Als Chang Geng Gu Yuns Zimmer betrat, war er vollkommen selbstbeherrscht gewesen, als ob die ganze Welt in seiner Hand läge. Als er das Zimmer verließ, war er zu einer Pfütze aus menschlichem Glibber geworden. Er hatte keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, auf dem Weg nach draußen einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Nach dem unerwarteten Tauwetter war die Temperatur noch
einmal gesunken. Doch in der kühlen Nachtluft fühlte sich sein Atem wie ein
wütender Feuerball an, der in seiner Brust brannte.
Chang Geng flüchtete mit rasendem Herzen zurück in seinen
eigenen Innenhof. Er atmete schwer aus und drückte seine Stirn gegen die
Schwerttrainingspuppe, die am Eingang des Hofes stand. Nach so vielen Jahren
war diese Eisenpuppe schon sehr alt. Chang Geng konnte es nicht ertragen, sie
weiterhin als Trainingspartner zu benutzen, also ließ er sie von den Dienern
als unpassenden Laternenständer in seinem Hof stehen.
Die eisige Kälte des Eisens kühlte bald Chang Gengs
brennendes Fleisch. Er neigte den Kopf zurück, um zu dem großen Kerl
aufzuschauen, und Kindheitserinnerungen überkamen ihn. Er erinnerte sich daran,
wie er ihr jeden Morgen, bevor der Himmel sich aufhellte, eine Kiste mit Gebäck
zum Tragen gab und wie sie beide ‒ der Junge und sein Roboter ‒ zum Hof von Gu
Yun gingen, um den weitschweifigen Vorträgen seines Patenonkels zu lauschen.
Dann war da noch die Zeit, als sie Gu Yuns Geburtstag
feierten. Sie hatten sie in ein lächerliches Seidenkostüm gehüllt und ihn dazu
gebracht, Gu Yun eine unappetitliche Schüssel Nudeln zu bringen... Ein Lächeln
breitete sich unaufgefordert auf Chang Gengs Gesicht aus, als seine Gedanken
durch die Vergangenheit wanderten. Es schien, dass jede seiner glücklichen und
warmen Erinnerungen mit Gu Yun zu tun hatte.
Chang Geng hängte die Lampe, die er bei sich trug, an den
ausgestreckten Arm der Eisenpuppe und gab dem freiliegenden Zahnrad, das aus
ihrem Nacken ragte, einen vertrauten Klaps. Er dachte an Gu Yuns Worte von
vorhin und seufzte, seine Augen wurden trüb. Er hatte damit gerechnet, dass Gu
Yun entweder in Wut ausbrechen oder sich weiter bemühen würde, ihm einen Rat zu
erteilen. Er hätte nie erwartet, dass Gu Yun so vorgehen würde.
Wie die grüne Frühlingsbrise und der Regen hatte Gu Yun
sanft seinen Standpunkt klar gemacht: Ich bin immer noch dein Yifu. Ich bin
immer noch die Person, die sich am meisten um dich kümmert. Egal, was du
denkst, ich werde so bleiben wie bisher. Ich werde dir deine Übertretungen
verzeihen und mir deine törichten Worte nicht zu Herzen nehmen. Auch wenn ich
deinen wilden Fantasien, die der gesellschaftlichen Ordnung zuwiderlaufen,
nicht nachgeben kann, so glaube ich doch, dass der Tag kommen wird, an dem du wieder
auf den richtigen Weg zurückfinden wirst.
Chang Geng hatte sich die Worte ‘Mir
fehlt nichts, deshalb bin ich stark‘ auf die Stirn geschrieben,
woraufhin Gu Yun konterte: ‘Ich bin standhaft und
unbeweglich‘.
Er nimmt so viel Rücksicht auf mich, dachte
Chang Geng, hin- und hergerissen zwischen Lachen und Tränen. Warum nimmt er
nicht ein wenig Rücksicht auf sich selbst, wenn er diesem Mann im kaiserlichen
Palast gegenübersteht?
