Kapitel 50 ~ Tötungsabsichten

Die Fußbodenheizung des Warmen-Pavillons fügte in regelmäßigen Abständen automatisch Kohle hinzu. Die reisschalengroßen Zahnräder griffen reibungslos ineinander. Ob sie nun Kohle nachfüllten oder den Rauch wegbliesen – alles bewegte sich in mechanischer Harmonie. Weiße Dampfschwaden strömten in Spiralen aus dem hinteren Teil der Maschine, die gelegentlich leise Seufzer von sich gab.

Auf dem Boden darüber standen sich Herrscher und Untertan ‒ einer stehend, einer kniend ‒ gegenüber. Li Feng umklammerte die Kante des mit Drachengravuren verzierten Schreibtisches, die Adern traten hervor. Sein Unmut war aus jedem Wort herauszuhören und er antwortete: „Sagt das noch einmal.

Gu Yun hatte sich bereits geäußert; er wusste, dass er nicht zu weit gehen sollte, um dem Kaiser zu trotzen. Prompt gab er nach. „Dieser Untertan verdient tausend Tode.“

Mit aschfahlem Gesicht drehte Li Feng zwanghaft den weißen Jadering an seinem Finger hin und her.

„Aber“, fuhr Gu Yun mit leiser Stimme fort, „wenn es um die Angelegenheit Seidenstraße geht. Ist es so als würde man an einem Faden ziehen, nur damit sich alles andere mitauflöst. Ich bitte Eure Majestät, diese Entscheidung gründlich zu überdenken.“

„Hat der Graf von Anding den Eindruck, dass wir außer Ihnen keine anderen fähigen Generäle zur Verfügung haben?“, fragte Li Feng mit einem furchtbaren Frösteln in seiner Stimme.

Ihr Gespräch hatte bereits einen kritischen Punkt erreicht. Wenn es so weiterging, würde es nur zu einem ausgewachsenen Streit ausarten. Gu Yun presste die Lippen aufeinander und tat sein Bestes, um sich tot zu stellen.

In diesem Moment stürmte Zhu Xiaojiao in den Warmen-Pavillon. „Eure Majestät“, verkündete er mit hoher Stimme, als würde er die Rolle einer alten Frau in einer Oper singen, „der kaiserliche Onkel Wang ist angekommen. Er steht draußen und wartet auf Eure Erlaubnis, einzutreten ...“

Wenn andere hochrangige Minister den Kaiser aufsuchten, während er vor Wut raste, rieten die Hofbediensteten ihnen, außerhalb des Saals zu warten. Indem Zhu Xiaojiao auf diese Weise vortrat, half er Gu Yun absichtlich aus seiner misslichen Lage heraus. Gu Yun warf dem alten Eunuchen einen Blick zu und blinzelte einmal, um seine Dankbarkeit zu zeigen.

Li Fengs Augenwinkel zuckten mehrmals, während sich seine Gesichtszüge strafften. Er blickte hochmütig auf Gu Yun herab. „Ich sehe, die Hitze der Kohlen hat dem Grafen von Anding den Kopf vernebelt“, sagte er kalt. „Wenn das so ist, solltet Ihr Euch vielleicht draußen abkühlen, damit Ihr nicht vergesst, was gesagt werden kann und was nicht!“

Gu Yun machte einen tiefen Kotau, seine Stirn berührte den Boden. „Bitte passt auf Euch auf, Eure Majestät.“

Mit gesenktem Kopf verließ er den Warmen-Pavillon. Als er den Schnee außerhalb der Halle erreichte, ließ er sich leicht auf die Knie fallen und kühlte sich wie befohlen ab.

Li Feng beobachtete Gu Yuns verschwindende Gestalt, seine Augen blitzten bedrohlich. Der kaiserliche Onkel Wang trat kurz darauf ein. Er hatte Angst, auch nur schwer zu atmen, und blieb abwartend an der Seite stehen. Ein unaufmerksamer junger Palastdiener trat vor, um den Tintenstein aufzuräumen, der über der Rüstung des Grafen von Anding zerbrochen war, und erstarrte dann auf einen spitzen Blick von Zhu Xiaojiao. Wie versteinert stand der Diener mehrere Sekunden lang in panischem Schweigen, bevor er sich an die Wand zurückzog und die Flucht ergriff.

