Kapitel 54 ~ Ein plötzlicher Tumult

Chang Geng blieb einige Sekunden lang wie erstarrt stehen, bevor er zu der heißen Quelle hinüberging. Langsam ließ er sich auf die Knie fallen und starrte auf die Stränge von Narbengewebe, die Gu Yuns Körper bedeckten. Nach so vielen Jahren hatte er sich daran gewöhnt, mitten in der Nacht vom Wu'ergu wachgerüttelt zu werden. Er kam ruckartig wieder zu Bewusstsein, dann wälzte er sich hin und her und dachte an Gu Yun. Chang Geng hatte seit seiner Kindheit Ruhe und Frieden bevorzugt. Damals hatte er oft das Gefühl, dass sein übermäßig energiegeladener Patenonkel der Vernunft widersprach. Später, nachdem er in vielen schlaflosen Nächten darüber nachgedacht hatte, kam ihm eine seltsame Frage in den Sinn: Wie ist Gu Yun zu dem Menschen geworden, der er heute ist?

Als einziges Kind des ehemaligen Grafen von Anding und der ältesten Prinzessin musste er ein unvergleichlich wertvoller, unerträglich arroganter, adliger junger Meister gewesen sein. Doch nachdem er in so jungen Jahren sein Augenlicht und sein Gehör verloren hatte, war er unter der Peitsche seines eigenen Vaters vorwärtsgetrieben, geschlagen und umgeformt worden wie ein Schmiedeeisen, seine ungefiederten Flügel wurden mit Narben übersät. Er verlor zwei Elternteile in rascher Folge und wurde, als der vergangene Ruhm des Schwarzen Eisenbataillons mit der Zeit verblasste, wurde er tief im Inneren des kaiserlichen Palastes eingesperrt. Ein Mensch, der als Kind so viel Schmerz erfahren hat, sollte, selbst wenn er sich nicht zurückzieht oder launisch wird, zumindest nicht so verspielt und schelmisch werden ‒ dessen war sich Chang Geng sicher.

Er konnte sich nicht vorstellen, wie viele Schichten von sich überlagernden Wunden nötig waren, um einen Menschen wie Gu Yun zu zähmen.

Chang Geng hasste es plötzlich, dass er zehn Jahre zu spät geboren worden war, um die jungen und ungeschickten Hände dieses Menschen in einem Dickicht von Brombeeren und Dornen zu halten. Allein aus diesem Grund würde er Shen Yi sein Leben lang beneiden. Wie besessen griff er nach vorne und strich Gu Yuns langes Haar beiseite, das über seine Schultern ins Wasser fiel. Dann berührte er vorsichtig die Narbe, die sich über Gu Yuns Brust zog.

Sss...wie unverschämt.“ Ein Kribbeln überzog Gu Yuns Kopfhaut bei der Berührung, und er wich hastig zurück. „Ich versuche hier, mit dir zu reden ‒ warum fummelst du an mir herum?“

„Woher hast du die?“, fragte Chang Geng mit heiserer Stimme.

Der taube Mann hörte ihn nicht. Chang Geng ergriff Gu Yuns Hand und schrieb seine Frage, Wort für Wort, in seine Handfläche.

Gu Yun blinzelte überrascht. Sein Gedächtnis ließ ihn für einen Moment im Stich.

Chang Geng wischte das Kondenswasser auf Gu Yuns Glasmonokel weg und setzte es wieder auf seine Nase. Er blickte Gu Yun tief an und schrieb: „Yifu, lass uns abwechselnd reinen Tisch machen, okay?“

Gu Yun hatte ein unglückliches Verhältnis zu den Worten ‘reinen Tisch machen‘ und so war er natürlich überhaupt nicht damit einverstanden.

Chang Geng gab ihm keine Gelegenheit, zu widersprechen. „Du hast den verstorbenen Kaiser sehr gemocht. Aber wolltest du ihn küssen, umarmen und dein ganzes Leben lang mit ihm verstrickt sein?“

„Was?“, platzt Gu Yun heraus.

