Gu Yuns Gedanken rasten. Alles geschah viel schneller ‒ und weitaus chaotischer ‒ als er es sich vorgestellt hatte.
Die westlichen Regionen waren ein kleiner Teich voller
großer Fische. Winzige Nation lagen wie Schafskot in der Gegend herum - ein
Haufen hier, ein Haufen dort ‒ und jeden zweiten Tag gab es neue Spannungen
zwischen ihnen. Jeder wollte den anderen annektieren. Aber da das Schwarze
Eisenbataillon in den letzten Jahren am Eingang zur Seidenstraße Wache hielt,
hatte schon lange niemand mehr Ärger gemacht. Selbst wenn sie alles verkauften,
was sie besaßen, konnte sich ein lausiges kleines Land wie Qiuci keine hundert
Sandtiger leisten. Derjenige, der für diese unwahrscheinliche Entwicklung
verantwortlich war, war ein weitaus skrupelloserer und furchterregenderer Feind
‒ so viel war klar.
Die Frage war nicht, ob eine Macht hinter dem Königreich Qiuci
stand, sondern was war das Ziel dieser Macht?
Gu Yun bezweifelte, dass dieser Plan jemandem am
kaiserlichen Hof in die Schuhe geschoben werden konnte. Li Feng war ein zu großer
Kontrollfreak. Er zog es vor, bewährte Methoden anzuwenden, die es ihm
erlaubten, das Sagen zu haben ‒ auf keinen Fall würde er sich in so kurzer Zeit
auf eine so überstürzte Operation einlassen, vor allem nicht, ohne alle
notwendigen Vorkehrungen getroffen zu haben. Wahrscheinlich war auch Li Feng
von dieser Situation überrascht worden. Einerseits hatte der Kaiser keine
Ahnung, was im Nordwesten vor sich ging, andererseits befürchtete er, dass das Schwarze
Eisenbataillon unbefugt handeln und den Hof in Aufruhr versetzen würde. Um sie
zurückzuhalten, nutzte er Gu Yuns entzogenes Befehlssiegel und weigerte sich,
einen Marschbefehl zu erlassen.
„Wie stark ist die Garnison jedes Landes?", fragte Gu
Yun.
„Das diplomatische Korps des fernen Westens hat zwei- bis
dreitausend Mann in seinem Lager. Die Sindhu-Streitkräfte sind etwas kleiner,
sie haben nur etwa tausend Soldaten, die ihre Verteidigung aufbauen. Der Rest
kommt aus verschiedenen Nationen der westlichen Regionen."
„Das ist unmöglich." Gu Yun biss sich auf die Zunge
und schluckte die Worte sieh nochmal nach wieder hinunter in seine
Kehle. Er erinnerte sich daran, dass er derzeit nicht im Einsatz war ‒ er saß
in dieser Hauptstadt von der Größe eines Gullys fest, viel zu weit weg, um
helfen zu können.
„Wenn der Feind wirklich über hundert Sandtiger entfesselt
hat, sind sie entschlossen, diesen Krieg zu gewinnen. Sie sollten Zehntausende
von Elitetruppen haben, die für eine zweite Angriffswelle bereitstehen ‒ wenn
nicht, ist dieser Eröffnungszug nur eine Verschwendung von Violettem Gold. Auch
wenn sie zahlenmäßig unterlegen zu sein scheinen, heißt das nicht, dass sie
nicht noch mehr Truppen im Verborgenen haben." Gu Yun schloss kurz die
Augen, seine Finger klopften leicht auf den Tisch. „Ein einziger Trupp von
Infanteristen mit Schweren Rüstung würde ausreichen, um mit Loulans nutzloser
Kavallerie fertig zu werden. Es ist unmöglich, dass sie eine Armee von
Zehntausenden versammeln und so viele Sandtiger an unsere Grenze treiben, nur
um einen belanglosen Streit zwischen den Nationen der westlichen Regionen zu
beenden."
Verblüfft stammelte der Schwarze Falke: „In ... in diesem
Fall wird dieser Untergebene sofort zurückeilen ..."
„Nicht nötig." Gu Yun unterbrach ihn. „Außerdem würdet
Ihr es nicht rechtzeitig schaffen."