Wang Guo studierte die Miene des Kaisers und beschwichtigte ihn mit leiser Stimme. „Eure Majestät, der Graf von Anding ist noch jung und ungestüm. Er ist es gewohnt, an der Seite der blutrünstigen Raufbolde in den Grenzgarnisonen zu dienen. Wenn es ihm manchmal an Anstand mangelt, ist das nur zu erwarten. Es ist den Zorn Eurer Majestät nicht wert.“

Li Feng schwieg eine ganze Weile.

Vor Jahren hatte der Yuanhe-Kaiser sich in den Kopf gesetzt, Li Feng zum Kronprinzen zu ernennen, weil er fleißig und klug war und die Haltung eines weisen Herrschers hatte. Er hätte mehr als fähig sein müssen, um auf dem starken Fundament aufzubauen, das seine Vorgänger gelegt hatten, und es stimmte, dass Li Feng für kurze Zeit nach seiner Thronbesteigung die Erwartungen des verstorbenen Kaisers erfüllt hatte. Es stimmte jedoch auch, dass der Yuanhe-Kaiser seinem Nachfolger ein furchtbares Chaos hinterlassen hatte. So wie die Dinge lagen, brauchte Groß-Liang einen Kaiser, der sowohl mit kühner Entschlossenheit als auch mit großer Weitsicht gesegnet war; einen Herrscher, der in der Lage war, die Nation wieder aufzubauen. Ein Herrscher, der nur auf dem Fundament seiner Vorgänger aufbauen konnte, reichte nicht mehr aus.

Seit seiner Thronbesteigung hatte der Longan-Kaiser immer wieder mit Widrigkeiten zu kämpfen. Wenn er nachts wach lag, fragte er sich oft mit düsterer Ehrlichkeit: Können wir die Verantwortung für diese Nation übernehmen?

Doch je mehr ein Mensch an sich selbst zweifelt, desto weniger kann er es ertragen, dass andere ihn auf die gleiche Weise infrage stellen. Das gilt vor allem für diejenigen, die eine hohe Machtposition innehaben.

Wang Guos Lächeln war fast zu einer Fratze erstarrt. „Eure Majestät‒“

„Onkel“, unterbrach ihn Li Feng. „Wir haben in letzter Zeit eine Frage aufgeworfen. Das Schwarze Eisen-Tigeramulett wurde uns von Kaiser Wu verliehen. Warum sollte Gu Yun es uns aus eigenem Antrieb zurückgeben?“

Wang Guo blinzelte überrascht, dann nahm er den Mut zusammen und warf einen Blick auf das Gesicht des Longan-Kaisers. Das schien eine völlig überflüssige Frage zu sein. Hatte der Kaiser wirklich erwartet, dass Gu Yun einen Anfall bekommen oder gar rebellieren würde?

„Das liegt daran, dass ...“ Der kaiserliche Onkel Wang überlegte angestrengt. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und griff auf seine altbewährte Methode zurück, mit der er die Launen des Kaisers durch entschlossene Arschkriecherei in den Griff bekam. „Eure Majestät ist ein weiser Herrscher, ein Herrscher, den man nur einmal in tausend Jahren sieht. Als Eure Untertanen scheuen wir keine Mühen, um unsere Pflichten zu erfüllen und den Bedürfnissen Eurer Majestät gerecht zu werden. Das Schwarze Eisen-Tigeramulett ist eine unbedeutende Angelegenheit. Selbst wenn Eure Majestät das Leben unserer Familie und all unseren weltlichen Besitz fordern würde, wer würde sich beschweren?“

Li Feng gluckste leise. „Wir fürchten, das ist nicht unbedingt der Fall, Onkel. Wir haben es erst heute begriffen: In Wirklichkeit spielt es keine Rolle, ob Gu Yun das Schwarze Eisen-Tigeramulett zurückgibt. Wenn es darauf ankäme, wie viele hochrangige Militäroffiziere Schlüsselpositionen in der ganzen Nation innehaben, wie viele würden dann unter dem Banner der Familie Gu marschieren? Wenn es um militärische Angelegenheiten geht, haben die Worte des Grafen mehr Gewicht als unsere. Das Tigeramulett ist nichts weiter als ein bedeutungsloser Klumpen Eisen. Welchen Nutzen hat er davon?“

Li Fengs Stimme war leise und sehr sanft. Obwohl er so sprach, als würden sie eine nette Nachmittagsplauderei führen, konnte Wang Guo nicht umhin, bei diesem Klang zu erschauern ‒ in seinen Ohren war der mörderische Unterton in den Worten des Kaisers nur eine Haaresbreite davon entfernt, an die Oberfläche zu kommen.