Er konnte nicht anders, als sich an das verwelkte Gesicht des verstorbenen Kaisers zu erinnern, das immer vor Elend zu strotzen schien. Prompt bekam er eine Gänsehaut.

„Nun gut. Du hast geantwortet, jetzt bin ich dran“, sagte Chang Geng mit asketischer Miene wie ein Mönch. „Ich will das.“

Es dauerte einige Sekunden, bis Gu Yun die Bedeutung von Chang Gengs ‘Ich will das‘ verdaut hatte. Kaum war die erste Gänsehautwelle abgeklungen, überkam ihn eine zweite, und alle Haare standen ihm zu Berge wie einem Igel.

„Ich will es ‒ zu jeder Tageszeit, sogar in meinen Träumen. Und ich will es besonders jetzt ... Ich will auch andere Dinge. Ich fürchte, ich würde Yifus Ohren besudeln, wenn ich sie laut ausspreche, also werde ich es nicht tun.“ Chang Geng schloss die Augen und wandte sein Gesicht von Gu Yun ab. „Wie hätte ich eine Qi-Abweichung rutschen können, wenn ich nicht tief und unwiderruflich in diesen Gefühlen verankert bin?“

Nach langem Schweigen sagte Gu Yun schließlich etwas steif: „Vielleicht solltest du wieder mit diesen Mönchen die Schriften lesen.“

„Wenn du das doch nur vor fünf Jahren zu mir gesagt hättest“, sagte Chang Geng. „Wenn ich damals losgelassen hätte, wären wir heute vielleicht nicht an diesem Punkt angelangt.“

Aber so viele Tage und Nächte waren vergangen. So viele Albträume und Qualen hatte er ertragen, nur weil er Gu Yuns Namen gerufen hatte. Die ganze Zeit über hatte er seinen Durst mit Gift gestillt, und jetzt war es zu spät.

Der Graf von Anding hatte Mühe, mitzuhalten. Nachdem er Chang Geng eine ganze Weile fassungslos angestarrt hatte, dachte er erschrocken: Vor fünf Jahren habe ich dich noch für einen Säugling gehalten!

„Nächste Frage.“ Chang Geng drückte die Augen zusammen. „Findet Yifu mich ekelhaft?“

Gu Yun verstummte wieder einmal. Chang Gengs Wimpern zuckten heftig, und seine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten in den Ärmeln. Gu Yuns körperliche Reaktion gerade eben konnte ihn nicht täuschen. Sein offensichtliches Unbehagen war deutlich an der Gänsehaut zu erkennen, die sich über seinen Körper ausbreitete.

Vielleicht konnte Gu Yun seine Zuneigung verstehen, aber sein Verlangen würde er nie verstehen.

Chang Geng hörte das Plätschern des Wassers, als Gu Yun an Land kletterte und sich seine Robe wieder über den Körper warf. Seufzend streckte Gu Yun die Hand aus und klopfte Chang Geng auf die Schulter. „Du weißt, dass das nicht möglich ist“, sagte er und wich der Frage gelassen aus.

Chang Gengs Mundwinkel kräuselten sich leicht, als wolle er lächeln. Doch am Ende gelang es ihm nicht. In einem kaum hörbaren Flüsterton sagte er: „Ich weiß. Ich werde es Yifu nicht schwer machen.“

Gu Yun setzte sich neben ihn. Es dauerte lange, bis er endlich seine Fassung wiederfand. Gerade als er den Mund öffnen wollte, um zu sprechen, wehte ihm ein heftiger Windstoß in den Rücken. Der Weinbecher, den Chang Geng beiseitegestellt hatte, erstrahlte in einem scharfen Licht. Bevor Gu Yun reagieren konnte, hatte sich Chang Geng bereits auf ihn gestürzt.

