Chang Geng blieb einige Sekunden lang wie erstarrt stehen, bevor er zu der heißen Quelle hinüberging. Langsam ließ er sich auf die Knie fallen und starrte auf die Stränge von Narbengewebe, die Gu Yuns Körper bedeckten. Nach so vielen Jahren hatte er sich daran gewöhnt, mitten in der Nacht vom Wu'ergu wachgerüttelt zu werden. Er kam ruckartig wieder zu Bewusstsein, dann wälzte er sich hin und her und dachte an Gu Yun. Chang Geng hatte seit seiner Kindheit Ruhe und Frieden bevorzugt. Damals hatte er oft das Gefühl, dass sein übermäßig energiegeladener Patenonkel der Vernunft widersprach. Später, nachdem er in vielen schlaflosen Nächten darüber nachgedacht hatte, kam ihm eine seltsame Frage in den Sinn: Wie ist Gu Yun zu dem Menschen geworden, der er heute ist?
Als einziges Kind des ehemaligen Grafen von Anding und der
ältesten Prinzessin musste er ein unvergleichlich wertvoller, unerträglich
arroganter, adliger junger Meister gewesen sein. Doch nachdem er in so jungen
Jahren sein Augenlicht und sein Gehör verloren hatte, war er unter der Peitsche
seines eigenen Vaters vorwärtsgetrieben, geschlagen und umgeformt worden wie
ein Schmiedeeisen, seine ungefiederten Flügel wurden mit Narben übersät. Er
verlor zwei Elternteile in rascher Folge und wurde, als der vergangene Ruhm des
Schwarzen Eisenbataillons mit der Zeit verblasste, wurde er tief im Inneren des
kaiserlichen Palastes eingesperrt. Ein Mensch, der als Kind so viel Schmerz
erfahren hat, sollte, selbst wenn er sich nicht zurückzieht oder launisch wird,
zumindest nicht so verspielt und schelmisch werden ‒ dessen war sich Chang Geng
sicher.
Er konnte sich nicht vorstellen, wie viele Schichten von
sich überlagernden Wunden nötig waren, um einen Menschen wie Gu Yun zu zähmen.
Chang Geng hasste es plötzlich, dass er zehn Jahre zu spät
geboren worden war, um die jungen und ungeschickten Hände dieses Menschen in
einem Dickicht von Brombeeren und Dornen zu halten. Allein aus diesem Grund
würde er Shen Yi sein Leben lang beneiden. Wie besessen griff er nach vorne und
strich Gu Yuns langes Haar beiseite, das über seine Schultern ins Wasser fiel.
Dann berührte er vorsichtig die Narbe, die sich über Gu Yuns Brust zog.
„Sss...wie unverschämt.“ Ein Kribbeln überzog Gu
Yuns Kopfhaut bei der Berührung, und er wich hastig zurück. „Ich versuche hier,
mit dir zu reden ‒ warum fummelst du an mir herum?“
„Woher hast du die?“, fragte Chang Geng mit heiserer
Stimme.
Der taube Mann hörte ihn nicht. Chang Geng ergriff Gu Yuns
Hand und schrieb seine Frage, Wort für Wort, in seine Handfläche.
Gu Yun blinzelte überrascht. Sein Gedächtnis ließ ihn für
einen Moment im Stich.
Chang Geng wischte das Kondenswasser auf Gu Yuns
Glasmonokel weg und setzte es wieder auf seine Nase. Er blickte Gu Yun tief an
und schrieb: „Yifu, lass uns abwechselnd reinen Tisch machen, okay?“
Gu Yun hatte ein unglückliches Verhältnis zu den Worten ‘reinen
Tisch machen‘ und so war er natürlich überhaupt nicht damit einverstanden.
Chang Geng gab ihm keine Gelegenheit, zu widersprechen. „Du
hast den verstorbenen Kaiser sehr gemocht. Aber wolltest du ihn küssen, umarmen
und dein ganzes Leben lang mit ihm verstrickt sein?“
„Was?“, platzt Gu Yun heraus.