Der Schwarze Falke war mit Höchstgeschwindigkeit von der
Seidenstraße in die Hauptstadt zurückgeschossen, aber trotz seines
unglaublichen Tempos hatte er für die Strecke fast zwei Tage gebraucht. Der
Luftraum über der Hauptstadt war eine Flugverbotszone, so dass er zunächst im
nördlichen Lager landen musste, und obwohl er noch in derselben Nacht die
Hauptstadt betrat, war es bereits der dritte Tag, als er Gu Yun traf. Wenn er
mit Gu Yuns Anweisungen an die Front zurückkehrte, würden die Befehle mit einer
Verspätung von fünf bis sechs Tagen eintreffen, selbst wenn er sich auf dieser
Rundreise zu Tode rannte.
Das Schlachtfeld konnte sich innerhalb eines Wimpernschlags
verändern. Fünf oder sechs Tage waren genug Zeit, um eine Nation zu Fall zu
bringen. Gu Yun knirschte mit den Zähnen. Ausgerechnet jetzt wurde er in der
Hauptstadt aufgehalten!
„Ruht Euch erst einmal aus“, sagte Gu Yun mit leiser
Stimme. „Lasst mich nachdenken."
Der Schwarze Falke wagte es nicht, ein weiteres Wort zu sagen,
und ging, nachdem er entlassen worden war.
Gu Yun wärmte sich eine Kanne Wein auf und drehte dann ein
paar Runden durch den Raum. Nach ein paar Schritten hatte er sich beruhigt und
die wichtigsten Aspekte der Situation geordnet. Vielleicht ist das
Schlimmste noch nicht eingetreten, dachte er.
Er war festgenommen worden und Shen Yi war gegangen, wurden
die im Nordwesten stationierten Truppen des Schwarzen Eisenbataillons derzeit
von He Ronghui, der Kommandeur der Schwarzen Falken, angeführt. Gu Yun kannte
das Temperament seines Untergebenen. He Ronghui war eine notorische Nervensäge ‒
er hörte auf Gu Yun, aber was jeden anderen betraf, konnte ihn nicht einmal
Shen Yi zähmen. Auf keinen Fall würde er das Protektorat des Nordwestens ernst
nehmen. Wenn Generalprotektor Meng Pengfei versuchte, mit einem Marschbefehl
sein Gewicht in die Waagschale zu werfen, wäre He Ronghui der Erste, der
rebellierte. Und wenn er das täte, wäre Generalprotektor Meng wahrscheinlich
das erste Problem, um das er sich kümmern würde.
Und was dann?
Es klopfte an der Tür. Gu Yun riss sie auf und wurde von
Chang Geng begrüßt, der draußen stand.
Gu Yun klammerte sich an den Türpfosten. Er warf einen
Blick auf Chang Geng, und sein Herz, das sich gerade erst beruhigt hatte,
begann erneut zu rasen. Er spürte, wie sich ein flaues Gefühl in seinem Magen
einstellte, als er fragte: „Warum bist du zurückgekommen?"
„Ich dachte, Yifu könnte mich brauchen."
Gu Yun wusste nicht, was er sagen sollte.
Chang Geng stand vor der Tür, das Bild eines gehorsamen
Anstandes. „Darf ich reinkommen?"
Nachdem er seine Bitte geäußert hatte, drehte er sich
leicht zur Seite und stand aufmerksam da und wartete auf Befehle, als ob Gu Yun
nur ‘Verpiss dich‘ zu sagen brauchte und er sich in einer Rauchwolke auflösen
würde.
Ich muss diesem Bastard in einem früheren Leben
ein Vermögen geschuldet haben, dachte Gu Yun bei sich.
Er fügte sich in sein Schicksal und trat zur Seite, um dem
Bastard zu erlauben, den Raum zu betreten.
Gu Yun war in Gedanken versunken, und seine
Unaufmerksamkeit hatte den Wein auf dem Herd zum Blubbern und Kochen gebracht.
Der Geruch von Alkohol wehte durch den Raum. Auf der Suche nach etwas, das er
sagen konnte, hob Gu Yun die Kanne mit dem Wein auf. „Trinken?"
Chang Geng holte als Antwort eine Flasche mit klarem Wasser
hervor. Er setzte sich neben das Weiqi-Brett, das im Raum aufgestellt war, und
nahm eine aufrechte Haltung ein. Hätte er sich den Kopf rasiert, hätte er genau
wie ein ätherischer Mönch ausgesehen.