Chang Geng zog Gu Yun in seine Umarmung, rollte sich zur Seite und schlang seine Arme um den anderen Mann. Gleichzeitig nahm Gu Yuns Hundenase einen Hauch von Blut wahr.

Ein Pfeil, der weißen Dampf hinter sich herzog, streifte Chang Geng, riss durch seinen langen Ärmel und zerfetzte die Haut darunter. Chang Geng hob den Kopf und erblickte den kalten Schimmer von Metall, der über den kleinen, ruhigen Hof hinwegflog ‒ es war eine Gestalt in einer Leichten Fellrüstung!

Die Entfernung zwischen dem Herrenhaus mit den heißen Quellen und dem nördlichen Lager betrug weniger als drei Kilometer. Selbst ohne ein Pferd zu Höchstleistungen anzuspornen, konnte man in kürzester Zeit von einem Ort zum anderen reiten. Woher kam dieser Attentäter?

Der erste Anschlag des Attentäters verfehlte sein Ziel, aber die Gefahr war noch nicht vorüber.

Als die Sonne schwer über den Horizont sank, sprang der Mann in der Leichten Fellrüstung hinter der Hofmauer auf der anderen Seite hervor. Ein Dampfstoß schoss aus den Sohlen der Rüstung, und der Attentäter bewegte sich wie ein Blitz und war im Handumdrehen vor ihnen. Gu Yun schob Chang Geng zur Seite und zog ein Eisenschwert unter dem kleinen Tisch hervor, auf dem sie ihren Wein abgestellt hatten. Mit einer Handbewegung tauschte er mehrere schnelle Hiebe mit dem Attentäter aus.

Gu Yuns Kampffähigkeiten waren in seiner Kindheit im Training mit Eisenpuppen mit bloßen Händen geschärft worden. Er dachte nicht daran, sich mit einer Leichten Rüstung aus Violettem Gold anzulegen. Doch nach einem kurzen Zusammenstoß mit dem Feind wich Gu Yun einige Schritte zurück. Erschrocken stellte er fest, dass seine Hände zitterten, und er hatte Mühe, das Gewicht seines Eisenschwerts zu heben.

Ein Blick genügte Chang Geng, um zu bemerken, dass etwas nicht stimmte, und er griff nach ihm, um ihn aufzufangen. Chang Geng packte Gu Yuns Handgelenk und führte seine Hände so, dass er dem Attentäter die Klinge zielsicher durch die Kehle stieß. Die Spitze des Schwertes durchbohrte den Kopf des Attentäters und traf auf die Spitze seines Eisenhelms. Es gab ein scharfes Klirren, gefolgt von einem feinen Sprühnebel aus Blut.

Chang Geng warf keinen Blick auf den Toten, sondern fuhr mit seinen Fingern sofort über Gu Yuns inneres Handgelenk, um seinen Puls zu prüfen. „Du wurdest betäubt“, sagte er mit leiser Stimme.

Gu Yuns Brust fühlte sich taub an, und sein Herz pochte unregelmäßig. Er stöhnte zur Bestätigung und rang nach Atem. Als sich das Taubheitsgefühl auch auf den Rest seiner Gliedmaßen ausbreitete, wurde der taube und blinde Gu Yun vor Unbehagen angespannt.

„Es geht mir gut.“ Gu Yun atmete mehrmals schnell ein und aus. „Der Anschlag ist vielleicht noch nicht vorbei. Du ...“

Gu Yuns Krähenschnabel hatte seine Vorahnung noch nicht einmal beendet, als ein Dutzend Leichte Felle über die Hofmauern sprangen. Gleichzeitig erhoben sich die Wachen des Grafen, die draußen Wache hielten, aufgeschreckt durch die Störung. Vielleicht war etwas mit den Köpfen dieser Attentäter nicht in Ordnung ‒ ihr Attentatsversuch war gescheitert, doch sie wollten nicht aufgeben. Sie schwärmten aus, um die Wachen anzugreifen, als ob sie sterben wollten.