Er konnte nicht anders, als sich an das verwelkte Gesicht
des verstorbenen Kaisers zu erinnern, das immer vor Elend zu strotzen schien.
Prompt bekam er eine Gänsehaut.
„Nun gut. Du hast geantwortet, jetzt bin ich dran“, sagte
Chang Geng mit asketischer Miene wie ein Mönch. „Ich will das.“
Es dauerte einige Sekunden, bis Gu Yun die Bedeutung von
Chang Gengs ‘Ich will das‘ verdaut hatte. Kaum war die erste Gänsehautwelle
abgeklungen, überkam ihn eine zweite, und alle Haare standen ihm zu Berge wie
einem Igel.
„Ich will es ‒ zu jeder Tageszeit, sogar in meinen Träumen.
Und ich will es besonders jetzt ... Ich will auch andere Dinge. Ich fürchte,
ich würde Yifus Ohren besudeln, wenn ich sie laut ausspreche, also werde ich es
nicht tun.“ Chang Geng schloss die Augen und wandte sein Gesicht von Gu Yun ab.
„Wie hätte ich eine Qi-Abweichung rutschen können, wenn ich nicht tief und
unwiderruflich in diesen Gefühlen verankert bin?“
Nach langem Schweigen sagte Gu Yun schließlich etwas steif:
„Vielleicht solltest du wieder mit diesen Mönchen die Schriften lesen.“
„Wenn du das doch nur vor fünf Jahren zu mir gesagt hättest“,
sagte Chang Geng. „Wenn ich damals losgelassen hätte, wären wir heute
vielleicht nicht an diesem Punkt angelangt.“
Aber so viele Tage und Nächte waren vergangen. So viele
Albträume und Qualen hatte er ertragen, nur weil er Gu Yuns Namen gerufen
hatte. Die ganze Zeit über hatte er seinen Durst mit Gift gestillt, und jetzt
war es zu spät.
Der Graf von Anding hatte Mühe, mitzuhalten. Nachdem er
Chang Geng eine ganze Weile fassungslos angestarrt hatte, dachte er
erschrocken: Vor fünf Jahren habe ich dich noch für einen Säugling gehalten!
„Nächste Frage.“ Chang Geng drückte die Augen zusammen. „Findet
Yifu mich ekelhaft?“
Gu Yun verstummte wieder einmal. Chang Gengs Wimpern
zuckten heftig, und seine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten in den
Ärmeln. Gu Yuns körperliche Reaktion gerade eben konnte ihn nicht täuschen.
Sein offensichtliches Unbehagen war deutlich an der Gänsehaut zu erkennen, die
sich über seinen Körper ausbreitete.
Vielleicht konnte Gu Yun seine Zuneigung verstehen, aber
sein Verlangen würde er nie verstehen.
Chang Geng hörte das Plätschern des Wassers, als Gu Yun an
Land kletterte und sich seine Robe wieder über den Körper warf. Seufzend
streckte Gu Yun die Hand aus und klopfte Chang Geng auf die Schulter. „Du
weißt, dass das nicht möglich ist“, sagte er und wich der Frage gelassen aus.
Chang Gengs Mundwinkel kräuselten sich leicht, als wolle er
lächeln. Doch am Ende gelang es ihm nicht. In einem kaum hörbaren Flüsterton
sagte er: „Ich weiß. Ich werde es Yifu nicht schwer machen.“
Gu Yun setzte sich neben ihn. Es dauerte lange, bis er
endlich seine Fassung wiederfand. Gerade als er den Mund öffnen wollte, um zu
sprechen, wehte ihm ein heftiger Windstoß in den Rücken. Der Weinbecher, den
Chang Geng beiseitegestellt hatte, erstrahlte in einem scharfen Licht. Bevor Gu
Yun reagieren konnte, hatte sich Chang Geng bereits auf ihn gestürzt.
