Kapitel 52 ~ Grenzenlos

Gu Yuns Gedanken rasten. Alles geschah viel schneller ‒ und weitaus chaotischer ‒ als er es sich vorgestellt hatte.

Die westlichen Regionen waren ein kleiner Teich voller großer Fische. Winzige Nation lagen wie Schafskot in der Gegend herum - ein Haufen hier, ein Haufen dort ‒ und jeden zweiten Tag gab es neue Spannungen zwischen ihnen. Jeder wollte den anderen annektieren. Aber da das Schwarze Eisenbataillon in den letzten Jahren am Eingang zur Seidenstraße Wache hielt, hatte schon lange niemand mehr Ärger gemacht. Selbst wenn sie alles verkauften, was sie besaßen, konnte sich ein lausiges kleines Land wie Qiuci keine hundert Sandtiger leisten. Derjenige, der für diese unwahrscheinliche Entwicklung verantwortlich war, war ein weitaus skrupelloserer und furchterregenderer Feind ‒ so viel war klar.

Die Frage war nicht, ob eine Macht hinter dem Königreich Qiuci stand, sondern was war das Ziel dieser Macht?

Gu Yun bezweifelte, dass dieser Plan jemandem am kaiserlichen Hof in die Schuhe geschoben werden konnte. Li Feng war ein zu großer Kontrollfreak. Er zog es vor, bewährte Methoden anzuwenden, die es ihm erlaubten, das Sagen zu haben ‒ auf keinen Fall würde er sich in so kurzer Zeit auf eine so überstürzte Operation einlassen, vor allem nicht, ohne alle notwendigen Vorkehrungen getroffen zu haben. Wahrscheinlich war auch Li Feng von dieser Situation überrascht worden. Einerseits hatte der Kaiser keine Ahnung, was im Nordwesten vor sich ging, andererseits befürchtete er, dass das Schwarze Eisenbataillon unbefugt handeln und den Hof in Aufruhr versetzen würde. Um sie zurückzuhalten, nutzte er Gu Yuns entzogenes Befehlssiegel und weigerte sich, einen Marschbefehl zu erlassen.

„Wie stark ist die Garnison jedes Landes?", fragte Gu Yun.

„Das diplomatische Korps des fernen Westens hat zwei- bis dreitausend Mann in seinem Lager. Die Sindhu-Streitkräfte sind etwas kleiner, sie haben nur etwa tausend Soldaten, die ihre Verteidigung aufbauen. Der Rest kommt aus verschiedenen Nationen der westlichen Regionen."

„Das ist unmöglich." Gu Yun biss sich auf die Zunge und schluckte die Worte sieh nochmal nach wieder hinunter in seine Kehle. Er erinnerte sich daran, dass er derzeit nicht im Einsatz war ‒ er saß in dieser Hauptstadt von der Größe eines Gullys fest, viel zu weit weg, um helfen zu können.

„Wenn der Feind wirklich über hundert Sandtiger entfesselt hat, sind sie entschlossen, diesen Krieg zu gewinnen. Sie sollten Zehntausende von Elitetruppen haben, die für eine zweite Angriffswelle bereitstehen ‒ wenn nicht, ist dieser Eröffnungszug nur eine Verschwendung von Violettem Gold. Auch wenn sie zahlenmäßig unterlegen zu sein scheinen, heißt das nicht, dass sie nicht noch mehr Truppen im Verborgenen haben." Gu Yun schloss kurz die Augen, seine Finger klopften leicht auf den Tisch. „Ein einziger Trupp von Infanteristen mit Schweren Rüstung würde ausreichen, um mit Loulans nutzloser Kavallerie fertig zu werden. Es ist unmöglich, dass sie eine Armee von Zehntausenden versammeln und so viele Sandtiger an unsere Grenze treiben, nur um einen belanglosen Streit zwischen den Nationen der westlichen Regionen zu beenden."

Verblüfft stammelte der Schwarze Falke: „In ... in diesem Fall wird dieser Untergebene sofort zurückeilen ..."

„Nicht nötig." Gu Yun unterbrach ihn. „Außerdem würdet Ihr es nicht rechtzeitig schaffen."