Die Hausangestellten des Grafenanwesens waren allesamt ehemalige Soldaten, die sich vom Schlachtfeld zurückgezogen hatten. Sie unterschieden sich von den angeheuerten Schlägern, die normalerweise zum Schutz der Häuser reicher Familien eingesetzt wurden. Diese Wachen waren äußerst diszipliniert und mobilisierten sich schnell und effizient. Als er sah, dass der Kampf nun sehr einseitig war, half Chang Geng Gu Yun, sich zurückzuziehen.

„Yifu ...“

Gu Yun hob einen Finger an seine Lippen. Er klopfte Chang Geng auf die Schulter und hob Chang Gengs verwundeten Arm sanft an, um ihm zu signalisieren, dass er sich zuerst um sich selbst kümmern sollte. Chang Geng ignorierte ihn. Er kniete sich neben Gu Yun und fasste ihn am Handgelenk; sein Puls war bereits ruhiger als zuvor. Chang Geng bemühte sich, ruhig zu bleiben. Er erinnerte sich daran, dass Gu Yun jahrelang Medikamente missbraucht hatte, so dass er resistenter gegen Drogen war als der Durchschnittsmensch. Es war nicht so einfach, ihn auszuschalten ‒ höchstwahrscheinlich hatte die Droge nur deshalb so schnell gewirkt, weil er im heißen Wasser gebadet hatte.

Plötzlich hallte eine Explosion über den Hof und ließ das ganze Herrenhaus erbeben. Selbst der halbtaube Gu Yun hörte sie. Nach einem kurzen Handgemenge waren die Attentäter von den fähigen Wachen des Herrenhauses überwältigt worden. Doch bevor der Hauptmann der Wache sie festnehmen konnte, zerriss jeder Attentäter den Goldtank auf seiner Rüstung und zerstörte sich selbst!

Gu Yun kniff seine eher nutzlosen Augen zusammen und murmelte leise: „Ein Selbstmordattentat ...“

Der Hauptmann der Wache befahl seinen Männern, das Feuer zu löschen, und eilte zu Gu Yun hinüber. „Vergebt diesem Untergebenen seine Inkompetenz. Ich bitte darum, dass der Graf und Seine Hoheit zuerst evakuiert werden.“

Gu Yun gab keine Antwort. Er schien in seinen eigenen Gedanken gefangen zu sein.

Verblasste Erinnerungen wurden brutal an die Oberfläche seines Herzens gezerrt. Sie fletschten bösartig ihre Zähne vor seinen Augen und schwangen Krallen, die mit der Zeit nur noch schärfer wurden. Die Winde, die in jenem Jahr über den Pass peitschten, waren von tödlicher Absicht erfüllt. Überall, wohin er blickte, war Schwarzes Eisen zu sehen, und in der Ferne erstreckten sich grenzenlose, kahle Graslandschaften. Ein riesiger Schwarm Geier kreiste über ihm, und Pferde galoppierten durch das hohe Gras und warfen alle paar Schritte weiße Knochenstücke in die Luft, die von den Zähnen wilder Tiere zerfetzt waren.

Der kleine Gu Yun, dessen Kopf kaum die Schreibtischplatte überragte, wurde gerade vom alten Grafen wegen eines kleinen Vergehens bestraft. Man hatte ihm verboten, zu frühstücken, und zur Strafe stand er nun in der Mitte des Lagers in der Pferdestellung. Die Soldaten, die vorbeikamen, mussten kichern, als sie ihn sahen. Der Junge war von klein auf übermäßig stolz gewesen, und das Lachen der Soldaten trieb ihm die Tränen in die Augen, aber er weigerte sich hartnäckig, sie fallen zu lassen.

Inzwischen waren die Kämpfe an der Grenze abgeflaut. Der Tribut der achtzehn Stämme in Form von violettem Gold war in die Staatskasse geflossen, und ihrer Göttin war der Titel einer Edlen Gemahlin verliehen worden. Alles war friedlich verlaufen.