„Ein Schwarzer Falke würde nicht ohne Grund über Nacht aus
dem nordwestlichen Lager kommen. Ist an der Grenze etwas passiert?"
Gu Yun wollte nicht unbedingt mit ihm über diese
Angelegenheit sprechen. „Nur ein bisschen Ärger", antwortete er vage. „Es
ist nichts Ernstes."
Gu Yun war eine hoch angesehene Autorität innerhalb des
Militärs. Niemand stellte jemals seine Befehle infrage, und das ermöglichte es
ihm, mühelos die Kontrolle über Situationen zu übernehmen und mit großer
Effizienz zu arbeiten. Doch es war möglich, zu viel des Guten zu haben. Gu Yun
konnte nicht anders, als sein angesehenes Image zu bewahren; selbst wenn er mit
etwas konfrontiert wurde, das er nicht verstand, kam es ihm nie in den Sinn,
andere um Hilfe zu bitten. Mit der Zeit verfiel er nur allzu leicht in alte
Denkmuster.
Chang Geng blickte zu ihm auf, dann senkte er schnell den
Blick. Er neigte den Kopf, als hätte er Angst, dass er in einen Bann gezogen
werden könnte, wenn er zu lange hinsah. Chang Geng nahm einen Weiqi-Stein aus
seiner Schale und ließ ihn zwischen seinen Fingern hin- und herrollen. Der
Stein war so schwarz, dass er fast grün aussah, und im Licht der Gaslampe
schimmerte er sanft fluoreszierend. Als er sah, dass Gu Yun zögerte zu
sprechen, fuhr Chang Geng fort: „Alle Kommandeure des Schwarzen Eisenbataillons
sind in der Lage, selbstständig ihre Soldaten zu führen. Sie würden dich nicht
wegen kleinerer Grenzkonflikte belästigen, wenn du so weit weg bist. Ich
schätze, dass sich eine ungewöhnliche Anzahl ausländischer Truppen ‒
zehntausend oder mehr ‒ versammelt hat. Es muss etwas in dieser Größenordnung
sein, damit der Schwarzen Falkenbruder auf diese Weise in die Hauptstadt
zurückeilt."
Gu Yun drehte den heißen Becher Wein in seinen Händen und
kniff die Augen zusammen. Der Geruch von Alkohol durchzog den Raum. „Der alte
General Zhong hat dich viel gelehrt."
„Es gibt auch noch vieles, was der alte General Zhong mir
nicht beigebracht hat. Yifu, woran denkst du?"
„Die Soldaten des Schwarzen Eisenbataillons haben den
Schutz des Vaterlandes immer zu ihrem obersten Ziel gemacht", murmelte Gu
Yun. „In einer plötzlichen, unerwarteten Situation mit vielen Unbekannten wird
der alte He die Grenze als Frontlinie des Schlachtfelds betrachten. Er wird die
Seidenstraße abriegeln, alle Wege ins Land abschneiden und jeden, der die
Grenze illegal überquert, ohne Ausnahme hinrichten. Selbst wenn ein Verbündeter
um Hilfe bittet, ohne dass der oberste Befehlshaber anwesend ist, wird das Schwarze
Eisenbataillon höchstens Asyl gewähren. Sie werden ihren Posten auf keinen Fall
aufgeben und Truppen entsenden. Das Schwarze Eisenbataillon ist fünfzigtausend
Mann stark ‒ wenn nicht gerade eine himmlische Armee vom Himmel herabstürzt,
ist es egal, wer anklopft ‒ niemandem wird es leicht fallen, unsere
Grenzverteidigung im Nordwesten zu durchbrechen. Deshalb mache ich mir darüber
vorerst keine Sorgen. Aber ich frage mich, was unser Gegner als Nächstes
vorhat."
Seine Stimme war tief und mild, noch kräftiger als der Duft
des Weines. Chang Gengs Ohren kribbelten, als er sie hörte, und er senkte den
Kopf noch weiter, wobei er sich bemühte, die Fassung zu bewahren und sich von
ablenkenden Gedanken zu befreien. „Wenn ich es wäre", sagte er, „würde ich
nicht versuchen, Groß-Liang jetzt anzugreifen."
Gu Yuns Augen verweilten auf dem schwarzen Weiqi-Stein, der
sich deutlich von Chang Gengs blassen Fingern abhob. „Warum?"