Der Schwarze Falke war mit Höchstgeschwindigkeit von der Seidenstraße in die Hauptstadt zurückgeschossen, aber trotz seines unglaublichen Tempos hatte er für die Strecke fast zwei Tage gebraucht. Der Luftraum über der Hauptstadt war eine Flugverbotszone, so dass er zunächst im nördlichen Lager landen musste, und obwohl er noch in derselben Nacht die Hauptstadt betrat, war es bereits der dritte Tag, als er Gu Yun traf. Wenn er mit Gu Yuns Anweisungen an die Front zurückkehrte, würden die Befehle mit einer Verspätung von fünf bis sechs Tagen eintreffen, selbst wenn er sich auf dieser Rundreise zu Tode rannte.

Das Schlachtfeld konnte sich innerhalb eines Wimpernschlags verändern. Fünf oder sechs Tage waren genug Zeit, um eine Nation zu Fall zu bringen. Gu Yun knirschte mit den Zähnen. Ausgerechnet jetzt wurde er in der Hauptstadt aufgehalten!

„Ruht Euch erst einmal aus“, sagte Gu Yun mit leiser Stimme. „Lasst mich nachdenken."

Der Schwarze Falke wagte es nicht, ein weiteres Wort zu sagen, und ging, nachdem er entlassen worden war.

Gu Yun wärmte sich eine Kanne Wein auf und drehte dann ein paar Runden durch den Raum. Nach ein paar Schritten hatte er sich beruhigt und die wichtigsten Aspekte der Situation geordnet. Vielleicht ist das Schlimmste noch nicht eingetreten, dachte er.

Er war festgenommen worden und Shen Yi war gegangen, wurden die im Nordwesten stationierten Truppen des Schwarzen Eisenbataillons derzeit von He Ronghui, der Kommandeur der Schwarzen Falken, angeführt. Gu Yun kannte das Temperament seines Untergebenen. He Ronghui war eine notorische Nervensäge ‒ er hörte auf Gu Yun, aber was jeden anderen betraf, konnte ihn nicht einmal Shen Yi zähmen. Auf keinen Fall würde er das Protektorat des Nordwestens ernst nehmen. Wenn Generalprotektor Meng Pengfei versuchte, mit einem Marschbefehl sein Gewicht in die Waagschale zu werfen, wäre He Ronghui der Erste, der rebellierte. Und wenn er das täte, wäre Generalprotektor Meng wahrscheinlich das erste Problem, um das er sich kümmern würde.

Und was dann?

Es klopfte an der Tür. Gu Yun riss sie auf und wurde von Chang Geng begrüßt, der draußen stand.

Gu Yun klammerte sich an den Türpfosten. Er warf einen Blick auf Chang Geng, und sein Herz, das sich gerade erst beruhigt hatte, begann erneut zu rasen. Er spürte, wie sich ein flaues Gefühl in seinem Magen einstellte, als er fragte: „Warum bist du zurückgekommen?"

„Ich dachte, Yifu könnte mich brauchen."

Gu Yun wusste nicht, was er sagen sollte.

Chang Geng stand vor der Tür, das Bild eines gehorsamen Anstandes. „Darf ich reinkommen?"

Nachdem er seine Bitte geäußert hatte, drehte er sich leicht zur Seite und stand aufmerksam da und wartete auf Befehle, als ob Gu Yun nur ‘Verpiss dich‘ zu sagen brauchte und er sich in einer Rauchwolke auflösen würde.

Ich muss diesem Bastard in einem früheren Leben ein Vermögen geschuldet haben, dachte Gu Yun bei sich.

Er fügte sich in sein Schicksal und trat zur Seite, um dem Bastard zu erlauben, den Raum zu betreten.

Gu Yun war in Gedanken versunken, und seine Unaufmerksamkeit hatte den Wein auf dem Herd zum Blubbern und Kochen gebracht. Der Geruch von Alkohol wehte durch den Raum. Auf der Suche nach etwas, das er sagen konnte, hob Gu Yun die Kanne mit dem Wein auf. „Trinken?"

Chang Geng holte als Antwort eine Flasche mit klarem Wasser hervor. Er setzte sich neben das Weiqi-Brett, das im Raum aufgestellt war, und nahm eine aufrechte Haltung ein. Hätte er sich den Kopf rasiert, hätte er genau wie ein ätherischer Mönch ausgesehen.

