Die Fußbodenheizung des Warmen-Pavillons fügte in regelmäßigen Abständen automatisch Kohle hinzu. Die reisschalengroßen Zahnräder griffen reibungslos ineinander. Ob sie nun Kohle nachfüllten oder den Rauch wegbliesen – alles bewegte sich in mechanischer Harmonie. Weiße Dampfschwaden strömten in Spiralen aus dem hinteren Teil der Maschine, die gelegentlich leise Seufzer von sich gab.
Auf dem Boden darüber standen sich Herrscher und Untertan ‒
einer stehend, einer kniend ‒ gegenüber. Li Feng umklammerte die Kante des mit
Drachengravuren verzierten Schreibtisches, die Adern traten hervor. Sein Unmut
war aus jedem Wort herauszuhören und er antwortete: „Sagt das noch einmal.“
Gu Yun hatte sich bereits geäußert; er wusste, dass er
nicht zu weit gehen sollte, um dem Kaiser zu trotzen. Prompt gab er nach. „Dieser
Untertan verdient tausend Tode.“
Mit aschfahlem Gesicht drehte Li Feng zwanghaft den weißen
Jadering an seinem Finger hin und her.
„Aber“, fuhr Gu Yun mit leiser Stimme fort, „wenn es um die
Angelegenheit Seidenstraße geht. Ist es so als würde man an einem Faden ziehen,
nur damit sich alles andere mitauflöst. Ich bitte Eure Majestät, diese
Entscheidung gründlich zu überdenken.“
„Hat der Graf von Anding den Eindruck, dass wir außer Ihnen
keine anderen fähigen Generäle zur Verfügung haben?“, fragte Li Feng mit einem
furchtbaren Frösteln in seiner Stimme.
Ihr Gespräch hatte bereits einen kritischen Punkt erreicht.
Wenn es so weiterging, würde es nur zu einem ausgewachsenen Streit ausarten. Gu
Yun presste die Lippen aufeinander und tat sein Bestes, um sich tot zu stellen.
In diesem Moment stürmte Zhu Xiaojiao in den Warmen-Pavillon.
„Eure Majestät“, verkündete er mit hoher Stimme, als würde er die Rolle einer
alten Frau in einer Oper singen, „der kaiserliche Onkel Wang ist angekommen. Er
steht draußen und wartet auf Eure Erlaubnis, einzutreten ...“
Wenn andere hochrangige Minister den Kaiser aufsuchten,
während er vor Wut raste, rieten die Hofbediensteten ihnen, außerhalb des Saals
zu warten. Indem Zhu Xiaojiao auf diese Weise vortrat, half er Gu Yun
absichtlich aus seiner misslichen Lage heraus. Gu Yun warf dem alten Eunuchen
einen Blick zu und blinzelte einmal, um seine Dankbarkeit zu zeigen.
Li Fengs Augenwinkel zuckten mehrmals, während sich seine
Gesichtszüge strafften. Er blickte hochmütig auf Gu Yun herab. „Ich sehe, die
Hitze der Kohlen hat dem Grafen von Anding den Kopf vernebelt“, sagte er kalt. „Wenn
das so ist, solltet Ihr Euch vielleicht draußen abkühlen, damit Ihr nicht
vergesst, was gesagt werden kann und was nicht!“
Gu Yun machte einen tiefen Kotau, seine Stirn berührte den
Boden. „Bitte passt auf Euch auf, Eure Majestät.“
Mit gesenktem Kopf verließ er den Warmen-Pavillon. Als er
den Schnee außerhalb der Halle erreichte, ließ er sich leicht auf die Knie
fallen und kühlte sich wie befohlen ab.
Li Feng beobachtete Gu Yuns verschwindende Gestalt, seine
Augen blitzten bedrohlich. Der kaiserliche Onkel Wang trat kurz darauf ein. Er
hatte Angst, auch nur schwer zu atmen, und blieb abwartend an der Seite stehen.
Ein unaufmerksamer junger Palastdiener trat vor, um den Tintenstein
aufzuräumen, der über der Rüstung des Grafen von Anding zerbrochen war, und
erstarrte dann auf einen spitzen Blick von Zhu Xiaojiao. Wie versteinert stand
der Diener mehrere Sekunden lang in panischem Schweigen, bevor er sich an die
Wand zurückzog und die Flucht ergriff.