„Wir haben Onkel heute hierher gerufen, weil wir mit dir über die Loulan-Sache sprechen wollten ... aber vergesst es.“ Li Feng winkte erschöpft mit einer Hand. „Ihr könnt gehen, mein lieber Untertan. Wir sind müde.“

Wang Guo nickte sofort zustimmend und zog sich pflichtbewusst aus dem Warmen-Pavillon des Westflügels zurück.

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Es war ein merkwürdiges Jahr. Die Zeit des Regenwassers, war eindeutig vorbei, doch die Hauptstadt wurde weiterhin von einer Runde nach der anderen von Schneefall heimgesucht, als ob der hartnäckige Himmel sich noch nicht erschöpft hätte. Bevor er eine ganze Stunde gekniet hatte, war Gu Yuns Robe mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Die Schwarzen Eisen-Armschienen auf seinen Schultern waren mit feinem Schnee bedeckt und wurden bitterkalt.

Als Wang Guo in seiner Eile an ihm vorbeiging, erhaschte er einen Blick auf das bleiche, aber gut aussehende Gesicht des illustren Grafen des Friedens. Wie schade, seufzte er. Doch das war alles, was er dachte. Wang Guo war ein vernünftiger Mann; so wie er wusste, wem er seine derzeitige hohe Stellung verdankte, die nur noch vom Kaiser selbst übertroffen wurde, so wusste er auch, wie er in dieser Angelegenheit vorgehen musste.

Der Himmel über der Hauptstadt verdunkelte sich zusehends.

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Erst nachdem er Li Feng geholfen hatte, sich für die Nacht einzurichten, wagte sich Zhu Xiaojiao aus dem Palast und stapfte mit einem Regenschirm in der Hand zitternd vor Angst und Kälte zu Gu Yun.

Gu Yun war praktisch eins mit dem Schnee geworden. Mit einer theatralischen Geste fuhr Zhu Xiaojiao fort, den jungen, grau gekleideten Palastdiener, der im Korridor unter freiem Himmel stand, zurechtzuweisen. „Elender Diener! Es schneit so stark, und Ihr wisst nicht einmal, wie Ihr dem Grafen einen Regenschirm holen sollt? Sind diese Augen in Eurem Kopf nur Dekoration?“

Obwohl Zhu Xiaojiao von allen verspottet wurde, war er für diesen jungen Palastdiener ein hoher Beamter von enormer Bedeutung. Der junge Mann bebte vor Angst, seine Gesichtsfarbe wurde augenblicklich aschfahl.

Gu Yun blinzelte die Schneeflocken weg, die an seinen Wimpern klebten, und sagte sanft: „Bitte hört auf, dem Jungen Angst zu machen, Gonggong. Seine Majestät hat mir gesagt, ich solle mich draußen abkühlen. Wie kann ich das tun, wenn ich mich mit einem Regenschirm bedecke?“

Zhu Xiaojiao trippelte hinüber, wo er auf dem Boden kniete. Er versuchte, den Schnee, der Gu Yuns Schultern bedeckte, wegzuwischen, aber in dem Moment, in dem er danach griff, schrie er: „Aiyo!“, und wich zurück. Gu Yuns Schwarze Rüstung war so kalt, dass sie fast eine Schicht Haut von Zhu Xiaojiaos zartem Fleisch abzog. Der alte Eunuch zitterte unkontrolliert und brummte: „Mein lieber Graf, warum wollt Ihr einen Streit mit Seiner Majestät anfangen? Ihr werdet Euch sicher die Beine verletzen, wenn Ihr die Nacht so kniend verbringt. Unterwerfen Sie sich letztendlich nicht dem Leid? Warum tut Ihr so etwas?“