„Ein Schwarzer Falke würde nicht ohne Grund über Nacht aus dem nordwestlichen Lager kommen. Ist an der Grenze etwas passiert?"

Gu Yun wollte nicht unbedingt mit ihm über diese Angelegenheit sprechen. „Nur ein bisschen Ärger", antwortete er vage. „Es ist nichts Ernstes."

Gu Yun war eine hoch angesehene Autorität innerhalb des Militärs. Niemand stellte jemals seine Befehle infrage, und das ermöglichte es ihm, mühelos die Kontrolle über Situationen zu übernehmen und mit großer Effizienz zu arbeiten. Doch es war möglich, zu viel des Guten zu haben. Gu Yun konnte nicht anders, als sein angesehenes Image zu bewahren; selbst wenn er mit etwas konfrontiert wurde, das er nicht verstand, kam es ihm nie in den Sinn, andere um Hilfe zu bitten. Mit der Zeit verfiel er nur allzu leicht in alte Denkmuster.

Chang Geng blickte zu ihm auf, dann senkte er schnell den Blick. Er neigte den Kopf, als hätte er Angst, dass er in einen Bann gezogen werden könnte, wenn er zu lange hinsah. Chang Geng nahm einen Weiqi-Stein aus seiner Schale und ließ ihn zwischen seinen Fingern hin- und herrollen. Der Stein war so schwarz, dass er fast grün aussah, und im Licht der Gaslampe schimmerte er sanft fluoreszierend. Als er sah, dass Gu Yun zögerte zu sprechen, fuhr Chang Geng fort: „Alle Kommandeure des Schwarzen Eisenbataillons sind in der Lage, selbstständig ihre Soldaten zu führen. Sie würden dich nicht wegen kleinerer Grenzkonflikte belästigen, wenn du so weit weg bist. Ich schätze, dass sich eine ungewöhnliche Anzahl ausländischer Truppen ‒ zehntausend oder mehr ‒ versammelt hat. Es muss etwas in dieser Größenordnung sein, damit der Schwarzen Falkenbruder auf diese Weise in die Hauptstadt zurückeilt."

Gu Yun drehte den heißen Becher Wein in seinen Händen und kniff die Augen zusammen. Der Geruch von Alkohol durchzog den Raum. „Der alte General Zhong hat dich viel gelehrt."

„Es gibt auch noch vieles, was der alte General Zhong mir nicht beigebracht hat. Yifu, woran denkst du?"

„Die Soldaten des Schwarzen Eisenbataillons haben den Schutz des Vaterlandes immer zu ihrem obersten Ziel gemacht", murmelte Gu Yun. „In einer plötzlichen, unerwarteten Situation mit vielen Unbekannten wird der alte He die Grenze als Frontlinie des Schlachtfelds betrachten. Er wird die Seidenstraße abriegeln, alle Wege ins Land abschneiden und jeden, der die Grenze illegal überquert, ohne Ausnahme hinrichten. Selbst wenn ein Verbündeter um Hilfe bittet, ohne dass der oberste Befehlshaber anwesend ist, wird das Schwarze Eisenbataillon höchstens Asyl gewähren. Sie werden ihren Posten auf keinen Fall aufgeben und Truppen entsenden. Das Schwarze Eisenbataillon ist fünfzigtausend Mann stark ‒ wenn nicht gerade eine himmlische Armee vom Himmel herabstürzt, ist es egal, wer anklopft ‒ niemandem wird es leicht fallen, unsere Grenzverteidigung im Nordwesten zu durchbrechen. Deshalb mache ich mir darüber vorerst keine Sorgen. Aber ich frage mich, was unser Gegner als Nächstes vorhat."

Seine Stimme war tief und mild, noch kräftiger als der Duft des Weines. Chang Gengs Ohren kribbelten, als er sie hörte, und er senkte den Kopf noch weiter, wobei er sich bemühte, die Fassung zu bewahren und sich von ablenkenden Gedanken zu befreien. „Wenn ich es wäre", sagte er, „würde ich nicht versuchen, Groß-Liang jetzt anzugreifen."

Gu Yuns Augen verweilten auf dem schwarzen Weiqi-Stein, der sich deutlich von Chang Gengs blassen Fingern abhob. „Warum?"