Wang Guo studierte die Miene des Kaisers und beschwichtigte
ihn mit leiser Stimme. „Eure Majestät, der Graf von Anding ist noch jung und
ungestüm. Er ist es gewohnt, an der Seite der blutrünstigen Raufbolde in den
Grenzgarnisonen zu dienen. Wenn es ihm manchmal an Anstand mangelt, ist das nur
zu erwarten. Es ist den Zorn Eurer Majestät nicht wert.“
Li Feng schwieg eine ganze Weile.
Vor Jahren hatte der Yuanhe-Kaiser sich in den Kopf
gesetzt, Li Feng zum Kronprinzen zu ernennen, weil er fleißig und klug war und
die Haltung eines weisen Herrschers hatte. Er hätte mehr als fähig sein müssen,
um auf dem starken Fundament aufzubauen, das seine Vorgänger gelegt hatten, und
es stimmte, dass Li Feng für kurze Zeit nach seiner Thronbesteigung die
Erwartungen des verstorbenen Kaisers erfüllt hatte. Es stimmte jedoch auch,
dass der Yuanhe-Kaiser seinem Nachfolger ein furchtbares Chaos hinterlassen
hatte. So wie die Dinge lagen, brauchte Groß-Liang einen Kaiser, der sowohl mit
kühner Entschlossenheit als auch mit großer Weitsicht gesegnet war; einen
Herrscher, der in der Lage war, die Nation wieder aufzubauen. Ein Herrscher,
der nur auf dem Fundament seiner Vorgänger aufbauen konnte, reichte nicht mehr
aus.
Seit seiner Thronbesteigung hatte der Longan-Kaiser immer
wieder mit Widrigkeiten zu kämpfen. Wenn er nachts wach lag, fragte er sich oft
mit düsterer Ehrlichkeit: Können wir die Verantwortung für diese Nation
übernehmen?
Doch je mehr ein Mensch an sich selbst zweifelt, desto
weniger kann er es ertragen, dass andere ihn auf die gleiche Weise infrage
stellen. Das gilt vor allem für diejenigen, die eine hohe Machtposition
innehaben.
Wang Guos Lächeln war fast zu einer Fratze erstarrt. „Eure Majestät‒“
„Onkel“, unterbrach ihn Li Feng. „Wir haben in letzter Zeit
eine Frage aufgeworfen. Das Schwarze Eisen-Tigeramulett wurde uns von Kaiser Wu
verliehen. Warum sollte Gu Yun es uns aus eigenem Antrieb zurückgeben?“
Wang Guo blinzelte überrascht, dann nahm er den Mut
zusammen und warf einen Blick auf das Gesicht des Longan-Kaisers. Das schien
eine völlig überflüssige Frage zu sein. Hatte der Kaiser wirklich erwartet,
dass Gu Yun einen Anfall bekommen oder gar rebellieren würde?
„Das liegt daran, dass ...“ Der kaiserliche Onkel Wang
überlegte angestrengt. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und griff auf
seine altbewährte Methode zurück, mit der er die Launen des Kaisers durch
entschlossene Arschkriecherei in den Griff bekam. „Eure Majestät ist ein weiser
Herrscher, ein Herrscher, den man nur einmal in tausend Jahren sieht. Als Eure
Untertanen scheuen wir keine Mühen, um unsere Pflichten zu erfüllen und den
Bedürfnissen Eurer Majestät gerecht zu werden. Das Schwarze Eisen-Tigeramulett
ist eine unbedeutende Angelegenheit. Selbst wenn Eure Majestät das Leben
unserer Familie und all unseren weltlichen Besitz fordern würde, wer würde sich
beschweren?“
Li Feng gluckste leise. „Wir fürchten, das ist nicht
unbedingt der Fall, Onkel. Wir haben es erst heute begriffen: In Wirklichkeit
spielt es keine Rolle, ob Gu Yun das Schwarze Eisen-Tigeramulett
zurückgibt. Wenn es darauf ankäme, wie viele hochrangige Militäroffiziere
Schlüsselpositionen in der ganzen Nation innehaben, wie viele würden dann unter
dem Banner der Familie Gu marschieren? Wenn es um militärische Angelegenheiten
geht, haben die Worte des Grafen mehr Gewicht als unsere. Das Tigeramulett ist
nichts weiter als ein bedeutungsloser Klumpen Eisen. Welchen Nutzen hat er
davon?“
Li Fengs Stimme war leise und sehr sanft. Obwohl er so
sprach, als würden sie eine nette Nachmittagsplauderei führen, konnte Wang Guo
nicht umhin, bei diesem Klang zu erschauern ‒ in seinen Ohren war der
mörderische Unterton in den Worten des Kaisers nur eine Haaresbreite davon
entfernt, an die Oberfläche zu kommen.