Chang Geng wusste, warum Gu Yun ihn so abrupt entlassen
hatte. Es lag nicht daran, dass er ihn für einen Schandfleck hielt. Es lag
vielmehr daran, dass er mehr oder weniger geahnt hatte, was Chang Geng sagen
wollte, weshalb er ihm taktvoll zu verstehen gegeben hatte, dass er es nicht
aussprechen sollte. In Gu Yuns Lage war es sicherlich die schlechtere Lösung,
sich zurückzuziehen, um einen tödlichen Schlag zu vermeiden. Es wäre viel
einfacher, direkt zu rebellieren, den Sohn des Himmels und seine Vasallen in
die Knie zu zwingen und die militärische und politische Macht in seinen eigenen
Händen zu konsolidieren.
Oberflächlich betrachtet war Gu Yun ein Schurke. Doch unter
dieser Haut, durchtränkt von der tödlichen Entschlossenheit seines eisernen
Blutes, steckte ein würdevoller und aufrechter Gentleman. Er war einfach nicht
fähig, seinen Herrscher zu stürzen und den Thron an sich zu reißen.
Als Chang Geng langsam in sein Zimmer trat, war die Luft von dem vertrauten Flügelschlag der Vögel erfüllt. Er streckte die Hand aus und fing einen verbeulten Holzvogel auf. Sein offener Bauch enthüllte einen Brief von Chen Qingxu, deren Handschrift so krakelig war, dass Chang Geng Mühe hatte, die Worte zu entziffern.
Ich habe den Ursprung des Giftes auf dem Pfeil ausfindig gemacht, der den Marschall in jenem Jahr getroffen hat. Wenn ich die geheime Formel finde, kann ich vielleicht ein Gegengift herstellen.
Chang Geng erstarrte, wo er stand. Bevor triumphaler Jubel
in seinem Herzen aufsteigen konnte, sah er, dass Chen Qingxus Nachricht noch
mehr enthielt.
Doch die Augen und Ohren des Grafen sind seit Jahren geschädigt. Er hat Gift mit Gift behandelt, was sich mit der Zeit angesammelt hat. Gift kann neutralisiert werden, aber schwere Krankheiten sind schwer zu heilen. Bitte bereite dich darauf vor, Eure Hoheit.
Schließlich war am unteren Rand eine noch unordentlichere Zeile hingekritzelt.
Ich vermute, dass dieses Gift eines der am strengsten gehüteten Geheimnisse der Göttin der Barbaren ist. Die letzte Göttin des Stammes heiratete in den kaiserlichen Harem ein; weitere Informationen jenseits der Grenze aufzuspüren, wird schwierig sein. Wenn es dir passt, kannst du versuchen, im Palast Nachforschungen anzustellen.
Chang Geng las den Brief ganz durch und verbrannte dann den
Papierfetzen zu Asche. Sein Herz sank.
Die Familie des Grafen von Anding hatte seit Generationen
in der Armee gedient und genoss die große Gunst des Kaisers. Auch das Grafenanwesen
war mit einer besonderen Gunst ausgestattet worden. Von Chang Gengs kleinem Hof
aus brauchte man nur den Kopf zu heben, um die prächtigen Traufen des
kaiserlichen Palastes im Mondlicht schimmern zu sehen. Chang Geng blickte,
vielleicht unabsichtlich, in Richtung des Palastes, und in seinen Augen braute
sich ein Unwetter zusammen.
Dieser haarsträubende Blick verweilte nur einen Augenblick,
dann verschwand er spurlos.
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Am nächsten Morgen schickte Gu Yun in aller Frühe einen
Boten zum Palast, um ein Memorandum mit seiner Bitte um Vergebung zu
überbringen ‒ genau wie Chang Geng es vorgeschlagen hatte.