Chang Geng zog Gu Yun in seine Umarmung, rollte sich zur
Seite und schlang seine Arme um den anderen Mann. Gleichzeitig nahm Gu Yuns
Hundenase einen Hauch von Blut wahr.
Ein Pfeil, der weißen Dampf hinter sich herzog, streifte
Chang Geng, riss durch seinen langen Ärmel und zerfetzte die Haut darunter.
Chang Geng hob den Kopf und erblickte den kalten Schimmer von Metall, der über
den kleinen, ruhigen Hof hinwegflog ‒ es war eine Gestalt in einer Leichten
Fellrüstung!
Die Entfernung zwischen dem Herrenhaus mit den heißen
Quellen und dem nördlichen Lager betrug weniger als drei Kilometer. Selbst ohne
ein Pferd zu Höchstleistungen anzuspornen, konnte man in kürzester Zeit von
einem Ort zum anderen reiten. Woher kam dieser Attentäter?
Der erste Anschlag des Attentäters verfehlte sein Ziel,
aber die Gefahr war noch nicht vorüber.
Als die Sonne schwer über den Horizont sank, sprang der
Mann in der Leichten Fellrüstung hinter der Hofmauer auf der anderen Seite
hervor. Ein Dampfstoß schoss aus den Sohlen der Rüstung, und der Attentäter
bewegte sich wie ein Blitz und war im Handumdrehen vor ihnen. Gu Yun schob
Chang Geng zur Seite und zog ein Eisenschwert unter dem kleinen Tisch hervor,
auf dem sie ihren Wein abgestellt hatten. Mit einer Handbewegung tauschte er
mehrere schnelle Hiebe mit dem Attentäter aus.
Gu Yuns Kampffähigkeiten waren in seiner Kindheit im
Training mit Eisenpuppen mit bloßen Händen geschärft worden. Er dachte nicht
daran, sich mit einer Leichten Rüstung aus Violettem Gold anzulegen. Doch nach
einem kurzen Zusammenstoß mit dem Feind wich Gu Yun einige Schritte zurück.
Erschrocken stellte er fest, dass seine Hände zitterten, und er hatte Mühe, das
Gewicht seines Eisenschwerts zu heben.
Ein Blick genügte Chang Geng, um zu bemerken, dass etwas
nicht stimmte, und er griff nach ihm, um ihn aufzufangen. Chang Geng packte Gu
Yuns Handgelenk und führte seine Hände so, dass er dem Attentäter die Klinge
zielsicher durch die Kehle stieß. Die Spitze des Schwertes durchbohrte den Kopf
des Attentäters und traf auf die Spitze seines Eisenhelms. Es gab ein scharfes
Klirren, gefolgt von einem feinen Sprühnebel aus Blut.
Chang Geng warf keinen Blick auf den Toten, sondern fuhr
mit seinen Fingern sofort über Gu Yuns inneres Handgelenk, um seinen Puls zu
prüfen. „Du wurdest betäubt“, sagte er mit leiser Stimme.
Gu Yuns Brust fühlte sich taub an, und sein Herz pochte
unregelmäßig. Er stöhnte zur Bestätigung und rang nach Atem. Als sich das
Taubheitsgefühl auch auf den Rest seiner Gliedmaßen ausbreitete, wurde der
taube und blinde Gu Yun vor Unbehagen angespannt.
„Es geht mir gut.“ Gu Yun atmete mehrmals schnell ein und
aus. „Der Anschlag ist vielleicht noch nicht vorbei. Du ...“
Gu Yuns Krähenschnabel hatte seine Vorahnung noch nicht
einmal beendet, als ein Dutzend Leichte Felle über die Hofmauern sprangen.
Gleichzeitig erhoben sich die Wachen des Grafen, die draußen Wache hielten,
aufgeschreckt durch die Störung. Vielleicht war etwas mit den Köpfen dieser
Attentäter nicht in Ordnung ‒ ihr Attentatsversuch war gescheitert, doch sie
wollten nicht aufgeben. Sie schwärmten aus, um die Wachen anzugreifen, als ob
sie sterben wollten.