Ohne Vorwarnung brach ein Soldat in einer Schweren Rüstung auf Patrouille neben Gu Yun zusammen. Alle Wachen in seinem Hof folgten diesem Beispiel und brachen einer nach dem anderen an Ort und Stelle zusammen. Donnernde Kampfschreie erreichten ihn von außerhalb der Mauern. Der kleine Gu Yun hatte noch nie einen Kampf gesehen. Wie versteinert suchte er instinktiv nach einer Waffe.

Aber er war nur ein Kind. Selbst wenn er beide Hände benutzte, konnte er nicht einmal das leichteste Schwert heben.

Die Angreifer, die an jenem Tag das Lager stürmten, waren ebenfalls ein Selbstmordkommando gewesen, ihre Bewegungen waren schnell wie der Wind, als sie wie die Dämonen oder Götter vorstürmten. Gu Yun hatte beobachtet, wie ein Soldat, der ihn noch vor wenigen Minuten ausgelacht hatte, plötzlich zu kämpfen begann, wie ein sterbender Vogel, der entschlossen war, den jungen Gu Yun mit seinem Körper zu schützen.

Selbst jetzt noch erinnerte sich Gu Yun an das Meer des Gemetzels; wie er hilflos zugesehen hatte, wie diese Soldaten einer nach dem anderen in ihrem eigenen Lager niedergemetzelt wurden, wie Vieh, das auf die Schlachtung wartet. Irgendetwas hatte ihn in den Rücken getroffen, der Schmerz war unerträglich, wurde aber bald durch Taubheit ersetzt. Allmählich fühlte sich sein Körper an, als sei er von seinem Geist getrennt worden. Die Geräusche um ihn herum verblassten, und das wenige Bewusstsein, das er noch hatte, schien neben seinem Herzen gefangen zu sein, das fast durch seinen Brustkorb schlug. Er konnte nicht atmen ...

In dieser halbbewussten Benommenheit hatte er eine welterschütternde Explosion gehört ‒ das war der Moment, in dem die Prinzessin mit Verstärkung eintraf und die Eindringlinge ihre Leichte Rüstung selbst zerstörten.

Chang Geng drückte ihm auf die Schulter. „Yifu!“

Gu Yuns glasige Augen konzentrierten sich endlich wieder. „Ist auf den unverbrannten Leichen eine Wolfskopf-Tätowierung zu sehen?“, murmelte er.

„Was?“, fragte Chang Geng.

Der Hauptmann der Wache zuckte überrascht zusammen und riss dann den Kopf hoch ‒ die Wachen des Gu-Anwesens erinnerten sich noch deutlicher an diesen Vorfall als ihr Meister, der damals noch so jung gewesen war. „Der Graf sagt ...“

„Seht nach, nachdem ihr das Feuer gelöscht habt“, sagte Gu Yun ausdruckslos. „Und findet die Person, die mich betäubt hat.“

Gu Yun spürte, wie die Wirkung der Droge nachließ, während er sprach. Er ging wie benommen vorwärts. Sein gläsernes Monokel war zerbrochen, als es in dem vorherigen Chaos zu Boden fiel; er konnte kaum sehen, wohin er ging, und wäre fast direkt in die heiße Quelle getreten. Chang Geng richtete sich schwerfällig auf, untypisch ungeschickt. Er legte seinen Arm schützend um Gu Yuns Rücken, ohne auch nur ein Wort des Abschieds zu sagen, und führte ihn über den ganzen Hof.

Gu Yun war so in seine Gedanken versunken, dass er ihn nicht einmal wegstieß.