„Wir haben Onkel heute hierher gerufen, weil wir mit dir
über die Loulan-Sache sprechen wollten ... aber vergesst es.“ Li Feng winkte
erschöpft mit einer Hand. „Ihr könnt gehen, mein lieber Untertan. Wir sind
müde.“
Wang Guo nickte sofort zustimmend und zog sich
pflichtbewusst aus dem Warmen-Pavillon des Westflügels zurück.
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Es war ein merkwürdiges Jahr. Die Zeit des Regenwassers, war eindeutig vorbei, doch
die Hauptstadt wurde weiterhin von einer Runde nach der anderen von Schneefall
heimgesucht, als ob der hartnäckige Himmel sich noch nicht erschöpft hätte.
Bevor er eine ganze Stunde gekniet hatte, war Gu Yuns Robe mit einer dünnen
Eisschicht überzogen. Die Schwarzen Eisen-Armschienen auf seinen Schultern
waren mit feinem Schnee bedeckt und wurden bitterkalt.
Als Wang Guo in seiner Eile an ihm vorbeiging, erhaschte er
einen Blick auf das bleiche, aber gut aussehende Gesicht des illustren Grafen
des Friedens. Wie schade, seufzte er. Doch das war alles, was er dachte.
Wang Guo war ein vernünftiger Mann; so wie er wusste, wem er seine derzeitige
hohe Stellung verdankte, die nur noch vom Kaiser selbst übertroffen wurde, so
wusste er auch, wie er in dieser Angelegenheit vorgehen musste.
Der Himmel über der Hauptstadt verdunkelte sich zusehends.
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Erst nachdem er Li Feng geholfen hatte, sich für die Nacht
einzurichten, wagte sich Zhu Xiaojiao aus dem Palast und stapfte mit einem
Regenschirm in der Hand zitternd vor Angst und Kälte zu Gu Yun.
Gu Yun war praktisch eins mit dem Schnee geworden. Mit
einer theatralischen Geste fuhr Zhu Xiaojiao fort, den jungen, grau gekleideten
Palastdiener, der im Korridor unter freiem Himmel stand, zurechtzuweisen. „Elender
Diener! Es schneit so stark, und Ihr wisst nicht einmal, wie Ihr dem Grafen
einen Regenschirm holen sollt? Sind diese Augen in Eurem Kopf nur Dekoration?“
Obwohl Zhu Xiaojiao von allen verspottet wurde, war er für
diesen jungen Palastdiener ein hoher Beamter von enormer Bedeutung. Der junge
Mann bebte vor Angst, seine Gesichtsfarbe wurde augenblicklich aschfahl.
Gu Yun blinzelte die Schneeflocken weg, die an seinen
Wimpern klebten, und sagte sanft: „Bitte hört auf, dem Jungen Angst zu machen,
Gonggong. Seine Majestät hat mir gesagt, ich solle mich draußen abkühlen. Wie
kann ich das tun, wenn ich mich mit einem Regenschirm bedecke?“
Zhu Xiaojiao trippelte hinüber, wo er auf dem Boden kniete.
Er versuchte, den Schnee, der Gu Yuns Schultern bedeckte, wegzuwischen, aber in
dem Moment, in dem er danach griff, schrie er: „Aiyo!“, und wich zurück. Gu
Yuns Schwarze Rüstung war so kalt, dass sie fast eine Schicht Haut von Zhu Xiaojiaos
zartem Fleisch abzog. Der alte Eunuch zitterte unkontrolliert und brummte: „Mein
lieber Graf, warum wollt Ihr einen Streit mit Seiner Majestät anfangen? Ihr
werdet Euch sicher die Beine verletzen, wenn Ihr die Nacht so kniend verbringt.