Die Hausangestellten des Grafenanwesens waren allesamt
ehemalige Soldaten, die sich vom Schlachtfeld zurückgezogen hatten. Sie
unterschieden sich von den angeheuerten Schlägern, die normalerweise zum Schutz
der Häuser reicher Familien eingesetzt wurden. Diese Wachen waren äußerst
diszipliniert und mobilisierten sich schnell und effizient. Als er sah, dass
der Kampf nun sehr einseitig war, half Chang Geng Gu Yun, sich zurückzuziehen.
„Yifu ...“
Gu Yun hob einen Finger an seine Lippen. Er klopfte Chang
Geng auf die Schulter und hob Chang Gengs verwundeten Arm sanft an, um ihm zu
signalisieren, dass er sich zuerst um sich selbst kümmern sollte. Chang Geng
ignorierte ihn. Er kniete sich neben Gu Yun und fasste ihn am Handgelenk; sein
Puls war bereits ruhiger als zuvor. Chang Geng bemühte sich, ruhig zu bleiben.
Er erinnerte sich daran, dass Gu Yun jahrelang Medikamente missbraucht hatte, so
dass er resistenter gegen Drogen war als der Durchschnittsmensch. Es war nicht
so einfach, ihn auszuschalten ‒ höchstwahrscheinlich hatte die Droge nur
deshalb so schnell gewirkt, weil er im heißen Wasser gebadet hatte.
Plötzlich hallte eine Explosion über den Hof und ließ das
ganze Herrenhaus erbeben. Selbst der halbtaube Gu Yun hörte sie. Nach einem
kurzen Handgemenge waren die Attentäter von den fähigen Wachen des Herrenhauses
überwältigt worden. Doch bevor der Hauptmann der Wache sie festnehmen konnte,
zerriss jeder Attentäter den Goldtank auf seiner Rüstung und zerstörte sich
selbst!
Gu Yun kniff seine eher nutzlosen Augen zusammen und
murmelte leise: „Ein Selbstmordattentat ...“
Der Hauptmann der Wache befahl seinen Männern, das Feuer zu
löschen, und eilte zu Gu Yun hinüber. „Vergebt diesem Untergebenen seine
Inkompetenz. Ich bitte darum, dass der Graf und Seine Hoheit zuerst evakuiert
werden.“
Gu Yun gab keine Antwort. Er schien in seinen eigenen
Gedanken gefangen zu sein.
Verblasste Erinnerungen wurden brutal an die Oberfläche
seines Herzens gezerrt. Sie fletschten bösartig ihre Zähne vor seinen Augen und
schwangen Krallen, die mit der Zeit nur noch schärfer wurden. Die Winde, die in
jenem Jahr über den Pass peitschten, waren von tödlicher Absicht erfüllt.
Überall, wohin er blickte, war Schwarzes Eisen zu sehen, und in der Ferne
erstreckten sich grenzenlose, kahle Graslandschaften. Ein riesiger Schwarm
Geier kreiste über ihm, und Pferde galoppierten durch das hohe Gras und warfen
alle paar Schritte weiße Knochenstücke in die Luft, die von den Zähnen wilder
Tiere zerfetzt waren.
Der kleine Gu Yun, dessen Kopf kaum die Schreibtischplatte
überragte, wurde gerade vom alten Grafen wegen eines kleinen Vergehens
bestraft. Man hatte ihm verboten, zu frühstücken, und zur Strafe stand er nun
in der Mitte des Lagers in der Pferdestellung.
Die Soldaten, die vorbeikamen, mussten kichern, als sie ihn sahen. Der Junge
war von klein auf übermäßig stolz gewesen, und das Lachen der Soldaten trieb
ihm die Tränen in die Augen, aber er weigerte sich hartnäckig, sie fallen zu
lassen.
Inzwischen waren die Kämpfe an der Grenze abgeflaut. Der
Tribut der achtzehn Stämme in Form von violettem Gold war in die Staatskasse
geflossen, und ihrer Göttin war der Titel einer Edlen Gemahlin verliehen
worden. Alles war friedlich verlaufen.