Gu Yun lächelte. „Das ist schon in Ordnung. Wir vom Militär sind alle knallhart. Ich bin vorhin ein wenig hitzköpfig geworden, habe die Kontrolle über meine Zunge verloren und zu viel gesagt. Vielen Dank für Ihre Besorgnis, Zhu-Gonggong.“

Zhu Xiaojiao dachte eine Sekunde lang nach und senkte dann seine Stimme. „Wie wäre es, wenn ich jemanden schicke, der Prinz Yanbei morgen früh in den Palast bringt, damit er ein paar freundliche Worte für Euch sprechen kann?“

Gu Yun schüttelte abermals den Kopf. „Bitte zieht ihn nicht mit hinein. Ich komme schon zurecht.“

Zhu Xiaojiao überlegte hin und her, aber am Ende konnte er nichts tun. Er konnte es nicht riskieren, zu lange von der Seite Seiner Majestät wegzubleiben, denn er fürchtete, der Longan-Kaiser würde mitten in der Nacht aufwachen und nach ihm rufen. Bevor er ging, stellte er den Schirm neben Gu Yun ab.

„Zhu-Gonggong“, rief Gu Yun ihm mit leiser Stimme zu. „Vielen Dank, aber Sie sollten den Schirm lieber mitnehmen.“

Zhu Xiaojiao schreckte auf.

„Ich muss mich nur eine Weile knien. Sobald sich das Temperament seiner Majestät abgekühlt hat, wird alles gut werden. Ihr seid einer der persönlichen Diener seiner Majestät ... Ihr dürft ihm keinen Anlass geben, an Euch zu zweifeln.“

Seine Worte waren vage, aber Zhu Xiaojiao verstand sofort. Der alte Eunuch seufzte. „Als der Graf mit Seiner Majestät in Streit geriet, hättet Ihr Euch doch daran erinnern können, so achtsam zu sein, dann müsstet Ihr nicht diesen Nordwestwind ertragen und in dieser Kälte leiden.“

Als Zhu Xiaojiao weg war, atmete Gu Yun eine Wolke weißen Nebels aus. Er langweilte sich zu Tode und dachte über das nach, was Chang Geng im Nationalen Tempel zu ihm gesagt hatte: dass die Bedrohung durch die Drachen im Ostmeer und die bewaffnete Rebellion im Südwesten wahrscheinlich kein Zufall waren.

Langsam begann Gu Yun, den dünnen Faden einer Spur herauszukitzeln.

Als Prinz Wei eine Armee im Ostmeer aufstellte, hatte er geplant, seine Seemacht zu nutzen, um Groß-Liangs Verteidigung zu durchbrechen. Gu Yun hatte die Rebellenarmee im Ostmeer mit nur wenigen Verlusten besiegt, aber aufgrund der politischen Flutwelle, die dieser Vorfall ausgelöst hatte, stand die Reaktion in keinem Verhältnis zur Bedrohung. Der gesamte kaiserliche Hof war in Aufruhr geraten, aufgrund dessen wurde die Marine von Jiangnan von oben bis unten gesäubert. Eine Zeit lang hatte der Kaiser sogar das Lingshu-Institut angewiesen, seine Ressourcen auf den Aufbau einer Flotte von Seedrachen-Kriegsschiffen zu konzentrieren. Die militärischen Mittel für die vier Grenzgarnisonen wurden infolgedessen noch mehr gekürzt.

Die größte Konsequenz der Drachenbedrohung im Ostmeer war jedoch der Erlass zweier kaiserlicher Edikte: das Gesetz über das Meisterschaftstoken, das die Aktivitäten der zivilen Handwerker einschränkte, und der Marschbefehlserlass, der die militärische Macht der Nation zentralisierte. Letzteres richtete sich direkt gegen Gu Yun, und jetzt, wo er darüber nachdachte, hatte der Longan-Kaiser ihm nicht ohne Grund das Leben schwer gemacht. Wahrscheinlich waren seine Aktionen in Jiangnan nicht unbemerkt geblieben.