Zunächst schilderte er systematisch die Ergebnisse seiner
Selbstreflexion und gestand aufrichtig sein Unrecht ein. Dann erklärte er, dass
es ihm wegen des Aufflammens einer alten Verletzung schwerfallen würde,
weiterhin eine so schwere Verantwortung zu tragen, und bat darum, dass Seine
Majestät ihm das Siegel der Befehlsgewalt endgültig entzieht. Die Behauptung,
krank zu sein, war ein üblicher Vorwand, um sich seinen Pflichten zu entziehen,
aber bei dem Grafen von Anding schien sie glaubwürdiger zu sein als bei den
meisten anderen ‒ er ließ eine lange Notiz in seiner berühmten kalligraphischen
Schrift folgen, in der er bis ins kleinste Detail alle militärischen
Angelegenheiten auflistete, die übergeben werden mussten. Zum Schluss bat er
Seine Majestät mit der Unverblümtheit eines Knüppels, ihm zu erlauben, den Ort
seiner Gefangenschaft an den Rand der Hauptstadt zu verlegen.
Die elegantesten Pinselstriche der Welt konnten die
Bedeutung zwischen diesen Zeilen nicht verbergen: Ich habe genug über mich
selbst nachgedacht, lasst mich jetzt spielen gehen.
Das Memorandum strotzte nur so vor dem unbekümmerten Stil
und der unverschämten Arroganz des Grafen von Anding. Es war offensichtlich,
dass es nicht der Feder eines Ghostwriters entsprungen war. Der Longan-Kaiser
bewahrte das Memorandum einen ganzen Tag lang auf. Am nächsten Morgen schenkte
er seinem Untertan eine beträchtliche Menge seltener und kostbarer
medizinischer Ingredienzien, um seine besondere Gunst auszudrücken, und hob den
Erlass auf, mit dem Gu Yun in seiner Residenz gefangen gehalten wurde ‒ womit
er stillschweigend Gu Yuns Rücktritt akzeptierte. Um den Anschein von Harmonie
zwischen Herrscher und Untertan zu wahren, ernannte er keinen neuen
Befehlshaber. Er ließ das Siegel des Kommandanten unbesetzt und verkündete mit
warmen Worten des Trostes seine Absicht, es zurückzugeben, sobald der Graf von
Anding von seiner Krankheit genesen und an den Hof zurückgekehrt sei.
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An diesem Tag stieß Li Feng nach seinem Mittagsschlaf
zufällig auf ein Buch, das er einst als Kind gelesen hatte. Als er es aufhob,
flatterte ein kalligraphischer Musterbrief zwischen den Seiten hervor.
Verglichen mit dem Memorandum, das auf seinem Schreibtisch lag, war die Schrift
auf dem Zettel kindlich und unbeholfen, die Schwünge der einzelnen Striche
waren nicht sehr kraftvoll. Dennoch konnte man bereits den kraftvollen Stil
erkennen, zu dem sie sich eines Tages entwickeln würde.
Nachdem er den Zettel lange betrachtet hatte, seufzte Li
Feng. „Kennt Ihr den Verfasser dieser Notiz?“, fragte er Zhu Xiaojiao.
Zhu Xiaojiao täuschte Unwissenheit vor. „Dieser ... alte
Diener weiß nicht, was gute oder schlechte Kalligraphie ausmacht, aber da Eure
Majestät es aufbewahrt hat, muss es das Werk eines berühmten Meisters sein.“
„Was für eine schlagfertige Zunge Ihr habt ‒ aber wir
nehmen an, dass er tatsächlich als ein berühmter Meister angesehen werden kann.
Dies wurde von dem kaiserlichen Onkel Shiliu geschrieben.“ Li Feng legte den
Zettel vorsichtig auf den Schreibtisch und glättete ihn mit einem
Briefbeschwerer. Seine Augen wurden nachdenklich. „Als wir jung waren, fehlte
uns die Geduld, Kalligraphie zu üben, sodass wir oft von unserem kaiserlichen
Vater gescholten wurden. Als der Onkel davon erfuhr, ging er nach Hause und blieb
die ganze Nacht auf. Am nächsten Tag gab er uns einen Stapel Kalligraphie-Musternotizen,
die er selbst geschrieben hatte ...“
Damals war Gu Yuns Sehkraft schon tagsüber schlecht, und in
der Dunkelheit war es noch schwieriger für ihn. Um überhaupt etwas sehen zu
können, musste er sein Glasmonokel tragen. Nachdem er die ganze Nacht wach
geblieben war, waren seine Augen so blutunterlaufen, dass er am nächsten Tag
wie ein Kaninchen aussah, doch er ließ es sich nicht nehmen, vor anderen eine
gewisse Lässigkeit vorzutäuschen.