Ohne Vorwarnung brach ein Soldat in einer Schweren Rüstung
auf Patrouille neben Gu Yun zusammen. Alle Wachen in seinem Hof folgten diesem
Beispiel und brachen einer nach dem anderen an Ort und Stelle zusammen.
Donnernde Kampfschreie erreichten ihn von außerhalb der Mauern. Der kleine Gu
Yun hatte noch nie einen Kampf gesehen. Wie versteinert suchte er instinktiv
nach einer Waffe.
Aber er war nur ein Kind. Selbst wenn er beide Hände
benutzte, konnte er nicht einmal das leichteste Schwert heben.
Die Angreifer, die an jenem Tag das Lager stürmten, waren
ebenfalls ein Selbstmordkommando gewesen, ihre Bewegungen waren schnell wie der
Wind, als sie wie die Dämonen oder Götter vorstürmten. Gu Yun hatte beobachtet,
wie ein Soldat, der ihn noch vor wenigen Minuten ausgelacht hatte, plötzlich zu
kämpfen begann, wie ein sterbender Vogel, der entschlossen war, den jungen Gu
Yun mit seinem Körper zu schützen.
Selbst jetzt noch erinnerte sich Gu Yun an das Meer des
Gemetzels; wie er hilflos zugesehen hatte, wie diese Soldaten einer nach dem
anderen in ihrem eigenen Lager niedergemetzelt wurden, wie Vieh, das auf die
Schlachtung wartet. Irgendetwas hatte ihn in den Rücken getroffen, der Schmerz
war unerträglich, wurde aber bald durch Taubheit ersetzt. Allmählich fühlte
sich sein Körper an, als sei er von seinem Geist getrennt worden. Die Geräusche
um ihn herum verblassten, und das wenige Bewusstsein, das er noch hatte, schien
neben seinem Herzen gefangen zu sein, das fast durch seinen Brustkorb schlug.
Er konnte nicht atmen ...
In dieser halbbewussten Benommenheit hatte er eine
welterschütternde Explosion gehört ‒ das war der Moment, in dem die Prinzessin
mit Verstärkung eintraf und die Eindringlinge ihre Leichte Rüstung selbst
zerstörten.
Chang Geng drückte ihm auf die Schulter. „Yifu!“
Gu Yuns glasige Augen konzentrierten sich endlich wieder. „Ist
auf den unverbrannten Leichen eine Wolfskopf-Tätowierung zu sehen?“, murmelte
er.
„Was?“, fragte Chang Geng.
Der Hauptmann der Wache zuckte überrascht zusammen und riss
dann den Kopf hoch ‒ die Wachen des Gu-Anwesens erinnerten sich noch deutlicher
an diesen Vorfall als ihr Meister, der damals noch so jung gewesen war. „Der
Graf sagt ...“
„Seht nach, nachdem ihr das Feuer gelöscht habt“, sagte Gu
Yun ausdruckslos. „Und findet die Person, die mich betäubt hat.“
Gu Yun spürte, wie die Wirkung der Droge nachließ, während
er sprach. Er ging wie benommen vorwärts. Sein gläsernes Monokel war
zerbrochen, als es in dem vorherigen Chaos zu Boden fiel; er konnte kaum sehen,
wohin er ging, und wäre fast direkt in die heiße Quelle getreten. Chang Geng
richtete sich schwerfällig auf, untypisch ungeschickt. Er legte seinen Arm
schützend um Gu Yuns Rücken, ohne auch nur ein Wort des Abschieds zu sagen, und
führte ihn über den ganzen Hof.
Gu Yun war so in seine Gedanken versunken, dass er ihn
nicht einmal wegstieß.