Chang Geng legte den Weiqi-Stein mit einem hellen Klacken auf das Brett.

„Weil die Situation noch nicht den Kipppunkt erreicht hat", sagte er. „Der Konflikt zwischen Yifu und seiner Majestät ist noch nicht so unversöhnlich wie Feuer und Wasser. Er hat dich vorübergehend in der Hauptstadt festgehalten, aber das Schwarze Eisenbataillon ist nicht aufgelöst worden. Es bleibt eine eiserne Mauer. Sollten jetzt fremde Mächte einmarschieren, würde Seine Majestät nicht zögern, sich auf dein Fachwissen zu verlassen. Der sich verschärfende Konflikt zwischen politischer und militärischer Macht würde über Nacht gelöst, und jahrelang sorgfältig ausgearbeitete Pläne würden an einem einzigen Tag zunichtegemacht werden."

Seit dem Vorfall in der Kutsche war Chang Geng vor Gu Yun scharfsinnig und prägnant geworden. Ob er nun über Familienangelegenheiten oder nationale Angelegenheiten sprach, er traf mit jedem Wort, das er sagte, genau ins Schwarze. Gu Yun zuckte zusammen, als er die Worte hörte, in denen sich politische und militärische Macht gegenüberstanden. Seine Finger, die von der Hitze seines Weinbechers rot angelaufen waren, erstarrten in der Luft.

Dies war die geheime Wunde, die sich unter Groß-Liangs wohlhabender und friedlicher Fassade verbarg.

Kaiser Wu hatte keine männlichen Erben, und so war der Kronprinz von einem Nebenzweig adoptiert worden. Ganz gleich, was die Legenden über seine unvergleichliche Weisheit und seine furchterregenden Fähigkeiten erzählten, Kaiser Wu war immer noch ein Mensch und nicht mehr. Als er auf dem Sterbebett lag, regte sich im Herzen dieses Ehrwürdigen ein Hauch von Egoismus: Er übertrug seine militärische Macht, mit der er den Sohn des Himmels und seine Vasallen in die Knie zwingen konnte, auf seine geliebte Tochter. Von nun an waren die militärischen und politischen Kräfte Groß-Liangs auf unnatürliche Weise geteilt.

Dies war wahrscheinlich der größte Fehler, den Kaiser Wu in seinem Leben machte. Solange der Befehlshaber der Streitkräfte Groß-Liangs mit seinem Schicksal zufrieden und der Kaiser überaus weitsichtig war, konnten Herrscher und Untertanen vielleicht eine Generation lang friedlich koexistieren. Aber was ist mit zwei Generationen? Drei?

Gu Yun war sich darüber im Klaren, dass der Tag kommen würde, an dem der Konflikt zwischen dem Schwarzen Eisen-Tigeramulett und dem Jadesiegel des Sohns des Himmels tatsächlich unversöhnlich werden würde. Dann gäbe es nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder der Verräter der Nation besteigt den Thron, oder der Herrscher wirft seinen General wie einen Bogen beiseite, wenn den Vögeln in die Federn ausgegangen sind.

„Vielmehr ist dies eine gute Gelegenheit für unseren Feind, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen." Chang Geng legte einige weitere Figuren auf das Weiqi-Brett. „Wenn die Ausländer gelernt haben, dass das Schwarze Eisenbataillon ein Heuballen ist, der durch den Marschbefehlserlass in die eine oder andere Richtung geschoben wird, wenn Yifu nicht da ist, dann würde die große Armee, die unsere Grenzen so begehrlich beäugt, den Blick auf uns richten. Abgesehen von den westlichen Regionen könnten auch die Barbaren an der nördlichen Grenze, die eine ständige Bedrohung darstellen, und die Wokou-Piraten, die seit Jahren im Ostmeer schlummern, darauf warten, uns anzugreifen. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Angriffs ist jedoch sehr gering. Im Moment ist es am wahrscheinlichsten, dass die Grenzverteidigung an der Nordwestfront uneinnehmbar bleibt und dass General He den Überbringer des Marschbefehls, den Generalprotektor des Nordwestens, ergreift und ihn in das nächste Militärgefängnis wirft ‒“

Gu Yuns Augen weiteten sich vor Überraschung.