Die Verkündung des Marschbefehlserlasses hatte den Konflikt zwischen den Grenzgarnisonen und dem kaiserlichen Hof so schnell verschärft, wie die Sonne einen Schatten wirft. Sie war auch die Ursache für den Fall Fu Zhicheng. Gu Yun war selbst an dem Vorfall im Südwesten beteiligt gewesen, so dass er die unsichtbare Hand, die die Figuren auf dem Spielbrett manipulierte, leichter erkennen konnte. Jemand hatte absichtlich einen Konflikt zwischen Fu Zhicheng und den Bergbanditen geschürt, dann diesen Idioten Kuai Lantu benutzt, um die Situation zu verschärfen, und den Ausbruch genau auf Gu Yuns Ankunft abgestimmt. Sie hatten Fu Zhicheng und die Bergbanditen der südlichen Grenze als Geschenk verpackt und die Hände des Schwarzen Eisenbataillons benutzt, um beide dem Kaiser in der fernen Hauptstadt als Opfergabe zu präsentieren.

Was würde der Longan-Kaiser wohl davon halten?

Er wäre entsetzt, wenn er feststellen müsste, dass er zwar den Fluss des Violetten Goldes innerhalb seines Landes eingeschränkt hatte, der kostbare Brennstoff aber weiterhin aus dem Ausland ins Land strömte.

Gu Yun hatte plötzlich einen anderen Gedanken: Er und Shen Yi hatten so viel Zeit damit verbracht, sowohl offen als auch heimlich in Loulan zu suchen, doch sie hatten diese sagenumwobene „Schatzkammer von Loulan“ nie entdeckt. Aber der Kaiser schickt einen einzigen geheimen Abgesandten, der sich in der Gegend nicht auskennt, um die Dinge zu untersuchen, und nur wenige Tage später legt dieser Abgesandte einen Lagebericht vor, in dem es heißt, dass es eine „gute Chance“ für die Existenz einer solchen Ader gibt?

War dieser geheime Gesandte übernatürlich geschickt, oder hatte ihn jemand absichtlich gelenkt?

Der Schnee wurde schwerer und schwerer. Gu Yun zitterte heftig. Hinter ihm erlag der Ast eines blühenden Pflaumenbaums der Schneelast und brach mit einem knackenden Knacken ab, wobei die schönen Blüten einen vorzeitigen Tod starben.

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Chang Geng wurde von dem Geräusch splitternder Äste unter dem gefallenen Schnee wachgerüttelt.

Gu Yun war noch nicht zurückgekehrt. Chang Geng hatte die halbe Nacht auf ihn gewartet und trug noch seine Kleidung vom Vortag. Gerade hatte er sich leicht dösend an das Kopfende des Bettes gelehnt, doch seine Träume waren von allerlei grotesken Albträumen erfüllt gewesen. Der Himmel war schwach erleuchtet ‒ es waren noch viele Stunden bis zur Morgendämmerung ‒ aber die Fenstergitter leuchteten bereits totenbleich, hell durch die Lichtreflexe des fallenden Schnees. Chang Geng stand auf und öffnete die Tür gerade noch rechtzeitig, um Onkel Wang zu sehen, der auf ihn zueilte.

„Onkel Wang, bitte macht langsam“, rief Chang Geng ihm zu. „Was ist denn los?“

Trotz des kalten Nordwinds, der durch das Anwesen wehte, stand dem alten Haushälter der Schweiß auf der Stirn, weil er hierher gerannt war. „Eure Hoheit, es gibt Neuigkeiten aus dem Palast: Der Graf hat sich letzte Nacht aus irgendeinem Grund dem Kaiser widersetzt, was seine Majestät zu einem Wutausbruch veranlasst hat ...“

Die Pupillen von Chang Geng verengten sich.

Kurz darauf verließ ein edles Pferd im Schutze der Nacht den Hinterhof des Grafenanwesens. Es galoppierte in Richtung des Nationalen Tempels, umtost von Wind und Schnee.