Chang Geng half ihm in sein Zimmer und legte ihm eine dünne
Decke über die Schultern. Er wollte gerade seinen Puls prüfen, als Gu Yun
endlich sprach. „Bring mir meine Medizin.“
Chang Geng runzelte die Stirn. „Nein, du bist noch ...“
Gu Yuns Gesicht wurde leer. „Ich sagte, bringt mir meine
Medizin“, wiederholte er, diesmal eindringlicher.
Chang Geng starrte ihn erstaunt an. Er konnte spüren, dass
Gu Yuns Temperament zu glühen begann. Obwohl sein Gesicht teilnahmslos blieb,
kam langsam eine Bösartigkeit zum Vorschein, als sich die Brutalität einer
Million Eisenrüstungen in seinen unsichtbaren Augen vereinigte. Für einen
Augenblick wirkte dieser zart aussehende Mann wie ein dämonischer Unhold, der
aus dem Schlummer erwacht war ‒ aber nur für einen Augenblick.
Gu Yun kam bald wieder zur Besinnung, und seine Miene wurde
weicher. Er tastete leicht nach Chang Gengs Arm und klopfte ihm dann auf die
Hand. „Geh und versorge zuerst deine Wunde. Wenn du damit fertig bist, hilf
mir, eine Dosis meiner Medizin zuzubereiten ‒ was ist daraus geworden, mir
zuzuhören, hm?“
Chang Geng schwieg einen Moment lang. Dann wandte er sich
zum Gehen und schlug auf dem Weg nach draußen mit der Faust gegen die Säule
neben der Tür.
___________________
In diesem Moment fegte ein noch heftigerer Sturm auf das
Lichtermeer der Hauptstadt zu.
In dieser Nacht warf ein bartloser alter Mann mit
schütterem Haar in einem Haus in einer engen Gasse im Gesandtschaftsviertel
einen letzten Blick auf den Blutbrief, der auf
dem Tisch lag. Er erhängte sich an den Dachbalken und beendete sein kränkelndes
Leben, als sich der erste Schimmer der Morgendämmerung über die Hauptstadt strahlte.
In seiner Aufregung hatte Gu Yun vergessen, den Hauptmann
der Wache anzuweisen, den Angriff unter Verschluss zu halten. Das Herrenhaus
der heißen Quellen und das nördliche Lager waren praktisch Nachbarn; die
Nachricht von diesem Vorfall verbreitete sich so schnell, als hätte sie Flügel
bekommen. Tan Hongfei, der Kommandant des nördlichen Lagers, war ein ehemaliges
Mitglied des Schwarzen Eisenbataillons, der mit dem alten Grafen im Norden
gekämpft hatte. Als er erfuhr, dass auf seinen eigenen Befehlshaber im Herzen
des Reiches ein Attentat verübt worden war ‒ direkt vor seiner Nase ‒ geriet er
in Rage. Er führte persönlich ein Kontingent von Soldaten an, um den Vorfall zu
untersuchen.
Es war unmöglich, einen solch dramatischen Schritt zu
verbergen, und in kürzester Zeit verbreitete sich die Nachricht von dem
Attentat auf Gu Yun in den Außenbezirken der Hauptstadt wie ein Lauffeuer. Aber
das war nur der Anfang.
Als Gu Yun am nächsten Tag seine Augen und Ohren wieder
benutzen konnte und sich an sein Versehen erinnerte, war es bereits zu spät;
Tan Hongfei hatte seine Truppen bereits in die Hauptstadt geführt, um den
bedrängten Magistrat der Hauptstadt dazu zu bringen, verdächtige auswärtige
Gäste zu untersuchen. Der Herold, der im Auftrag Gu Yuns Tan Hongfei zur
Strecke bringen sollte, war kaum von seinem Pferd gestiegen, als ein
Unbekannter mit einem Blutbrief ankam und die Trommel schlug.
Gu Yuns Herold wagte es nicht, ohne Erlaubnis in das Büro
des Hauptstadtmagistrats einzudringen. Er schickte eilig jemanden aus, um seine
Ankunft zu verkünden, ohne zu wissen, dass der Ort bereits so chaotisch war wie
ein brodelnder Topf mit Brei. Er wartete lange genug, um ein ganzes
Räucherstäbchen zu verbrennen, bevor ihn schließlich jemand aus dem Büro des
Magistrats hineinführte, um seine Nachricht zu überbringen.