Chang Geng begegnete seinem Blick mit einem dünnen Lächeln. „Du brauchst nicht so schockiert zu sein, Yifu. Wenn es um Angelegenheiten geht, die dich betreffen, gibt es in ganz Groß-Liang niemanden, der besser Bescheid weiß."

Gu Yun wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

Dieser lästige Junge war wirklich schwer zu handhaben. Chang Geng ließ sich weder durch Gewalt noch durch Überredung beirren; Gu Yun konnte ihn weder schlagen noch anbrüllen, noch konnte er ihn beschwichtigen oder ihm Ratschläge geben. Aber nachdem er einige Sekunden lang an seinen Worten erstickt war, kam Gu Yun auf eine glänzende Idee. Er wandte sich Chang Geng mit ernster Miene zu und holte dann seine ultimative Technik hervor: sorglose Schamlosigkeit. „Was, flirtest du jetzt mit deinem Yifu?"

Wie erwartet, wurde Chang Geng von dieser Antwort völlig überrumpelt. Die langen weißen Ärmel des Jungen verfingen sich in seinem Becher und verschütteten klares Wasser über den Tisch.

Der unbesiegbare Marschall Gu zeigte keine Spur von Genugtuung über diesen kleinen Sieg. Er winkte mit einer anmutigen Hand. „Mach weiter."

Chang Geng fasste sich schnell wieder. Gu Yun hatte ihn zwar erschreckt, aber er fühlte sich auch ein wenig erleichtert. Selbst wenn ihm der Himmel auf den Kopf fallen würde, würde dieser Mensch sofort wieder aufspringen.

„Wenn ich an deren Stelle wäre", fuhr Chang Geng fort, „würde ich am Eingang der Seidenstraße mit massiven Kräften Druck ausüben und die Schweren Rüstungen und Kriegswagen in den Vordergrund stellen. Ich würde dem Schwarzen Eisenbataillon den Eindruck vermitteln, dass jeden Moment eine Invasion stattfinden könnte. Wenn Yifu weg ist, wird General He höchstens die Tore verriegeln. Er wird nicht so voreilig sein, Truppen zu schicken, um den Feind ohne deinen Befehl anzugreifen. Stattdessen wird er einen Boten entsenden, der dich über die Lage informiert, während er Verstärkung aus der Umgebung anfordert ‒ vielleicht vom Verteidigungskorps der nördlichen Grenze oder von der Hauptstreitmacht, die in der Garnison der Zentralebene stationiert ist."

Gu Yuns Brauen zuckten.

„Damit das Schwarze Eisenbataillon Verstärkung anfordern kann, muss sich die Grenze im Ausnahmezustand befinden. Niemand würde deinen Ruf missachten. Obwohl der Marschbefehlserlass an der südlichen Grenze erfolgreich angewandt wurde, ist er erst seit ein paar Monaten in Kraft. Seine Befehlsgewalt wurde von den übrigen militärischen Führern des Landes noch nicht anerkannt. Die Generäle, die die Grenzen verteidigen, werden sich höchstwahrscheinlich dem Kriegsministerium widersetzen und auf eigene Faust Verstärkung entsenden."

Chang Geng blickte mit grimmigem Blick auf das mit schwarzen und weißen Steinen besprenkelte Weiqi-Brett. „Aber wenn ich mich recht erinnere, hat Yifu damals, als der Barbarenprinz aus dem Norden in die Stadt Yanhui eingedrungen ist, persönlich das Verteidigungskorps der nördlichen Grenze aufgelöst. Du könntest sagen, dass du die Gelegenheit nicht genutzt hast, um deine eigenen Leute dort einzuschleusen, aber diejenigen, die andere nach ihren eigenen Maßstäben beurteilen, werden das anders sehen.

Hinzu kommt, dass der alte General Cai Bin, der Oberbefehlshaber der in der Zentralebene stationierten Truppen, zufällig ein direkter Untergebener des ehemaligen Grafen gewesen ist. Betrachten wir nun die Führung der fünf großen Militärbezirke von Groß-Liang Der Südwesten versteht sich von selbst ‒ General Shen ist dein eigener vertrauenswürdiger Untergebener. Die westlichen Regionen sind das Revier des Schwarzen Eisenbataillons ‒ die Soldaten dort kümmern sich nicht um Recht und Ordnung und wagen es, den Generalprotektor des Nordwestens offen zu verhaften. Die Garnisonen an der nördlichen Grenze und in der Zentralebene rümpfen die Nase über den Marschbefehlserlass des Kriegsministeriums und entsenden ihre Truppen ohne Genehmigung, sobald das Schwarze Eisenbataillon nach ihnen pfeift."