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Am nächsten Tag fand keine große Versammlung statt, so dass der Longan-Kaiser nicht früh aufzustehen brauchte. Doch wegen der übermäßigen inneren Hitze in seiner Leber schlief er schlecht und erwachte in einem angeschlagenen Zustand. Als Zhu Xiaojiao seinen Zustand bemerkte, trat er geschickt näher und begann, die Schläfen des Longan-Kaisers zu massieren. Er fuhr damit fort, während er sagte: „Eure Majestät, die Sindhu-Räucherstäbchen, des großen Meisters Liao Chi, die er Euch neulich geschenkt hat, sind bemerkenswert wirksam, um Körper und Geist zu beruhigen. Eure Majestät sagte, sie seien ausgezeichnet, als Ihr sie ausprobiert habt, nicht wahr? Wie wäre es, wenn ich ihn jetzt für Euch anzünde?“

Li Feng murmelte seine Zustimmung. Nach einer Pause fragte er: „Ist der große Meister noch im Palast?“

Liao Chi, der Abt des Nationalen Tempels, hielt sich den gesamten ersten Monat des Jahres im kaiserlichen Palast auf, um für die Nation von Groß-Liang um Segen zu beten. Während er hier war, erläuterte er die Klassiker des Buddhismus und gab dem tiefgläubigen Longan-Kaiser spirituellen Beistand.

„Er ist es“, antwortete Zhu Xiaojiao in Eile. „Ich habe gehört, dass der große Meister früh aufgestanden ist, um die morgendliche Rezitation zu halten, so wie er es immer tut, bei Regen oder Sonnenschein. Dieser alte Diener sieht, dass die Augen Eurer Majestät ein wenig rot sind. Vielleicht liegt es an der inneren Hitze. Warum rufen wir nicht den großen Meister her, damit er einige buddhistische Schriften rezitiert und Eurer Majestät bei der Meditation hilft?“

Li Feng schnaubte verächtlich. „Was für eine Unverschämtheit. Der große Meister Liao Chi ist einer der bedeutendsten Mönche unserer Zeit. Was soll das? Behandelt Ihr ihn wie einen niederen Straßenkünstler?“

Zhu Xiaojiao verpasste sich prompt selbst eine Ohrfeige und lächelte entschuldigend. „Ja, mein verfluchter Mund mal wieder. Wieder einmal habe ich mich wegen meines Mangels an Einsicht zum Narren gemacht ‒ aber auch wenn dieser alte Diener es nicht versteht, wenn ich dem großen Meister Liao Chi zuhöre, wie er seinen Holzfisch schlägt, scheinen alle Sorgen in meinem Herzen zu schmelzen.“

Li Feng war gerührt von diesem Vorschlag. Nach kurzem Überlegen sagte er: „Wenn das so ist, werden wir den großen Meister bitten zu kommen.“

Zhu Xiaojiao gab ein zustimmendes Geräusch von sich und gab seine Anweisungen weiter, dann kehrte er zurück, um dem Kaiser schweigend zu helfen, sich zu waschen und sich eine frische Robe anzuziehen.

„Wo ist Gu Yun?“, fragte Li Feng plötzlich.

Zhu Xiaojiao wollte ihn schon die ganze Zeit erwähnen, hatte aber zu viel Angst, das Thema anzusprechen. Er antwortete hastig: „Um Eurer Majestät zu antworten, der Graf kniet immer noch vor dem Warmen-Pavillon.“

Li Feng spottete leise, ungerührt. Zhu Xiaojiao wagte es nicht, Gu Yun noch einmal zu erwähnen. Er konnte nur hoffen, dass der alte Mönch, der unzuverlässige Retter, der er war, von Nutzen sein würde.

Bald darauf kam der große Meister Liao Chi am Warmen-Pavillon im Westflügel an. Mit langsamen, gemessenen Schritten und gesenktem Kopf ging er hinein, als ob er den Schneemann, der vor dem Palast kniete, gar nicht gesehen hätte.

Wer weiß, was für einen magischen Amitabha-Buddha-Trank der alte Mönch dem Longan-Kaiser in die Kehle geschüttet hatte, aber kurz nach seiner Ankunft kam Zhu Xiaojiao herausgehuscht. „Seine Majestät hat verfügt, dass wegen seines Verstoßes gegen die Etikette und seiner Unverschämtheit gegenüber Seiner Majestät dem Grafen von Anding vorübergehend das Befehlssiegel entzogen wird“, erklärte er hochmütig. „Er wird drei Monatsgehälter einbüßen, auf das Grafenanwesen zurückkehren und in Abgeschiedenheit über seine Verfehlungen nachdenken.“

Gu Yun zuckte überrascht zusammen, Zhu Xiaojiao warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu.