Chang Geng legte den Weiqi-Stein mit einem hellen Klacken
auf das Brett.
„Weil die Situation noch nicht den Kipppunkt erreicht hat",
sagte er. „Der Konflikt zwischen Yifu und seiner Majestät ist noch nicht so
unversöhnlich wie Feuer und Wasser. Er hat dich vorübergehend in der Hauptstadt
festgehalten, aber das Schwarze Eisenbataillon ist nicht aufgelöst worden. Es
bleibt eine eiserne Mauer. Sollten jetzt fremde Mächte einmarschieren, würde
Seine Majestät nicht zögern, sich auf dein Fachwissen zu verlassen. Der sich
verschärfende Konflikt zwischen politischer und militärischer Macht würde über
Nacht gelöst, und jahrelang sorgfältig ausgearbeitete Pläne würden an einem
einzigen Tag zunichtegemacht werden."
Seit dem Vorfall in der Kutsche war Chang Geng vor Gu Yun
scharfsinnig und prägnant geworden. Ob er nun über Familienangelegenheiten oder
nationale Angelegenheiten sprach, er traf mit jedem Wort, das er sagte, genau ins
Schwarze. Gu Yun zuckte zusammen, als er die Worte hörte, in denen sich
politische und militärische Macht gegenüberstanden. Seine Finger, die von der
Hitze seines Weinbechers rot angelaufen waren, erstarrten in der Luft.
Dies war die geheime Wunde, die sich unter Groß-Liangs
wohlhabender und friedlicher Fassade verbarg.
Kaiser Wu hatte keine männlichen Erben, und so war der
Kronprinz von einem Nebenzweig adoptiert worden. Ganz gleich, was die Legenden
über seine unvergleichliche Weisheit und seine furchterregenden Fähigkeiten
erzählten, Kaiser Wu war immer noch ein Mensch und nicht mehr. Als er auf dem
Sterbebett lag, regte sich im Herzen dieses Ehrwürdigen ein Hauch von Egoismus:
Er übertrug seine militärische Macht, mit der er den Sohn des Himmels und seine
Vasallen in die Knie zwingen konnte, auf seine geliebte Tochter. Von nun an
waren die militärischen und politischen Kräfte Groß-Liangs auf unnatürliche
Weise geteilt.
Dies war wahrscheinlich der größte Fehler, den Kaiser Wu in
seinem Leben machte. Solange der Befehlshaber der Streitkräfte Groß-Liangs mit
seinem Schicksal zufrieden und der Kaiser überaus weitsichtig war, konnten
Herrscher und Untertanen vielleicht eine Generation lang friedlich
koexistieren. Aber was ist mit zwei Generationen? Drei?
Gu Yun war sich darüber im Klaren, dass der Tag kommen
würde, an dem der Konflikt zwischen dem Schwarzen Eisen-Tigeramulett und dem
Jadesiegel des Sohns des Himmels tatsächlich unversöhnlich werden würde. Dann
gäbe es nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder der Verräter der Nation besteigt
den Thron, oder der Herrscher wirft seinen General wie einen Bogen beiseite,
wenn den Vögeln in die Federn ausgegangen sind.
„Vielmehr ist dies eine gute Gelegenheit für unseren Feind,
zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen." Chang Geng legte einige
weitere Figuren auf das Weiqi-Brett. „Wenn die Ausländer gelernt haben, dass
das Schwarze Eisenbataillon ein Heuballen ist, der durch den
Marschbefehlserlass in die eine oder andere Richtung geschoben wird, wenn Yifu
nicht da ist, dann würde die große Armee, die unsere Grenzen so begehrlich
beäugt, den Blick auf uns richten. Abgesehen von den westlichen Regionen
könnten auch die Barbaren an der nördlichen Grenze, die eine ständige Bedrohung
darstellen, und die Wokou-Piraten, die seit Jahren im Ostmeer schlummern,
darauf warten, uns anzugreifen. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Angriffs
ist jedoch sehr gering. Im Moment ist es am wahrscheinlichsten, dass die
Grenzverteidigung an der Nordwestfront uneinnehmbar bleibt und dass General He
den Überbringer des Marschbefehls, den Generalprotektor des Nordwestens,
ergreift und ihn in das nächste Militärgefängnis wirft ‒“
Gu Yuns Augen weiteten sich vor Überraschung.
Chang Geng begegnete seinem Blick mit einem dünnen Lächeln.