Chang Geng half ihm in sein Zimmer und legte ihm eine dünne Decke über die Schultern. Er wollte gerade seinen Puls prüfen, als Gu Yun endlich sprach. „Bring mir meine Medizin.“

Chang Geng runzelte die Stirn. „Nein, du bist noch ...“

Gu Yuns Gesicht wurde leer. „Ich sagte, bringt mir meine Medizin“, wiederholte er, diesmal eindringlicher.

Chang Geng starrte ihn erstaunt an. Er konnte spüren, dass Gu Yuns Temperament zu glühen begann. Obwohl sein Gesicht teilnahmslos blieb, kam langsam eine Bösartigkeit zum Vorschein, als sich die Brutalität einer Million Eisenrüstungen in seinen unsichtbaren Augen vereinigte. Für einen Augenblick wirkte dieser zart aussehende Mann wie ein dämonischer Unhold, der aus dem Schlummer erwacht war ‒ aber nur für einen Augenblick.

Gu Yun kam bald wieder zur Besinnung, und seine Miene wurde weicher. Er tastete leicht nach Chang Gengs Arm und klopfte ihm dann auf die Hand. „Geh und versorge zuerst deine Wunde. Wenn du damit fertig bist, hilf mir, eine Dosis meiner Medizin zuzubereiten ‒ was ist daraus geworden, mir zuzuhören, hm?“

Chang Geng schwieg einen Moment lang. Dann wandte er sich zum Gehen und schlug auf dem Weg nach draußen mit der Faust gegen die Säule neben der Tür.

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In diesem Moment fegte ein noch heftigerer Sturm auf das Lichtermeer der Hauptstadt zu.

In dieser Nacht warf ein bartloser alter Mann mit schütterem Haar in einem Haus in einer engen Gasse im Gesandtschaftsviertel einen letzten Blick auf den Blutbrief, der auf dem Tisch lag. Er erhängte sich an den Dachbalken und beendete sein kränkelndes Leben, als sich der erste Schimmer der Morgendämmerung über die Hauptstadt strahlte.

In seiner Aufregung hatte Gu Yun vergessen, den Hauptmann der Wache anzuweisen, den Angriff unter Verschluss zu halten. Das Herrenhaus der heißen Quellen und das nördliche Lager waren praktisch Nachbarn; die Nachricht von diesem Vorfall verbreitete sich so schnell, als hätte sie Flügel bekommen. Tan Hongfei, der Kommandant des nördlichen Lagers, war ein ehemaliges Mitglied des Schwarzen Eisenbataillons, der mit dem alten Grafen im Norden gekämpft hatte. Als er erfuhr, dass auf seinen eigenen Befehlshaber im Herzen des Reiches ein Attentat verübt worden war ‒ direkt vor seiner Nase ‒ geriet er in Rage. Er führte persönlich ein Kontingent von Soldaten an, um den Vorfall zu untersuchen.

Es war unmöglich, einen solch dramatischen Schritt zu verbergen, und in kürzester Zeit verbreitete sich die Nachricht von dem Attentat auf Gu Yun in den Außenbezirken der Hauptstadt wie ein Lauffeuer. Aber das war nur der Anfang.

Als Gu Yun am nächsten Tag seine Augen und Ohren wieder benutzen konnte und sich an sein Versehen erinnerte, war es bereits zu spät; Tan Hongfei hatte seine Truppen bereits in die Hauptstadt geführt, um den bedrängten Magistrat der Hauptstadt dazu zu bringen, verdächtige auswärtige Gäste zu untersuchen. Der Herold, der im Auftrag Gu Yuns Tan Hongfei zur Strecke bringen sollte, war kaum von seinem Pferd gestiegen, als ein Unbekannter mit einem Blutbrief ankam und die Trommel schlug.

Gu Yuns Herold wagte es nicht, ohne Erlaubnis in das Büro des Hauptstadtmagistrats einzudringen. Er schickte eilig jemanden aus, um seine Ankunft zu verkünden, ohne zu wissen, dass der Ort bereits so chaotisch war wie ein brodelnder Topf mit Brei. Er wartete lange genug, um ein ganzes Räucherstäbchen zu verbrennen, bevor ihn schließlich jemand aus dem Büro des Magistrats hineinführte, um seine Nachricht zu überbringen.