Noch bevor er einen Laut von sich geben konnte, war Tan Hongfei,
der Kommandant des nördlichen Lagers, mit einem grimmigen Blick aufgestanden
und schlug mit solcher Wucht auf den Schreibtisch vor ihm, dass dieser
zerbrach. Magistrat Zhu, der Hauptstadtmagistrat, erschrak so sehr, dass sein
schwarzer Gaze-Beamtenhut verrutschte und schief auf seinem Kopf hing.
„Wer zum Teufel sind Sie? Sagen Sie das noch einmal!“,
brüllte Tan Hongfei den Mann vor ihnen an.
Der Mann mittleren Alters, der den Brief in der Hand hielt,
sprach langsam und deutlich. „Dieser Niedrige ist der Besitzer einer
Konditorei, die sich in der Nähe des östlichen Gesandtschaftsviertels befindet.
Mein Adoptivvater war einst als Wu He-Gonggong bekannt, kaiserlicher Eunuch und
Siegelbewahrer des verstorbenen Yuanhe-Kaisers. Um der Strafverfolgung zu
entgehen, täuschte er vor vielen Jahren seinen Tod vor und hatte das Glück, aus
dem kaiserlichen Palast zu entkommen. Die ganze Zeit über lebte er im
Verborgenen unter dem einfachen Volk. Er hätte nie erwartet, nach mehr als
einem Dutzend Jahren von verräterischen Individuen entdeckt zu werden. Letzte
Nacht beging er Suizid, um seine Familie nicht zu belasten.
Das Leben dieses Niedrigen ist so kurz wie das Glühen eines
Glühwürmchens und so unbedeutend wie verrottendes Gras ‒ so wertlos, dass es
nicht erwähnenswert ist. Angesichts des Todes meines verstorbenen Vaters fühle
ich mich jedoch gezwungen, diese große Ungerechtigkeit vor der Welt zu
enthüllen.“
Hauptstadtrichter Zhu Heng erkannte sofort die
tiefgreifende Bedeutung des Falles, der vor ihnen lag. Prompt rief er: „Unverschämter
Schurke, was für ein Unsinn! Der kaiserliche Eunuch Wu He wurde wegen des
Verbrechens der Verschwörung zum Mord an einem kaiserlichen Prinzen
eingekerkert und zum Tode durch Taillenschnitt
verurteilt. Beschuldigt Ihr das kaiserliche Revisionsgericht, diesen Fall
falsch behandelt zu haben?“
Der Mann fiel auf die Knie und schlug mit dem Kopf auf den
Boden. „Dieser Niedrige ist im Besitz eines Blutbriefes, den mein Vater wenige
Minuten vor seinem Tod geschrieben hat. Heute setze ich meinen Hals für diese
Audienz bei Ihnen aufs Spiel, Euer Ehren. Wie könnte ich es wagen, auch nur ein
einziges Wort der Lüge zu sagen?“
Damals schien der kaiserliche Eunuch Wu He von einem Anfall
von Wahnsinn befallen zu sein. Er hatte Bestechungsgelder angenommen und sich
mit einer missliebigen kaiserlichen Konkubine verschworen, um den dritten
Prinzen zu ermorden. Der Aufruhr, der auf diesen Skandal folgte, hatte selbst
den jungen Gu Yun, der damals noch im kaiserlichen Palast residierte, erreicht.
Aus diesem Grund hatten sich ehemalige Mitglieder des Schwarzen Eisenbataillons
gewünscht, diesen unwissenden Eunuchen mit eigenen Händen in Stücke zu hacken.