Während Li Feng sprach, erinnerte er sich an die
glücklichen Tage seiner Jugend. Er murmelte nostalgisch: „Onkel war als Kind so
verschlossen, er mochte es überhaupt nicht, wenn man ihm zu nahe kam. Er war
das genaue Gegenteil von dem, was er jetzt ist ‒ ja, richtig, wo ist er jetzt?“
Zhu Xiaojiao antwortete respektvoll: „Ich habe gehört, dass
er sich in dem Herrenhaus mit den heißen Quellen in den nördlichen
Außenbezirken erholt.“
Li Feng war hin- und hergerissen zwischen Lachen und
Tränen. „Er ist wirklich rausgegangen, um zu spielen? Er ist wirklich sorglos.
Vergesst es... Der Frühlingstee aus Jiangnan ist gerade angekommen. Jemand soll
ihm welchen bringen, damit er ihn probieren kann. Wir werden ihn später bitten,
eine horizontale Tafel für die nördliche Kaiserresidenz
zu beschriften.“
Zhu Xiaojiao nahm den Auftrag an und sagte nichts weiter.
Eine leichte Berührung war seiner Meinung nach ausreichend.
Noch am selben Nachmittag schickte das Protektorat des
Nordwestens ein dringendes Schreiben an den Kaiser. Darin wurden über die
ungewöhnlichen Bewegungen ausländischer Truppen jenseits des Passes berichtet,
sowie über die Weigerung des Schwarzen Eisenbataillons, den Marschbefehl zu
befolgen, die unerhörte Festnahme des Generalprotektors Meng und verschiedene
andere Vergehen beschrieben.
Der Longan-Kaiser schwelgte noch immer in Nostalgie über
seine Kindheit mit Gu Yun. Er machte seinem Unmut lautstark Luft, aber die
Konsequenzen, die er zog, waren gering. Er wies jemanden an, He Ronghui wegen
Missachtung der Gesetze der Nation zu rügen, und zog ihm das Gehalt ab. Dann
befahl er dem Schwarzen Eisenbataillon, jede verdächtige Bewegung an der Grenze
rigoros abzuwehren.
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Als Chang Geng endlich etwas freie Zeit fand, machte er
sich auf den Weg zum Herrenhaus mit den heißen Quellen am nördlichen Stadtrand
der Hauptstadt, um Gu Yun über diese Entwicklungen zu informieren. Bei seiner
Ankunft wurde er von dem Anblick dieses Bastards Gu, der in einen Bademantel
gehüllt war und seine Füße in einer heißen Quelle badete, begrüßt. Mit einem
Weinbecher in der Hand und zwei reizenden Dienerinnen, die ihm die Schultern
rieben und den Rücken massierten, sah er so zufrieden aus, als wäre er kurz
davor, die sterbliche Ebene zu überschreiten.
Wenn man bedenkt, dass Gu Yun sagte, er wolle sich „erholen“,
dann würde er genau das tun!
Der halbtaube Mann hörte nicht, wie Chang Geng sich
näherte. Er drehte den Kopf und sagte etwas zu dem Mädchen neben ihm, und sie
lächelte, wobei sich ihr Gesicht rötete.
Chang Geng war sprachlos.
Gu Yun fand das Erröten der Dienerin ganz niedlich und
wollte ihre rosigen Wangen berühren. Doch gerade als er die Hand hob, sah er,
wie die Mädchen hastig jemanden begrüßten und aufsprangen, um sich
zurückzuziehen.