Unterwerfen Sie sich letztendlich nicht dem Leid? Warum tut Ihr so etwas?“
Gu Yun lächelte. „Das ist schon in Ordnung. Wir vom Militär
sind alle knallhart. Ich bin vorhin ein wenig hitzköpfig geworden, habe die
Kontrolle über meine Zunge verloren und zu viel gesagt. Vielen Dank für Ihre
Besorgnis, Zhu-Gonggong.“
Zhu Xiaojiao dachte eine Sekunde lang nach und senkte dann
seine Stimme. „Wie wäre es, wenn ich jemanden schicke, der Prinz Yanbei morgen
früh in den Palast bringt, damit er ein paar freundliche Worte für Euch sprechen
kann?“
Gu Yun schüttelte abermals den Kopf. „Bitte zieht ihn nicht
mit hinein. Ich komme schon zurecht.“
Zhu Xiaojiao überlegte hin und her, aber am Ende konnte er
nichts tun. Er konnte es nicht riskieren, zu lange von der Seite Seiner
Majestät wegzubleiben, denn er fürchtete, der Longan-Kaiser würde mitten in der
Nacht aufwachen und nach ihm rufen. Bevor er ging, stellte er den Schirm neben
Gu Yun ab.
„Zhu-Gonggong“, rief Gu Yun ihm mit leiser Stimme zu. „Vielen
Dank, aber Sie sollten den Schirm lieber mitnehmen.“
Zhu Xiaojiao schreckte auf.
„Ich muss mich nur eine Weile knien. Sobald sich das
Temperament seiner Majestät abgekühlt hat, wird alles gut werden. Ihr seid
einer der persönlichen Diener seiner Majestät ... Ihr dürft ihm keinen Anlass
geben, an Euch zu zweifeln.“
Seine Worte waren vage, aber Zhu Xiaojiao verstand sofort.
Der alte Eunuch seufzte. „Als der Graf mit Seiner Majestät in Streit geriet,
hättet Ihr Euch doch daran erinnern können, so achtsam zu sein, dann müsstet Ihr
nicht diesen Nordwestwind ertragen und in dieser Kälte leiden.“
Als Zhu Xiaojiao weg war, atmete Gu Yun eine Wolke weißen
Nebels aus. Er langweilte sich zu Tode und dachte über das nach, was Chang Geng
im Nationalen Tempel zu ihm gesagt hatte: dass die Bedrohung durch die Drachen
im Ostmeer und die bewaffnete Rebellion im Südwesten wahrscheinlich kein Zufall
waren.
Langsam begann Gu Yun, den dünnen Faden einer Spur
herauszukitzeln.
Als Prinz Wei eine Armee im Ostmeer aufstellte, hatte er
geplant, seine Seemacht zu nutzen, um Groß-Liangs Verteidigung zu durchbrechen.
Gu Yun hatte die Rebellenarmee im Ostmeer mit nur wenigen Verlusten besiegt,
aber aufgrund der politischen Flutwelle, die dieser Vorfall ausgelöst hatte, stand
die Reaktion in keinem Verhältnis zur Bedrohung. Der gesamte kaiserliche Hof
war in Aufruhr geraten, aufgrund dessen wurde die Marine von Jiangnan von oben
bis unten gesäubert. Eine Zeit lang hatte der Kaiser sogar das Lingshu-Institut
angewiesen, seine Ressourcen auf den Aufbau einer Flotte von
Seedrachen-Kriegsschiffen zu konzentrieren. Die militärischen Mittel für die
vier Grenzgarnisonen wurden infolgedessen noch mehr gekürzt.
Die größte Konsequenz der Drachenbedrohung im Ostmeer war
jedoch der Erlass zweier kaiserlicher Edikte: das Gesetz über das Meisterschaftstoken,
das die Aktivitäten der zivilen Handwerker einschränkte, und der
Marschbefehlserlass, der die militärische Macht der Nation zentralisierte.
Letzteres richtete sich direkt gegen Gu Yun, und jetzt, wo er darüber
nachdachte, hatte der Longan-Kaiser ihm nicht ohne Grund das Leben schwer
gemacht. Wahrscheinlich waren seine Aktionen in Jiangnan nicht unbemerkt
geblieben.
Die Verkündung des Marschbefehlserlasses hatte den Konflikt
zwischen den Grenzgarnisonen und dem kaiserlichen Hof so schnell verschärft,
wie die Sonne einen Schatten wirft. Sie war auch die Ursache für den Fall Fu Zhicheng.
