesetzt wurde. Er war extrem schwer, und die Kosten für das
Violette Gold, das zu seinem Betrieb benötigt wurde, waren exorbitant hoch.
Auch der Bau dieser Maschinen war äußerst kompliziert.
Gu Yun war auf solche Kriegswagen gestoßen, als er vor zehn
Jahren den Aufstand in den westlichen Regionen niedergeschlagen hatte. Damals
verfügte der Feind nur über drei riesige Sandtiger, die jedoch beinahe die
Hälfte von Gu Yuns noch unausgereifter Schwarzer Rossdivision in ihre Gewalt
gebracht hätten. Doch soweit er wusste, mussten die rebellierenden Nationen der
westlichen Regionen alle ihre Ressourcen zusammenlegen, um auch nur drei
Sandtiger aufzustellen.
Als er den Brief zu Ende gelesen hatte, erhob sich Gu Yun
von seinem Platz.
Er runzelte die Stirn und kniff unwillkürlich in die
Gebetsperlen an seinem Handgelenk. Diese Situation hatte eine bemerkenswerte
Ähnlichkeit mit der bewaffneten Rebellion im Südwesten. Mit gesenkter Stimme
fragte er: „Das waren echte Sandtiger, keine hohlen Muscheln?"
Der Schwarze Falke war schnell bei der Sache und antwortete,
ohne zu zögern. „Ja, Marschall, es waren echte Sandtiger. Die leichte
Kavallerie von Loulan wurde in weniger Zeit besiegt, als man braucht, um eine
Tasse Tee zu trinken. Der kleine Prinz wäre beinahe getötet worden; er
überlebte nur, weil seine Soldaten ihr Leben für ihn riskierten. Noch am selben
Tag schickte der König von Loulan einen Abgesandten zu unserer Garnison, der um
Hilfe bat. Doch bevor wir auch nur das Wachssiegel seines Briefes brechen
konnten, hatte sich die Nachricht bereits bei den anderen Völkern entlang der
Seidenstraße herumgesprochen und versetzte alle in Alarmbereitschaft. Und nun
haben die anderen Nationen der westlichen Regionen, Sindhu, die fernen Westler ‒
sie alle ‒ damit begonnen, ihre Streitkräfte in ihren jeweiligen Garnisonen zu
sammeln. Generalprotektor Meng vom Protektorat des Nordwestens kam persönlich
zu unserer Garnison und befahl uns, uns zurückzuziehen und auf einen
Marschbefehl zu warten."
Gu Yun schlug seine Hand scharf auf den Tisch. „Absurd."
Der Schwarze Falke dachte, dass er sich auf den
Marschbefehl bezog, und fügte hinzu: „General He von der Schwarzen Falkendivision
sagte dasselbe; das Schwarze Eisenbataillon ist nicht an den Marschbefehl
gebunden. Aber dieser Generalprotektor Meng sagte, seine Majestät habe den
Grafen unter Hausarrest gestellt mit dem Befehl, über seine Verfehlungen
nachzudenken, und den drei Divisionen befohlen, auf einen kaiserlichen Erlass
zu warten."
Erklärungen:
Kultiviere dich selbst, und dein Haus wird
verwaltet werden, verwalte dein Haus, und dein Staat wird regiert werden: Eine
Zeile aus dem Buch der Riten.
Erge, 二哥, ist ein Wort, das ‘zweitältester Bruder‘ bedeutet.
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