Gu Yun drehte sich um und tastete nach seinem Glasmonokel,
das er sich auf den Nasenrücken setzte. Als er Chang Geng sah, schämte sich der
alte Schuft nicht im Geringsten. Er rief Chang Geng fröhlich zu sich und schob
sich träge in eine sitzende Position. „Es ist lange her, dass ich mich so
entspannt habe. Meine Knochen schmelzen gleich, weil ich so viel herumliege.“
„...Bist du sicher, dass sie nicht aus einem anderen Grund
schmelzen?“
Chang Geng bedauerte diese Worte in dem Moment, in dem sie
seinen Mund verließen.
„Hm?“ Gu Yun schien ihn nicht zu hören, sein Gesicht war
perplex. „Was war das?“
Chang Geng erinnerte sich sofort daran, wie Gu Yun und Shen
Yi sich damals in der Stadt Yanhui als verarmte Einsiedler tarnten, und wie Gu
der taube und blinde sein außergewöhnliches Talent einsetzte, nichts zu hören,
was ihm nicht gefiel. Er war bereits ein Experte im Vorspielen
von Knoblauch, und sobald er mit seiner Taubheit anfing, war er wie ein
Tiger, dem Flügel gewachsen waren ‒ mächtiger als je zuvor.
Der Graf des Friedens, der größte Narr im Lande, fragte mit
großem Eifer: „Oh, hast du meine Medizin mitgebracht? Ich werde dich heute
Abend zum Schneepflaumenblüten-Pavillon im Hinterhof bringen. Sie haben dort
ein paar neue Sängerinnen eingestellt. Anscheinend konkurrieren sie alle um den
ersten Platz bei der Neujahrsvorstellung im Drachenflug-Pavillon. Wir können
einen kurzen Blick darauf werfen.“
Chang Geng hatte gedacht, Gu Yun wolle, dass er die Medizin
mitbringt, weil er sich um einen Notfall kümmern musste. Nach all der Aufregung
stellte sich jedoch heraus, dass er die Gesellschaft schöner Frauen nicht in
vollen Zügen genießen konnte, wenn er nicht hören konnte. Chang Geng setzte ein
unaufrichtiges Lächeln auf sein Gesicht. „Jede Medizin ist zu drei Teilen Gift.
Da Yifu keine dringenden Angelegenheiten zu erledigen hat, solltest du weniger
davon nehmen.“
„Hm, wunderbar“, antwortete Gu Yun unsinnig, „ich bin froh,
dass du sie mitgebracht hast. Das Wasser hier ist herrlich, du solltest
reinkommen und dich ein wenig entspannen.“
Chang Geng war sprachlos. Er gab es auf, mit Gu Yun zu
diskutieren. Er saß feierlich neben der heißen Quelle und sah nicht einmal auf,
als er die Hände hob und formte: „Seine Majestät hat einen Bericht von der
Nordwestfront erhalten. Du kannst beruhigt sein ‒ alles ist in Ordnung.“
Gu Yun nickte langsam. „Hm. Da du schon einmal hier bist,
warum kommst du nicht zu mir, um ein Bad zu nehmen?“
„Ich verzichte“, sagte Chang Geng mit ausdruckslosem
Gesicht. „Du kannst es allein genießen, Yifu.“
Tsk. Gu Yun schnalzte mit der
Zunge. Er machte keine Anstalten, Chang Gengs Blicken auszuweichen, als er sich
seelenruhig seiner Robe entledigte und ins Wasser glitt. Chang Geng wandte
verwirrt den Blick ab. Da er seine Augen nirgends ausruhen konnte, griff er
wahllos nach einem Weinbecher und nahm einen Schluck, als wolle er etwas
verbergen. Erst als der Wein seine Lippen befeuchtete, erinnerte er sich, dass
er Gu Yuns Becher in der Hand hielt. Er richtete sich so abrupt auf, dass er
beinahe Gu Yuns kleinen Tisch umstieß, und sagte heiser: „Ich bin nur gekommen,
um Yifu die Neuigkeiten mitzuteilen. Jetzt, da du es weißt, muss ich... ich
muss zurück, ich habe noch etwas zu erledigen, also...“
„Xiao Chang Geng“, rief Gu
Yun und brachte ihn damit zum Stehen. Er nahm das Glasmonokel ab, das durch den
Dampf beschlagen war, und legte es beiseite. Er konnte nur ein Dutzend
Zentimeter über seine Nase hinaus sehen, und seine Augen waren unscharf ‒ und
doch stand er so königlich da wie ein Drachenkönig, der die Fluten schwingt. „Wir
sind hier alle Männer“, sagte Gu Yun unbekümmert. „Du hast alles, was ich habe,
und ich habe nichts, was dir fehlt. Es gibt absolut nichts, worüber man sich
freuen könnte.“
Chang Geng hielt den Atem an und hob schließlich den Blick.