Gu Yun war selbst an dem Vorfall im Südwesten beteiligt gewesen, so dass er die
unsichtbare Hand, die die Figuren auf dem Spielbrett manipulierte, leichter
erkennen konnte. Jemand hatte absichtlich einen Konflikt zwischen Fu Zhicheng
und den Bergbanditen geschürt, dann diesen Idioten Kuai Lantu benutzt, um die
Situation zu verschärfen, und den Ausbruch genau auf Gu Yuns Ankunft
abgestimmt. Sie hatten Fu Zhicheng und die Bergbanditen der südlichen Grenze
als Geschenk verpackt und die Hände des Schwarzen Eisenbataillons benutzt, um
beide dem Kaiser in der fernen Hauptstadt als Opfergabe zu präsentieren.
Was würde der Longan-Kaiser wohl davon halten?
Er wäre entsetzt, wenn er feststellen müsste, dass er zwar
den Fluss des Violetten Goldes innerhalb seines Landes eingeschränkt hatte, der
kostbare Brennstoff aber weiterhin aus dem Ausland ins Land strömte.
Gu Yun hatte plötzlich einen anderen Gedanken: Er und
Shen Yi hatten so viel Zeit damit verbracht, sowohl offen als auch heimlich in
Loulan zu suchen, doch sie hatten diese sagenumwobene „Schatzkammer von Loulan“
nie entdeckt. Aber der Kaiser schickt einen einzigen geheimen Abgesandten, der
sich in der Gegend nicht auskennt, um die Dinge zu untersuchen, und nur wenige
Tage später legt dieser Abgesandte einen Lagebericht vor, in dem es heißt, dass
es eine „gute Chance“ für die Existenz einer solchen Ader gibt?
War dieser geheime Gesandte übernatürlich geschickt, oder
hatte ihn jemand absichtlich gelenkt?
Der Schnee wurde schwerer und schwerer. Gu Yun zitterte
heftig. Hinter ihm erlag der Ast eines blühenden Pflaumenbaums der Schneelast
und brach mit einem knackenden Knacken ab, wobei die schönen Blüten
einen vorzeitigen Tod starben.
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Chang Geng wurde von dem Geräusch splitternder Äste unter
dem gefallenen Schnee wachgerüttelt.
Gu Yun war noch nicht zurückgekehrt. Chang Geng hatte die
halbe Nacht auf ihn gewartet und trug noch seine Kleidung vom Vortag. Gerade
hatte er sich leicht dösend an das Kopfende des Bettes gelehnt, doch seine
Träume waren von allerlei grotesken Albträumen erfüllt gewesen. Der Himmel war
schwach erleuchtet ‒ es waren noch viele Stunden bis zur Morgendämmerung ‒ aber
die Fenstergitter leuchteten bereits totenbleich, hell durch die Lichtreflexe
des fallenden Schnees. Chang Geng stand auf und öffnete die Tür gerade noch
rechtzeitig, um Onkel Wang zu sehen, der auf ihn zueilte.
„Onkel Wang, bitte macht langsam“, rief Chang Geng ihm zu. „Was
ist denn los?“
Trotz des kalten Nordwinds, der durch das Anwesen wehte,
stand dem alten Haushälter der Schweiß auf der Stirn, weil er hierher gerannt
war. „Eure Hoheit, es gibt Neuigkeiten aus dem Palast: Der Graf hat sich letzte
Nacht aus irgendeinem Grund dem Kaiser widersetzt, was seine Majestät zu einem
Wutausbruch veranlasst hat ...“
Die Pupillen von Chang Geng verengten sich.
Kurz darauf verließ ein edles Pferd im Schutze der Nacht
den Hinterhof des Grafenanwesens. Es galoppierte in Richtung des Nationalen
Tempels, umtost von Wind und Schnee.