Noch bevor er einen Laut von sich geben konnte, war Tan Hongfei, der Kommandant des nördlichen Lagers, mit einem grimmigen Blick aufgestanden und schlug mit solcher Wucht auf den Schreibtisch vor ihm, dass dieser zerbrach. Magistrat Zhu, der Hauptstadtmagistrat, erschrak so sehr, dass sein schwarzer Gaze-Beamtenhut verrutschte und schief auf seinem Kopf hing.

„Wer zum Teufel sind Sie? Sagen Sie das noch einmal!“, brüllte Tan Hongfei den Mann vor ihnen an.

Der Mann mittleren Alters, der den Brief in der Hand hielt, sprach langsam und deutlich. „Dieser Niedrige ist der Besitzer einer Konditorei, die sich in der Nähe des östlichen Gesandtschaftsviertels befindet. Mein Adoptivvater war einst als Wu He-Gonggong bekannt, kaiserlicher Eunuch und Siegelbewahrer des verstorbenen Yuanhe-Kaisers. Um der Strafverfolgung zu entgehen, täuschte er vor vielen Jahren seinen Tod vor und hatte das Glück, aus dem kaiserlichen Palast zu entkommen. Die ganze Zeit über lebte er im Verborgenen unter dem einfachen Volk. Er hätte nie erwartet, nach mehr als einem Dutzend Jahren von verräterischen Individuen entdeckt zu werden. Letzte Nacht beging er Suizid, um seine Familie nicht zu belasten.

Das Leben dieses Niedrigen ist so kurz wie das Glühen eines Glühwürmchens und so unbedeutend wie verrottendes Gras ‒ so wertlos, dass es nicht erwähnenswert ist. Angesichts des Todes meines verstorbenen Vaters fühle ich mich jedoch gezwungen, diese große Ungerechtigkeit vor der Welt zu enthüllen.“

Hauptstadtrichter Zhu Heng erkannte sofort die tiefgreifende Bedeutung des Falles, der vor ihnen lag. Prompt rief er: „Unverschämter Schurke, was für ein Unsinn! Der kaiserliche Eunuch Wu He wurde wegen des Verbrechens der Verschwörung zum Mord an einem kaiserlichen Prinzen eingekerkert und zum Tode durch Taillenschnitt verurteilt. Beschuldigt Ihr das kaiserliche Revisionsgericht, diesen Fall falsch behandelt zu haben?“

Der Mann fiel auf die Knie und schlug mit dem Kopf auf den Boden. „Dieser Niedrige ist im Besitz eines Blutbriefes, den mein Vater wenige Minuten vor seinem Tod geschrieben hat. Heute setze ich meinen Hals für diese Audienz bei Ihnen aufs Spiel, Euer Ehren. Wie könnte ich es wagen, auch nur ein einziges Wort der Lüge zu sagen?“

Damals schien der kaiserliche Eunuch Wu He von einem Anfall von Wahnsinn befallen zu sein. Er hatte Bestechungsgelder angenommen und sich mit einer missliebigen kaiserlichen Konkubine verschworen, um den dritten Prinzen zu ermorden. Der Aufruhr, der auf diesen Skandal folgte, hatte selbst den jungen Gu Yun, der damals noch im kaiserlichen Palast residierte, erreicht. Aus diesem Grund hatten sich ehemalige Mitglieder des Schwarzen Eisenbataillons gewünscht, diesen unwissenden Eunuchen mit eigenen Händen in Stücke zu hacken.