Chang Geng nahm eine Handvoll Weiqi-Steine und warf sie mit einer Bewegung seines Ärmels auf das Spielbrett. Sie landeten in einem wahllosen Haufen mit einer Kaskade heller, klappernder Geräusche, wie Perlen, die auf Jade treffen.

Mehr brauchte man nicht zu sagen. In diesem Szenario würde Kaiser Li Feng sicherlich davon ausgehen, dass Gu Yuns Zugeständnis bezüglich des Marschbefehls nichts weiter als ein falscher Vorwand war. Er würde Gu Yun durch die Linse seines eigenen Argwohns betrachten und befürchten, dass das halbe Land in den Händen des Grafen von Anding liegt.

Es würde dem Kaiser schwerfallen, zu atmen.

Die Augen von Chang Geng waren dunkel und unergründlich. „Yifu, hörst du mir zu?"

„Sprich", sagte Gu Yun leise.

„Schick zuerst diesen Schwarzen Falken heute Nacht mit einer Nachricht zu General Cai. Er darf unter keinen Umständen Truppen ohne entsprechende Genehmigung versetzen. Selbst wenn General Cai bereits beschlossen hat, Verstärkung zu schicken, muss er seine Truppen organisieren und seine Vorräte bereitstellen, bevor er aufbrechen kann. Wir können ihn wahrscheinlich noch einholen."

„Warum benachrichtigen wir nicht das Verteidigungskorps der nördlichen Grenze?"

Chang Geng zuckte nicht mit der Wimper. „Weil Yifu nur einen Schwarzen Falken hat, können wir nur eine einzige Wette platzieren. Wenn selbst ich die Möglichkeit erkannt habe, dass die Barbaren aus dem Norden diese Krise ausnutzen könnten, um in trüben Gewässern zu fischen, dann kann es nicht sein, dass General He die Gefahr nicht auch sieht. Er wird höchstwahrscheinlich seine nächsten Verbündeten übergehen und die Hilfe der weit entfernten Garnison der Zentralebe suchen.

Zweitens muss der Schwarze Falke, sobald er ins nordwestliche Lager zurückgekehrt ist, General He anweisen, ruhig zu bleiben. Er muss sich nicht an die Marschbefehlsverordnung halten, wenn ihm befohlen wird, Truppen gegen seinen Willen einzusetzen, aber er darf das Protektorat des Nordwestens nicht zu sehr beleidigen."

Gu Yun nickte. „Und an dritter Stelle?"

„Drittens." Chang Geng begann langsam: „Bevor die Nachricht von der Seidenstraße die Hauptstadt erreicht, möchte ich Yifu bitten, Seiner Majestät ein Memorandum zu unterbreiten. Finde einen Grund, dein Kommandosiegel für immer abzulegen, und erkläre, dass du dich nie wieder in militärische Angelegenheiten einmischen wirst. Du müsstest Seiner Majestät eindeutig die Zügel überlassen. Sag ihm, dass die Sicherheit des Nordwestens von entscheidender Bedeutung ist und dass du vor deiner Abreise deinen Untergebenen einen strikten Befehl erteilt hast: Den Befehlshabern der drei Divisionen ist es auf jeden Fall untersagt, ohne das Siegel des Kommandanten auch nur einen Finger zu rühren. Sag, dass der Nordwesten nicht einen Tag ohne Anführer auskommen kann ‒ Seine Majestät muss unbedingt jemanden auswählen, der deinen Posten sofort übernimmt."

Wenn Gu Yun jetzt zurücktrat, würde er nicht nur einen tödlichen Schlag vermeiden, sondern vielleicht sogar den aufmüpfigen He Ronghui retten.

Gu Yun schwieg eine ganze Weile, seine Gedanken schweiften ab. Plötzlich erinnerte er sich an den heftigen Schneesturm jenseits des Passes und an das Kind, das er vor vielen Jahren dem Rachen der Wölfe entrissen hatte.