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Am nächsten Tag fand keine große Versammlung statt, so dass
der Longan-Kaiser nicht früh aufzustehen brauchte. Doch wegen der übermäßigen
inneren Hitze in seiner Leber schlief er schlecht und erwachte in einem
angeschlagenen Zustand. Als Zhu Xiaojiao seinen Zustand bemerkte, trat er
geschickt näher und begann, die Schläfen des Longan-Kaisers zu massieren. Er
fuhr damit fort, während er sagte: „Eure Majestät, die Sindhu-Räucherstäbchen, des
großen Meisters Liao Chi, die er Euch neulich geschenkt hat, sind bemerkenswert
wirksam, um Körper und Geist zu beruhigen. Eure Majestät sagte, sie seien
ausgezeichnet, als Ihr sie ausprobiert habt, nicht wahr? Wie wäre es, wenn ich
ihn jetzt für Euch anzünde?“
Li Feng murmelte seine Zustimmung. Nach einer Pause fragte
er: „Ist der große Meister noch im Palast?“
Liao Chi, der Abt des Nationalen Tempels, hielt sich den
gesamten ersten Monat des Jahres im kaiserlichen Palast auf, um für die Nation
von Groß-Liang um Segen zu beten. Während er hier war, erläuterte er die
Klassiker des Buddhismus und gab dem tiefgläubigen Longan-Kaiser spirituellen
Beistand.
„Er ist es“, antwortete Zhu Xiaojiao in Eile. „Ich habe
gehört, dass der große Meister früh aufgestanden ist, um die morgendliche
Rezitation zu halten, so wie er es immer tut, bei Regen oder Sonnenschein.
Dieser alte Diener sieht, dass die Augen Eurer Majestät ein wenig rot sind.
Vielleicht liegt es an der inneren Hitze. Warum rufen wir nicht den großen
Meister her, damit er einige buddhistische Schriften rezitiert und Eurer
Majestät bei der Meditation hilft?“
Li Feng schnaubte verächtlich. „Was für eine
Unverschämtheit. Der große Meister Liao Chi ist einer der bedeutendsten Mönche
unserer Zeit. Was soll das? Behandelt Ihr ihn wie einen niederen
Straßenkünstler?“
Zhu Xiaojiao verpasste sich prompt selbst eine Ohrfeige und
lächelte entschuldigend. „Ja, mein verfluchter Mund mal wieder. Wieder einmal
habe ich mich wegen meines Mangels an Einsicht zum Narren gemacht ‒ aber auch
wenn dieser alte Diener es nicht versteht, wenn ich dem großen Meister Liao Chi
zuhöre, wie er seinen Holzfisch schlägt, scheinen
alle Sorgen in meinem Herzen zu schmelzen.“
Li Feng war gerührt von diesem Vorschlag. Nach kurzem
Überlegen sagte er: „Wenn das so ist, werden wir den großen Meister bitten zu
kommen.“
Zhu Xiaojiao gab ein zustimmendes Geräusch von sich und gab
seine Anweisungen weiter, dann kehrte er zurück, um dem Kaiser schweigend zu
helfen, sich zu waschen und sich eine frische Robe anzuziehen.
„Wo ist Gu Yun?“, fragte Li Feng plötzlich.
Zhu Xiaojiao wollte ihn schon die ganze Zeit erwähnen,
hatte aber zu viel Angst, das Thema anzusprechen. Er antwortete hastig: „Um
Eurer Majestät zu antworten, der Graf kniet immer noch vor dem Warmen-Pavillon.“
Li Feng spottete leise, ungerührt. Zhu Xiaojiao wagte es
nicht, Gu Yun noch einmal zu erwähnen. Er konnte nur hoffen, dass der alte
Mönch, der unzuverlässige Retter, der er war, von Nutzen sein würde.
Bald darauf kam der große Meister Liao Chi am Warmen-Pavillon
im Westflügel an. Mit langsamen, gemessenen Schritten und gesenktem Kopf ging
er hinein, als ob er den Schneemann, der vor dem Palast kniete, gar nicht
gesehen hätte.
Wer weiß, was für einen magischen Amitabha-Buddha-Trank der
alte Mönch dem Longan-Kaiser in die Kehle geschüttet hatte, aber kurz nach
seiner Ankunft kam Zhu Xiaojiao herausgehuscht. „Seine Majestät hat verfügt,
dass wegen seines Verstoßes gegen die Etikette und seiner Unverschämtheit
gegenüber Seiner Majestät dem Grafen von Anding vorübergehend das Befehlssiegel
entzogen wird“, erklärte er hochmütig. „Er wird drei Monatsgehälter einbüßen,
auf das Grafenanwesen zurückkehren und in Abgeschiedenheit über seine
Verfehlungen nachdenken.“
Gu Yun zuckte überrascht zusammen, Zhu Xiaojiao warf ihm
einen bedeutungsvollen Blick zu.