„Dieser bescheidene Diener nimmt diesen Erlass an und dankt Seiner Majestät für seine Gunst.“

Kaum hatte er zu Ende gesprochen, erhob Zhu Xiaojiao seine Stimme und schimpfte über die Diener, die an der Seite standen. „Seht Euch all diese nutzlosen Affen an, die hier herumlungern! Beeilt euch und helft dem Grafen auf!“

Doch bevor er seine Anweisungen beenden konnte, war Gu Yun bereits aufgestanden. Seine vier Gliedmaßen fühlten sich an, als wären sie von scharfen Nadeln durchbohrt worden. Der geschmolzene Schnee hatte seine Robe und seine Eisenrüstung längst durchweicht, so dass er völlig durchnässt war, ein furchtbarer Schauer durchfuhr seine Knochen. Gu Yun schlang die Hände um Zhu Xiaojiao und wandte sich dann um, um den Palast zu verlassen, sein Herz war schwer vor Sorge. Ist der alte kahlköpfige Esel besessen worden? Warum sollte er mir helfen? Er war völlig verwirrt.

Das heißt, bis er Chang Geng erblickte, der hinter dem Palasttor auf ihn wartete.

Gu Yun dämmerte das Verständnis. „Du warst es also, der Leben in den Nationalen Tempel gebracht hat“, sagte er mit einem Lächeln. „Ich habe mich schon gewundert, warum der kahlköpfige, alte Esel so freundlich war.“

Chang Geng war nicht in der Lage, zu antworten. Er wickelte einen dicken Fuchspelzmantel um Gu Yun, ohne auf die Erlaubnis zu warten, und berührte dann sein Gesicht. Ganz gleich, wie zäh er war, Gu Yuns Reaktionen waren träge, nachdem er eine Nacht in der Kälte verbracht hatte. Bevor er auch nur zusammenzucken konnte, landete Chang Gengs Hand genau auf seinem Ziel.

Diese Berührung war viel zu aufreizend. Es wäre unangenehm gewesen, ob Gu Yun nun auswich oder nicht, also konnte er nur einen Scherz machen. „Willst du mir in die Augen schauen und mir die Zukunft voraussagen, oder was?“

Wer wusste schon, ob dieser Mensch ungewöhnlich tolerant gegenüber seinen Umständen war oder ob er sich wirklich keine Sorgen um die Welt machte. Er war halb erfroren, aber er machte immer noch seine Späße!

Chang Geng zerrte Gu Yun ohne ein weiteres Wort in seine Kutsche. Sein Herz schmerzte so sehr, dass die Ränder seiner Augen leicht gerötet waren.

Als Gu Yun die Kutsche betrat, überkam ihn eine Welle der Wärme. Er rieb seine Hände aneinander und wandte sich an Chang Geng. „Gibt es Wein?“, fragte er. „Schenk mir einen Becher ein.“

Chang Geng antwortete nicht. Gu Yun schaute ihn an und betrachtete seine Augen, die jetzt so rot waren, als würden sie gleich Blut tropfen. Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Meine Güte, ich habe dich nicht einmal als Kind weinen sehen. Heute habe ich etwas ganz Neues erlebt. Onkel Wang soll schnell eine Schüssel holen, um diese Tränen aufzufangen. Seine Majestät hat mir drei Monate meines Gehalts abgezogen, aber dank dieser Perlen, die du vergossen hast, werden wir immer was zu essen haben.“

Natürlich war Chang Geng nicht den Tränen nahe ‒ er versuchte, einen Angriff des Wu'ergus zu unterdrücken. Seit er gehört hatte, dass Gu Yun die Nacht kniend im Schnee verbracht hatte, war sein Geist von einer Welle nach der anderen von Halluzinationen und Tötungsabsichten heimgesucht worden.

Gu Yun spürte schließlich, dass mit dem Blick in seinen Augen etwas nicht stimmte. „Chang Geng?“

Chang Geng zwang sich, zu atmen. „Yifu, zieh dich erst einmal um“, presste er aus seiner Kehle hervor.