Tan Hongfeis Miene war finster. „Magistrat Zhu, es schadet nicht, ihn anzuhören.“

Gu Yuns Anweisungen waren klar gewesen: Tan Hongfei durfte unter keinen Umständen Ärger machen. Der Herold spürte, dass die Situation eine gefährliche Wendung nahm, und traf eine schnelle Entscheidung. „General Tan“, warf er ein, „der Graf bittet Sie, sofort ins nördliche Lager zurückzukehren.“

„Das stimmt“, sagte Zhu Heng hastig. „General Tan, bitte kehren Sie in das nördliche Lager zurück. Wenn es Neuigkeiten über diese ausländischen Schurken gibt, wird dieser Niedrige Beamte sofort jemanden schicken, um Sie zu benachrichtigen ...“

Der Beschwerdeführer, der unter dem Podium kniete, erhob seine Stimme. „Dieser Niedrige erhebt Klage gegen den verstorbenen Yuanhe-Kaiser wegen der Verbrechen, auf die Täuschungen der Schamanin der Barbaren hereingefallen zu sein und sich verschworen zu haben, um seinen treuen Untertan zu vergiften!“

 

 

 

Erklärungen:


Die Pferdestellung, im Chinesischen als „Ma Bu“ bekannt, hat tiefe Wurzeln in den asiatischen Kampfkünsten. Der Name leitet sich von der Ähnlichkeit der Haltung mit der Art und Weise ab, wie ein Reiter auf einem Pferd sitzt. Historisch gesehen war die Pferdestellung eine grundlegende Position im traditionellen Kung Fu, die sowohl für das Training als auch für den Kampf verwendet wurde. Dabei stehen die Füße weiter als schulterbreit auseinander. Die Knie sind gebeugt, um eine stabile Basis zu schaffen. Die Oberschenkel sind parallel zum Boden oder so nah wie möglich an der Parallele. Der Rücken ist gerade, und die Körpermitte ist angespannt.

Künstler*in des Bildes: Nahuel Leto (Pinterest) 

Der Blutbrief ist ein Textstück, das mit dem eigenen Blut als Tinte geschrieben wird. Üblicherweise um seinen Groll, Hass, seine Trauer, seine Entschlossenheit oder seinen letzten Wunsch auszudrücken.

…die Trommel schlug: Im alten China waren die Gerichtsbeamten mit einer 鸣冤鼓, einer „Beschwerdetrommel“, ausgestattet, die die Rechtsuchenden schlugen, um den vorsitzenden Magistrat zu rufen.

Der Taillenschnitt, auch Hüftschnitt genannt, war eine brutale Form der Hinrichtung im alten China. Wie der Name schon sagt, wurde der Verurteilte von einem Henker an der Taille in zwei Teile geschnitten. Es ist wichtig, zu wissen, dass diese Methode schmerzhaft und langsam war und den Verurteilten großes Leid zufügte.




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7 Kommentare:

  1. hmm ein klitzekleiner stein hat alles ins rollen gebracht.... nur weil unser lieber in Ruhestand getretener General nicht daran gedacht hat herrscht jetzt ein großes wirrwarr, so schnell gehts

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    1. Nun ja, das Wirrwarr wird noch viel größer und reißerischer werden, sowie schokierender.

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  2. Auch hier mal ein dickes Danke für die ganze Arbeit, Schweiß, Liebe was in euren Übersetzungen steht.
    Freu mich immer wenn ein neues Kapitel erscheint,und warte dann ungeduldig auf das nächste.

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    1. Es freut mich, dass auch Stars of Chaos gelesen wird. Aufgrund der wenigen Kommentare dachte ich, dass diese Fanübersetzung eher weniger beliebt ist.
      Deine Freude und Ungeduld auf die nächsten Kapitel erfreut mich.

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    2. Ich hatte es am Anfang nur mitgelesen, aber mittlerweile gefällt mir die Geschichte richtig gut und ich freue mich auf jedes weitere Kapitel

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  3. Ja, es bleibt weiter spannend

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    1. Immerhin ist es wieder ein kleiner weiterer Höhepunkt. Die Spannung wird aber noch etwas anhalten, sowie einige Probleme.

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