„Du brauchst nicht so schockiert zu sein, Yifu. Wenn es um Angelegenheiten
geht, die dich betreffen, gibt es in ganz Groß-Liang niemanden, der besser
Bescheid weiß."
Gu Yun wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
Dieser lästige Junge war wirklich schwer zu handhaben.
Chang Geng ließ sich weder durch Gewalt noch durch Überredung beirren; Gu Yun
konnte ihn weder schlagen noch anbrüllen, noch konnte er ihn beschwichtigen
oder ihm Ratschläge geben. Aber nachdem er einige Sekunden lang an seinen
Worten erstickt war, kam Gu Yun auf eine glänzende Idee. Er wandte sich Chang
Geng mit ernster Miene zu und holte dann seine ultimative Technik hervor:
sorglose Schamlosigkeit. „Was, flirtest du jetzt mit deinem Yifu?"
Wie erwartet, wurde Chang Geng von dieser Antwort völlig
überrumpelt. Die langen weißen Ärmel des Jungen verfingen sich in seinem Becher
und verschütteten klares Wasser über den Tisch.
Der unbesiegbare Marschall Gu zeigte keine Spur von
Genugtuung über diesen kleinen Sieg. Er winkte mit einer anmutigen Hand. „Mach
weiter."
Chang Geng fasste sich schnell wieder. Gu Yun hatte ihn
zwar erschreckt, aber er fühlte sich auch ein wenig erleichtert. Selbst wenn
ihm der Himmel auf den Kopf fallen würde, würde dieser Mensch sofort wieder
aufspringen.
„Wenn ich an deren Stelle wäre", fuhr Chang Geng fort,
„würde ich am Eingang der Seidenstraße mit massiven Kräften Druck ausüben und
die Schweren Rüstungen und Kriegswagen in den Vordergrund stellen. Ich würde
dem Schwarzen Eisenbataillon den Eindruck vermitteln, dass jeden Moment eine
Invasion stattfinden könnte. Wenn Yifu weg ist, wird General He höchstens die
Tore verriegeln. Er wird nicht so voreilig sein, Truppen zu schicken, um den
Feind ohne deinen Befehl anzugreifen. Stattdessen wird er einen Boten
entsenden, der dich über die Lage informiert, während er Verstärkung aus der
Umgebung anfordert ‒ vielleicht vom Verteidigungskorps der nördlichen Grenze
oder von der Hauptstreitmacht, die in der Garnison der Zentralebene stationiert
ist."
Gu Yuns Brauen zuckten.
„Damit das Schwarze Eisenbataillon Verstärkung anfordern
kann, muss sich die Grenze im Ausnahmezustand befinden. Niemand würde deinen
Ruf missachten. Obwohl der Marschbefehlserlass an der südlichen Grenze
erfolgreich angewandt wurde, ist er erst seit ein paar Monaten in Kraft. Seine Befehlsgewalt
wurde von den übrigen militärischen Führern des Landes noch nicht anerkannt.
Die Generäle, die die Grenzen verteidigen, werden sich höchstwahrscheinlich dem
Kriegsministerium widersetzen und auf eigene Faust Verstärkung entsenden."
Chang Geng blickte mit grimmigem Blick auf das mit
schwarzen und weißen Steinen besprenkelte Weiqi-Brett. „Aber wenn ich mich
recht erinnere, hat Yifu damals, als der Barbarenprinz aus dem Norden in die
Stadt Yanhui eingedrungen ist, persönlich das Verteidigungskorps der nördlichen
Grenze aufgelöst. Du könntest sagen, dass du die Gelegenheit nicht genutzt hast,
um deine eigenen Leute dort einzuschleusen, aber diejenigen, die andere nach
ihren eigenen Maßstäben beurteilen, werden das anders sehen.
Hinzu kommt, dass der alte General Cai Bin, der Oberbefehlshaber
der in der Zentralebene stationierten Truppen, zufällig ein direkter
Untergebener des ehemaligen Grafen gewesen ist. Betrachten wir nun die Führung
der fünf großen Militärbezirke von Groß-Liang Der Südwesten versteht
sich von selbst ‒ General Shen ist dein eigener vertrauenswürdiger Untergebener.