Tan Hongfeis Miene war finster. „Magistrat Zhu, es schadet
nicht, ihn anzuhören.“
Gu Yuns Anweisungen waren klar gewesen: Tan Hongfei durfte
unter keinen Umständen Ärger machen. Der Herold spürte, dass die Situation eine
gefährliche Wendung nahm, und traf eine schnelle Entscheidung. „General Tan“,
warf er ein, „der Graf bittet Sie, sofort ins nördliche Lager zurückzukehren.“
„Das stimmt“, sagte Zhu Heng hastig. „General Tan, bitte
kehren Sie in das nördliche Lager zurück. Wenn es Neuigkeiten über diese
ausländischen Schurken gibt, wird dieser Niedrige Beamte sofort jemanden
schicken, um Sie zu benachrichtigen ...“
Der Beschwerdeführer, der unter dem Podium kniete, erhob
seine Stimme. „Dieser Niedrige erhebt Klage gegen den verstorbenen
Yuanhe-Kaiser wegen der Verbrechen, auf die Täuschungen der Schamanin der
Barbaren hereingefallen zu sein und sich verschworen zu haben, um seinen treuen
Untertan zu vergiften!“
Erklärungen:
Die Pferdestellung, im Chinesischen als „Ma Bu“ bekannt,
hat tiefe Wurzeln in den asiatischen Kampfkünsten. Der Name leitet sich von der
Ähnlichkeit der Haltung mit der Art und Weise ab, wie ein Reiter auf
einem Pferd sitzt. Historisch gesehen war die Pferdestellung eine grundlegende
Position im traditionellen Kung Fu, die sowohl für das Training als auch für
den Kampf verwendet wurde. Dabei stehen die Füße weiter als schulterbreit
auseinander. Die Knie sind gebeugt, um eine stabile Basis zu schaffen. Die
Oberschenkel sind parallel zum Boden oder so nah wie möglich an der Parallele.
Der Rücken ist gerade, und die Körpermitte ist angespannt.
Künstler*in des Bildes: Nahuel Leto (Pinterest)
Der Blutbrief ist ein Textstück, das mit dem eigenen Blut als Tinte geschrieben wird. Üblicherweise um seinen Groll, Hass, seine Trauer, seine Entschlossenheit oder seinen letzten Wunsch auszudrücken.
…die Trommel schlug: Im
alten China waren die Gerichtsbeamten mit einer 鸣冤鼓, einer „Beschwerdetrommel“,
ausgestattet, die die Rechtsuchenden schlugen, um den vorsitzenden Magistrat zu
rufen.
Der Taillenschnitt, auch Hüftschnitt genannt, war eine brutale Form der Hinrichtung im alten China. Wie der Name schon sagt, wurde der Verurteilte von einem Henker an der Taille in zwei Teile geschnitten. Es ist wichtig, zu wissen, dass diese Methode schmerzhaft und langsam war und den Verurteilten großes Leid zufügte.
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hmm ein klitzekleiner stein hat alles ins rollen gebracht.... nur weil unser lieber in Ruhestand getretener General nicht daran gedacht hat herrscht jetzt ein großes wirrwarr, so schnell gehts
AntwortenLöschenNun ja, das Wirrwarr wird noch viel größer und reißerischer werden, sowie schokierender.
LöschenAuch hier mal ein dickes Danke für die ganze Arbeit, Schweiß, Liebe was in euren Übersetzungen steht.
AntwortenLöschenFreu mich immer wenn ein neues Kapitel erscheint,und warte dann ungeduldig auf das nächste.
Es freut mich, dass auch Stars of Chaos gelesen wird. Aufgrund der wenigen Kommentare dachte ich, dass diese Fanübersetzung eher weniger beliebt ist.
LöschenDeine Freude und Ungeduld auf die nächsten Kapitel erfreut mich.
Ich hatte es am Anfang nur mitgelesen, aber mittlerweile gefällt mir die Geschichte richtig gut und ich freue mich auf jedes weitere Kapitel
LöschenJa, es bleibt weiter spannend
AntwortenLöschenImmerhin ist es wieder ein kleiner weiterer Höhepunkt. Die Spannung wird aber noch etwas anhalten, sowie einige Probleme.
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