„Dieser bescheidene Diener nimmt diesen Erlass an und dankt
Seiner Majestät für seine Gunst.“
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, erhob Zhu Xiaojiao seine
Stimme und schimpfte über die Diener, die an der Seite standen. „Seht Euch all
diese nutzlosen Affen an, die hier herumlungern! Beeilt euch und helft dem
Grafen auf!“
Doch bevor er seine Anweisungen beenden konnte, war Gu Yun
bereits aufgestanden. Seine vier Gliedmaßen fühlten sich an, als wären sie von
scharfen Nadeln durchbohrt worden. Der geschmolzene Schnee hatte seine Robe und
seine Eisenrüstung längst durchweicht, so dass er völlig durchnässt war, ein
furchtbarer Schauer durchfuhr seine Knochen. Gu Yun schlang die Hände um Zhu
Xiaojiao und wandte sich dann um, um den Palast zu verlassen, sein Herz war
schwer vor Sorge. Ist der alte kahlköpfige Esel besessen worden? Warum sollte
er mir helfen? Er war völlig verwirrt.
Das heißt, bis er Chang Geng erblickte, der hinter dem
Palasttor auf ihn wartete.
Gu Yun dämmerte das Verständnis. „Du warst es also, der
Leben in den Nationalen Tempel gebracht hat“, sagte er mit einem Lächeln. „Ich
habe mich schon gewundert, warum der kahlköpfige, alte Esel so freundlich war.“
Chang Geng war nicht in der Lage, zu antworten. Er wickelte
einen dicken Fuchspelzmantel um Gu Yun, ohne auf die Erlaubnis zu warten, und
berührte dann sein Gesicht. Ganz gleich, wie zäh er war, Gu Yuns Reaktionen
waren träge, nachdem er eine Nacht in der Kälte verbracht hatte. Bevor er auch
nur zusammenzucken konnte, landete Chang Gengs Hand genau auf seinem Ziel.
Diese Berührung war viel zu aufreizend. Es wäre unangenehm
gewesen, ob Gu Yun nun auswich oder nicht, also konnte er nur einen Scherz
machen. „Willst du mir in die Augen schauen und mir die
Zukunft voraussagen, oder was?“
Wer wusste schon, ob dieser Mensch ungewöhnlich tolerant
gegenüber seinen Umständen war oder ob er sich wirklich keine Sorgen um die
Welt machte. Er war halb erfroren, aber er machte immer noch seine Späße!
Chang Geng zerrte Gu Yun ohne ein weiteres Wort in seine
Kutsche. Sein Herz schmerzte so sehr, dass die Ränder seiner Augen leicht
gerötet waren.
Als Gu Yun die Kutsche betrat, überkam ihn eine Welle der
Wärme. Er rieb seine Hände aneinander und wandte sich an Chang Geng. „Gibt es
Wein?“, fragte er. „Schenk mir einen Becher ein.“
Chang Geng antwortete nicht. Gu Yun schaute ihn an und
betrachtete seine Augen, die jetzt so rot waren, als würden sie gleich Blut
tropfen. Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Meine Güte, ich habe dich
nicht einmal als Kind weinen sehen. Heute habe ich etwas ganz Neues erlebt.
Onkel Wang soll schnell eine Schüssel holen, um diese Tränen aufzufangen. Seine
Majestät hat mir drei Monate meines Gehalts abgezogen, aber dank dieser Perlen,
die du vergossen hast, werden wir immer was zu essen haben.“
Natürlich war Chang Geng nicht den Tränen nahe ‒ er
versuchte, einen Angriff des Wu'ergus zu unterdrücken. Seit er gehört hatte,
dass Gu Yun die Nacht kniend im Schnee verbracht hatte, war sein Geist von
einer Welle nach der anderen von Halluzinationen und Tötungsabsichten
heimgesucht worden.
Gu Yun spürte schließlich, dass mit dem Blick in seinen
Augen etwas nicht stimmte. „Chang Geng?“
Chang Geng zwang sich, zu atmen. „Yifu, zieh dich erst
einmal um“, presste er aus seiner Kehle hervor.