Shen Yi hatte Chang Geng einst mit der Behauptung abgespeist, sie hätten ihn an jenem Tag zufällig gefunden.

Aber das stimmte nicht.

Damals hatte Gu Yun seine eigenen Informanten an der nördlichen Grenze. Nachdem er den kaiserlichen Erlass des Yuanhe-Kaisers angenommen hatte, war die erste Person, die Gu Yun fand, Xiu-Niang. Er fand bald heraus, dass sie mit den Nördlichen Barbaren in Kontakt stand und beschloss, den Feind zu beobachten, ohne seine Anwesenheit preiszugeben.

Gu Yun war damals selbst noch jung, nicht mehr als ein unzuverlässiger Emporkömmling. Seine Augen waren auf die Bedrohung durch die Barbaren gerichtet; er hatte längst vergessen, dass der verstorbene Kaiser ihn beauftragt hatte, den kleinen Prinzen so schnell wie möglich in die Hauptstadt zurückzubringen. An jenem Tag, als Gu Yuns Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet wurde, war es Chang Geng irgendwie gelungen, allein über den Pass zu fliehen. Erst dann war er in Panik geraten und hatte den Jungen mit Shen Yi im Schlepptau verfolgt.

Selbst jetzt brauchte Gu Yun nur die Augen zu schließen, um Chang Geng so zu sehen, wie er damals war: zusammengerollt zu einem ausgemergelten kleinen Ball, der Körper übersät mit Verletzungen. Obwohl er von Wind und Schnee zerschlagen und von den bösartigen Reißzähnen der Wölfe zerfleischt worden war, hatte das Kind wie durch ein Wunder überlebt, während sie zum Tatort eilten. Als Gu Yun es in seinen großen Mantel wickelte, war er so leicht, dass Gu Yun ihn mit einer Hand hätte hochheben können. Er fühlte sich, als würde er ein Vogelbaby am Rande des Todes tragen; als würde er das hilflose Geschöpf ersticken, wenn er es zu fest an sich drückte.

Die Zeit verging wie Ebbe und Flut ‒ irgendwie war der Junge in einem Wimpernschlag schon so viel gewachsen.

Als Chang Geng sein langes Schweigen bemerkte, konnte er nicht anders als zu fragen: „Yifu?"

Gu Yun drehte sich leicht um. Für einen Moment wirkte sein Gesichtsausdruck im Schein der Lampe fast zärtlich. Chang Gengs Herz machte einen heftigen Satz in seiner Brust.

Vielleicht lag es daran, dass Chang Geng gerade in dem Moment, in dem Gu Yun schockiert und verärgert hätte sein sollen, diesen rechtzeitigen Schluck Blut ausgekotzt hatte. Vielleicht lag es aber auch an all der hektischen Betriebsamkeit der folgenden Tage. Es war klar, dass Gu Yun die Situation absurd fand und hilflos verärgert war. Und doch ... war er nicht so wütend, wie Chang Geng es sich vorgestellt hatte.

Schließlich brach Gu Yun das Schweigen. „Ich verstehe. Du solltest dich etwas ausruhen."

Chang Geng erkannte die Entlassung, als das, was sie war, und stand taktvoll auf, um zu gehen.

„...Warte", rief Gu Yun. Er schien zu zögern, fuhr dann aber fort. „Letztes Mal hast du mir gesagt, dass du mit allem einverstanden bist, worum ich dich auch bitte."

Chang Geng hielt inne und streckte die Hand aus, um die Tür zu öffnen. Seine Finger krümmten sich leicht in der Luft.

„Ich will nicht, dass du gehst; ich will nicht, dass du dich zu irgendetwas zwingst. Alles, was ich will, ist, dass es dir gut geht."

Chang Geng blieb lange Zeit wie erstarrt stehen, mit ausdruckslosem Gesicht. Dann drehte er sich um und machte sich lautlos aus dem Staub.

Gu Yun hob ruhig die halbvolle Kanne mit Wein auf. Er prüfte die Temperatur und nahm dann einen Schluck direkt aus dem Ausguss. Kleine Göre, dachte er. Denkst du, ich kann nicht mit dir umgehen?




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