Die westlichen Regionen sind das Revier des Schwarzen Eisenbataillons ‒ die
Soldaten dort kümmern sich nicht um Recht und Ordnung und wagen es, den
Generalprotektor des Nordwestens offen zu verhaften. Die Garnisonen an der nördlichen
Grenze und in der Zentralebene rümpfen die Nase über den Marschbefehlserlass
des Kriegsministeriums und entsenden ihre Truppen ohne Genehmigung, sobald das Schwarze
Eisenbataillon nach ihnen pfeift."
Chang Geng nahm eine Handvoll Weiqi-Steine und warf sie mit
einer Bewegung seines Ärmels auf das Spielbrett. Sie landeten in einem
wahllosen Haufen mit einer Kaskade heller, klappernder Geräusche, wie Perlen,
die auf Jade treffen.
Mehr brauchte man nicht zu sagen. In diesem Szenario würde
Kaiser Li Feng sicherlich davon ausgehen, dass Gu Yuns Zugeständnis bezüglich
des Marschbefehls nichts weiter als ein falscher Vorwand war. Er würde Gu Yun
durch die Linse seines eigenen Argwohns betrachten und befürchten, dass das
halbe Land in den Händen des Grafen von Anding liegt.
Es würde dem Kaiser schwerfallen, zu atmen.
Die Augen von Chang Geng waren dunkel und unergründlich. „Yifu,
hörst du mir zu?"
„Sprich", sagte Gu Yun leise.
„Schick zuerst diesen Schwarzen Falken heute Nacht mit
einer Nachricht zu General Cai. Er darf unter keinen Umständen Truppen ohne
entsprechende Genehmigung versetzen. Selbst wenn General Cai bereits
beschlossen hat, Verstärkung zu schicken, muss er seine Truppen organisieren
und seine Vorräte bereitstellen, bevor er aufbrechen kann. Wir können ihn
wahrscheinlich noch einholen."
„Warum benachrichtigen wir nicht das Verteidigungskorps der
nördlichen Grenze?"
Chang Geng zuckte nicht mit der Wimper. „Weil Yifu nur
einen Schwarzen Falken hat, können wir nur eine einzige Wette platzieren. Wenn
selbst ich die Möglichkeit erkannt habe, dass die Barbaren aus dem Norden diese
Krise ausnutzen könnten, um in trüben Gewässern zu fischen, dann kann es nicht
sein, dass General He die Gefahr nicht auch sieht. Er wird höchstwahrscheinlich
seine nächsten Verbündeten übergehen und die Hilfe der weit entfernten Garnison
der Zentralebe suchen.
Zweitens muss der Schwarze Falke, sobald er ins
nordwestliche Lager zurückgekehrt ist, General He anweisen, ruhig zu bleiben.
Er muss sich nicht an die Marschbefehlsverordnung halten, wenn ihm befohlen
wird, Truppen gegen seinen Willen einzusetzen, aber er darf das Protektorat des
Nordwestens nicht zu sehr beleidigen."
Gu Yun nickte. „Und an dritter Stelle?"
„Drittens." Chang Geng begann langsam: „Bevor die Nachricht
von der Seidenstraße die Hauptstadt erreicht, möchte ich Yifu bitten, Seiner
Majestät ein Memorandum zu unterbreiten. Finde einen Grund, dein Kommandosiegel
für immer abzulegen, und erkläre, dass du dich nie wieder in militärische
Angelegenheiten einmischen wirst. Du müsstest Seiner Majestät eindeutig die
Zügel überlassen. Sag ihm, dass die Sicherheit des Nordwestens von
entscheidender Bedeutung ist und dass du vor deiner Abreise deinen Untergebenen
einen strikten Befehl erteilt hast: Den Befehlshabern der drei Divisionen ist
es auf jeden Fall untersagt, ohne das Siegel des Kommandanten auch nur einen
Finger zu rühren. Sag, dass der Nordwesten nicht einen Tag ohne Anführer
auskommen kann ‒ Seine Majestät muss unbedingt jemanden auswählen, der deinen
Posten sofort übernimmt."
Wenn Gu Yun jetzt zurücktrat, würde er nicht nur einen
tödlichen Schlag vermeiden, sondern vielleicht sogar den aufmüpfigen He Ronghui
retten.
Gu Yun schwieg eine ganze Weile, seine Gedanken schweiften
ab. Plötzlich erinnerte er sich an den heftigen Schneesturm jenseits des Passes
und an das Kind, das er vor vielen Jahren dem Rachen der Wölfe entrissen hatte.