Selbst wenn der Nebel des Frühlings die Konturen von Gu Yuns Gestalt
verwischte, waren die Narben, die seinen Körper bedeckten, schockierend anzusehen.
Ein Schnitt begann an seiner Kehle und verlief diagonal über seine Brust, als
wäre sein Oberkörper in zwei Teile gespalten und wieder zusammengenäht worden.
Gu Yun war ein Experte der menschlichen Natur. Er wusste,
dass manche Dinge umso berauschender sind, je größer das Tabu ist, und dass es
umso schwieriger ist, sie aufzugeben, je verbotener sie erscheinen. Daher
konnte er genauso gut großmütig sein und Chang Geng erlauben, ihn so anzusehen,
wie er es wollte. Außerdem war es ja nicht so, als gäbe es etwas zu sehen.
„Jeder empfindet sehr viel für seine Eltern. Du bist nicht
allein, ich war auch so“, sagte Gu Yun. „Mein Vater war ein brutaler Kerl, der
mir Eisenpuppen hinterherschickte, die auf mich einhackten. Der erste Mensch,
der meine Hand hielt und mir das Schreiben beibrachte, war der verstorbene
Kaiser. Der erste, der mich überredete, meine Medizin zu nehmen und mich mit
kandierten Früchten belohnte, war ebenfalls der verstorbene Kaiser. Als Kind
dachte ich, er sei der einzige Mensch, der sich je um mich gekümmert hat.
Manchmal, wenn diese Art von Gefühl zu stark wird, kann es zu bestimmten
Missverständnissen führen. Das ist in Ordnung; es wird mit der Zeit abklingen.
Je mehr du dich mit diesen Gefühlen beschäftigst, desto mehr wirst du unter
ihrem Gewicht zusammenbrechen, und desto mehr werden sie dich plagen.“
Chang Geng öffnete den Mund, um zu antworten, aber Gu Yun
nutzte sein schwaches Gehör aus. Ohne Rücksicht darauf, ob Chang Geng
antwortete oder nicht, machte er allein weiter: „Yifu weiß, dass du ein guter
Junge bist. Aber du hast die schlechte Angewohnheit, dir zu viele geistige
Lasten aufzubürden. Lege sie ab und bleibe ein paar Tage hier bei mir. Warum
gibst du dich die ganze Zeit mit alten Mönchen ab? Es gibt so viele wunderbare
Sehenswürdigkeiten auf dieser Welt und jede Menge angenehme Ablenkungen. Warum
solltest du dich auf denselben ausgetretenen Pfaden bewegen?“
Erklärungen:
Mir fehlt nichts, deshalb bin ich stark: Eine
Zeile aus den Analekten des Konfuzius
Ich bin standhaft und unbeweglich: Eine
Zeile aus dem Huainanzi.
Die Bitte, eine horizontale
Gedenktafel zu beschriften, ist eine Ehre, die in der Regel Personen mit
hoher Bildung und großem Ansehen vorbehalten ist.
Vorspielen von Knoblauch, 装蒜, ist eine Redewendung, die
verwendet wird, um sich dumm zu stellen oder den Schein zu wahren.
Xiao ist eine Verniedlichung, die ‘klein‘ bedeutet. Immer eine Vorsilbe.
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