Seine Stimme war heiser, wie zwei rostige Eisenstücke, die aneinander rieben. Gu Yun runzelte bei diesem Geräusch die Stirn und beobachtete ihn genau, während er den triefend nassen Knoten seines Haares löste und schnell die trockene Kleidung anzog, die in der Kutsche bereitlag. Chang Geng wagte es nicht, ihn anzuschauen. Er saß mit gesenktem Blick an der Seite und machte die Atemübungen, die Fräulein Chen ihm beigebracht hatte, um seinen Geist langsam zu beruhigen. Doch obwohl das Rascheln des Stoffes so leise wie ein Seufzer war und vom Rumpeln der Kutsche leicht hätte übertönt werden müssen, war es in diesem Moment, als hätte das Geräusch ein Eigenleben entwickelt. Es grub sich in seine Ohren, und anstatt sich zu beruhigen, wurde Chang Gengs Herz mit jedem Atemzug unruhiger.

Erst als Gu Yun seine Krone mit einem Klirren auf dem kleinen Schreibtisch in der Kutsche ablegte, wurde Chang Geng aus seiner Trance gerissen. „Ich habe ein wärmendes Tonikum gebraut, um die Kälte aus deinem Körper zu vertreiben“, sagte er. „Du solltest ‒“

Seine Worte wurden abrupt unterbrochen, als Gu Yuns eiskalte Finger sein Handgelenk erfassten.

Chang Geng zitterte. Er wollte sich losreißen, aber Gu Yuns Griff war fest, während er seinen Puls überprüfte. Er rief leise: „Yifu ...“

„Ich bin nicht besonders gut im Pulslesen“, sagte Gu Yun mit grimmigem Gesicht, „aber ich weiß, wie eine Qi-Abweichung aussieht, die durch unsachgemäßes Kampftraining verursacht wurde.“

Chang Geng wich Gu Yuns Blick mit einem Ausdruck von erbärmlichem Elend aus.

„Chang Geng, sag mir die Wahrheit. Gibt es ...“ Gu Yun hielt unbeholfen inne. Obwohl seine Haut so dick wie eine Stadtmauer war, fiel es ihm schwer, die nächsten Worte zu sagen.

Als ob er ahnte, was kommen würde, hob Chang Geng langsam seine geröteten Augen. Nach einem Moment der Stille fasste Gu Yun sich ein Herz. Er nahm noch mehr Mut zusammen, als er gebraucht hatte, um dem Kaiser zu trotzen, und zwang sich, die Worte auszusprechen. „Gibt es etwas, das du mir verschweigst? Ein unaussprechliches Geheimnis?“

Chang Geng schluckte einige ängstliche Atemzüge hinunter und fragte dann mit leiser Stimme: „Ein Geheimnis welcher Art?“

„... der romantischen Art.“

 

 

 

Erklärungen:

Die Zeit des „Regenwassers“, 雨水, ist die zweite der vierundzwanzig Sonnenperioden, um den 18., 19. oder 20. Februar.

Ein Holzfisch ist eine Art Holzblock, der von buddhistischen Mönchen während des rituellen Rezitierens von Sutren, Mantras oder anderen buddhistischen Texten verwendet wird.

… in die Augen schauen und mir die Zukunft voraussagen: Bei der traditionellen chinesischen Wahrsagerei betrachtet ein erfahrener Wahrsager die Augen während des Lesens genau. Er achtet auf die Form, die Farbe und die Klarheit der Augen. Es wird angenommen, dass jedes Detail Aufschluss über das Leben, den Charakter und die Zukunft gibt. So werden zum Beispiel klare und helle Augen mit Glück in Verbindung gebracht, während trübe oder stumpfe Augen auf Herausforderungen hinweisen können.

Eine Qi-Abweichung ist eine physiologische und psychologische Störung, von der angenommen wird, dass sie durch unsachgemäßes spirituelles oder kämpferisches Training entsteht. Zu den Symptomen einer Qi-Abweichung in der Fiktion gehören Panik, Paranoia, sensorische Halluzinationen und der Tod.




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2 Kommentare:

  1. kommt das geheimnis endlich an die luft? oder nicht? ..... ich hoffe ja insgeheim das es später rauskommt.... wir bleiben gespannt

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    1. Tja, das erfährst du im nächsten Kapitel. Aber deine Hoffnung wird wird sich glaube ich nicht erfüllen.

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