Shen Yi hatte Chang Geng einst mit der Behauptung
abgespeist, sie hätten ihn an jenem Tag zufällig gefunden.
Aber das stimmte nicht.
Damals hatte Gu Yun seine eigenen Informanten an der nördlichen
Grenze. Nachdem er den kaiserlichen Erlass des Yuanhe-Kaisers angenommen hatte,
war die erste Person, die Gu Yun fand, Xiu-Niang. Er fand bald heraus, dass sie
mit den Nördlichen Barbaren in Kontakt stand und beschloss, den Feind zu
beobachten, ohne seine Anwesenheit preiszugeben.
Gu Yun war damals selbst noch jung, nicht mehr als ein
unzuverlässiger Emporkömmling. Seine Augen waren auf die Bedrohung durch die
Barbaren gerichtet; er hatte längst vergessen, dass der verstorbene Kaiser ihn
beauftragt hatte, den kleinen Prinzen so schnell wie möglich in die Hauptstadt
zurückzubringen. An jenem Tag, als Gu Yuns Aufmerksamkeit auf etwas anderes
gerichtet wurde, war es Chang Geng irgendwie gelungen, allein über den Pass zu
fliehen. Erst dann war er in Panik geraten und hatte den Jungen mit Shen Yi im
Schlepptau verfolgt.
Selbst jetzt brauchte Gu Yun nur die Augen zu schließen, um
Chang Geng so zu sehen, wie er damals war: zusammengerollt zu einem
ausgemergelten kleinen Ball, der Körper übersät mit Verletzungen. Obwohl er von
Wind und Schnee zerschlagen und von den bösartigen Reißzähnen der Wölfe
zerfleischt worden war, hatte das Kind wie durch ein Wunder überlebt, während
sie zum Tatort eilten. Als Gu Yun es in seinen großen Mantel wickelte, war er
so leicht, dass Gu Yun ihn mit einer Hand hätte hochheben können. Er fühlte sich,
als würde er ein Vogelbaby am Rande des Todes tragen; als würde er das hilflose
Geschöpf ersticken, wenn er es zu fest an sich drückte.
Die Zeit verging wie Ebbe und Flut ‒ irgendwie war der
Junge in einem Wimpernschlag schon so viel gewachsen.
Als Chang Geng sein langes Schweigen bemerkte, konnte er
nicht anders als zu fragen: „Yifu?"
Gu Yun drehte sich leicht um. Für einen Moment wirkte sein
Gesichtsausdruck im Schein der Lampe fast zärtlich. Chang Gengs Herz machte
einen heftigen Satz in seiner Brust.
Vielleicht lag es daran, dass Chang Geng gerade in dem
Moment, in dem Gu Yun schockiert und verärgert hätte sein sollen, diesen
rechtzeitigen Schluck Blut ausgekotzt hatte. Vielleicht lag es aber auch an all
der hektischen Betriebsamkeit der folgenden Tage. Es war klar, dass Gu Yun die
Situation absurd fand und hilflos verärgert war. Und doch ... war er nicht so
wütend, wie Chang Geng es sich vorgestellt hatte.
Schließlich brach Gu Yun das Schweigen. „Ich verstehe. Du
solltest dich etwas ausruhen."
Chang Geng erkannte die Entlassung, als das, was sie war,
und stand taktvoll auf, um zu gehen.
„...Warte", rief Gu Yun. Er schien zu zögern, fuhr
dann aber fort. „Letztes Mal hast du mir gesagt, dass du mit allem
einverstanden bist, worum ich dich auch bitte."
Chang Geng hielt inne und streckte die Hand aus, um die Tür
zu öffnen. Seine Finger krümmten sich leicht in der Luft.
„Ich will nicht, dass du gehst; ich will nicht, dass du
dich zu irgendetwas zwingst. Alles, was ich will, ist, dass es dir gut geht."
Chang Geng blieb lange Zeit wie erstarrt stehen, mit
ausdruckslosem Gesicht. Dann drehte er sich um und machte sich lautlos aus dem
Staub.
Gu Yun hob ruhig die halbvolle Kanne mit Wein auf. Er
prüfte die Temperatur und nahm dann einen Schluck direkt aus dem Ausguss. Kleine
Göre, dachte er. Denkst du, ich kann nicht mit dir umgehen?
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