Seine Stimme war heiser, wie zwei rostige Eisenstücke, die
aneinander rieben. Gu Yun runzelte bei diesem Geräusch die Stirn und
beobachtete ihn genau, während er den triefend nassen Knoten seines Haares
löste und schnell die trockene Kleidung anzog, die in der Kutsche bereitlag.
Chang Geng wagte es nicht, ihn anzuschauen. Er saß mit gesenktem Blick an der
Seite und machte die Atemübungen, die Fräulein Chen ihm beigebracht hatte, um
seinen Geist langsam zu beruhigen. Doch obwohl das Rascheln des Stoffes so leise
wie ein Seufzer war und vom Rumpeln der Kutsche leicht hätte übertönt werden
müssen, war es in diesem Moment, als hätte das Geräusch ein Eigenleben
entwickelt. Es grub sich in seine Ohren, und anstatt sich zu beruhigen, wurde
Chang Gengs Herz mit jedem Atemzug unruhiger.
Erst als Gu Yun seine Krone mit einem Klirren auf dem
kleinen Schreibtisch in der Kutsche ablegte, wurde Chang Geng aus seiner Trance
gerissen. „Ich habe ein wärmendes Tonikum gebraut, um die Kälte aus deinem
Körper zu vertreiben“, sagte er. „Du solltest ‒“
Seine Worte wurden abrupt unterbrochen, als Gu Yuns
eiskalte Finger sein Handgelenk erfassten.
Chang Geng zitterte. Er wollte sich losreißen, aber Gu Yuns
Griff war fest, während er seinen Puls überprüfte. Er rief leise: „Yifu ...“
„Ich bin nicht besonders gut im Pulslesen“, sagte Gu Yun
mit grimmigem Gesicht, „aber ich weiß, wie eine Qi-Abweichung
aussieht, die durch unsachgemäßes Kampftraining verursacht wurde.“
Chang Geng wich Gu Yuns Blick mit einem Ausdruck von
erbärmlichem Elend aus.
„Chang Geng, sag mir die Wahrheit. Gibt es ...“ Gu Yun
hielt unbeholfen inne. Obwohl seine Haut so dick wie eine Stadtmauer war, fiel
es ihm schwer, die nächsten Worte zu sagen.
Als ob er ahnte, was kommen würde, hob Chang Geng langsam
seine geröteten Augen. Nach einem Moment der Stille fasste Gu Yun sich ein
Herz. Er nahm noch mehr Mut zusammen, als er gebraucht hatte, um dem Kaiser zu
trotzen, und zwang sich, die Worte auszusprechen. „Gibt es etwas, das du mir
verschweigst? Ein unaussprechliches Geheimnis?“
Chang Geng schluckte einige ängstliche Atemzüge hinunter
und fragte dann mit leiser Stimme: „Ein Geheimnis welcher Art?“
„... der romantischen Art.“
Erklärungen:
Die Zeit des „Regenwassers“, 雨水, ist die zweite der vierundzwanzig
Sonnenperioden, um den 18., 19. oder 20. Februar.
Ein Holzfisch ist eine Art
Holzblock, der von buddhistischen Mönchen während des rituellen Rezitierens von
Sutren, Mantras oder anderen buddhistischen Texten verwendet wird.
… in die Augen schauen und mir die Zukunft
voraussagen: Bei der traditionellen chinesischen Wahrsagerei betrachtet
ein erfahrener Wahrsager die Augen während des Lesens genau. Er achtet auf die
Form, die Farbe und die Klarheit der Augen. Es wird angenommen, dass jedes
Detail Aufschluss über das Leben, den Charakter und die Zukunft gibt. So werden
zum Beispiel klare und helle Augen mit Glück in Verbindung gebracht, während
trübe oder stumpfe Augen auf Herausforderungen hinweisen können.
Eine Qi-Abweichung ist eine
physiologische und psychologische Störung, von der angenommen wird, dass sie durch
unsachgemäßes spirituelles oder kämpferisches Training entsteht. Zu den
Symptomen einer Qi-Abweichung in der Fiktion gehören Panik, Paranoia,
sensorische Halluzinationen und der Tod.
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kommt das geheimnis endlich an die luft? oder nicht? ..... ich hoffe ja insgeheim das es später rauskommt.... wir bleiben gespannt
AntwortenLöschenTja, das erfährst du im nächsten Kapitel. Aber deine Hoffnung wird wird sich glaube ich nicht erfüllen.
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