Chang Geng jagte Gu Yun hinterher. „Yifu, warte!“
Gu Yun, der bereits rittlings auf seinem Pferd saß, blickte
von seinem hohen Sitzplatz herab. Sein Schlachtross war genauso ängstlich wie
sein Reiter, denn obwohl Gu Yun die Zügel fest in der Hand hielt, stapfte es
ungeduldig auf der Stelle.
Das Blut auf Chang Gengs Gesicht schien an seiner
Handfläche und seinem Ärmel zu kleben, er glich einem Bai
Miao-Porträt eines auf Papier gezeichneten Menschen.
Sein Gesichtsausdruck war jedoch fast teilnahmslos, als
hätte er eine Maske über das Gesicht gezogen, das noch vor wenigen Sekunden so
schmerzhaft gewesen war.
Chang Geng sagte mit Bedacht: „Wenn es Onkel Huo nicht
gelingt, General Tan in Schach zu halten, Yifu, dann ziehst du das Unglück auf
dich, wenn du jetzt in die Hauptstadt zurückkehrst.“
Gu Yuns zierliche Augenbraue hob sich leicht. Er öffnete
den Mund, um zu sprechen, aber Chang Geng unterbrach ihn.
„Ich weiß. Selbst wenn du ein Unglück heraufbeschwörst,
wirst du in die Hauptstadt zurückkehren, denn die Kaiserliche Garde ist dem nördlichen
Lager nicht gewachsen. Außer Yifu gibt es niemanden, der General Tan in Schach
halten könnte. Wenn eine Rebellion die Hauptstadt erschüttern würde, wären die
Folgen unvorstellbar.“ Chang Geng holte tief Luft, dann streckte er Gu Yun eine
blutige Hand entgegen. „Aber wenn Seine Majestät dich festhält, werden die
Generäle an allen vier Grenzen zweifellos unruhig werden, und auch das kann zu
einer Katastrophe führen. Yifu, gib mir ein Zeichen, das die Herzen des Volkes
beruhigen wirst.“
Schock flackerte über das Gesicht von Gu Yun. Dieses Kind,
das ihn eben noch so sehr geärgert hatte, kam ihm plötzlich fremd vor.
Jeder Mensch hat viele Gesichter. Manche üben in der
Öffentlichkeit eine legendäre Autorität aus, verwandeln sich aber in der Nähe
ihrer Familie in ein kleines Kind: vergesslich, wankelmütig und unwissend, was
die Welt anbelangt.
Chang Geng entfernte sich immer mehr von dem Jungen, der
seinen jungen Patenonkel Shiliu rebellisch genannt hatte, sich aber in jeder
Hinsicht auf ihn verließ. Doch die Bewunderung und das Vertrauen, die er Gu Yun
entgegenbrachte, blieben in seinem Herzen. Selbst wenn sich seine Zuneigung
mitten in der Nacht in eine leidenschaftlichere Richtung bewegte, verlieh diese
väterliche oder brüderliche Facette ihrer Beziehung der ganzen Angelegenheit
einen Hauch von Tabu.
Und so sollte es auch bleiben, bis die östlichen Winde des
Wandels die letzten verbliebenen Fragmente seiner jugendlichen Gefühle
verwehten.
Chang Geng wurde schnell klar, dass er im Begriff war,
allein einen Weg zu beschreiten, auf dem ihn niemand verstehen und niemand ihn
begleiten würde.
Von nun an war er nicht mehr der Sohn von irgendjemandem
und auch kein Kind der jüngeren Generation.
Gu Yun nahm sein persönliches Siegel heraus und warf es
Chang Geng zu. „Dieses Siegel hat nicht das gleiche Gewicht wie das des Schwarzen
Eisen-Tigeramuletts“, sagte er, „aber alle Veteranen meines Kommandos werden es
erkennen. Es könnte von einigem Nutzen sein. Wenn es darauf ankommt ... überleg
dir, wie du den alten General Zhong kontaktieren kannst.“
Chang Geng schaute das Siegel nicht einmal an, bevor er es
in seinem Ärmel verstaute. „Ich verstehe. Yifu braucht sich keine Sorgen zu
machen“, sagte er mit einem langsamen Nicken.
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, rammte Gu Yun seine
Fersen in die Flanken seines Pferdes und galoppierte in die Ferne davon. Chang
Geng starrte auf den sich zurückziehenden Rücken des Pferdes, bis es aus seinem
Blickfeld verschwand. Plötzlich kniff er die Augen zusammen und murmelte: „Zixi
...“
Der Wächter des Grafenanwesens, der neben ihm stand, hörte
ihn nicht richtig. Er fragte verwirrt: „Eure Hoheit, was habt Ihr gesagt?“
Chang Geng drehte sich um. „Bereitet einen Pinsel und
Papier vor.“
„Eure Hoheit, Eure Hände ...“ Der Wächter lief ihm
hinterher.
Chang Geng hielt inne, hob Gu Yuns zurückgelassenen
Weinkrug auf und goss, ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern, den ganzen
Krug mit dem starken Schnaps über die Wunden an seinen Händen. Die Wunden, die
bereits zu verschorfen begonnen hatten, bluteten durch den Schwall der
Flüssigkeit erneut. Chang Geng holte achtlos ein Taschentuch aus seinem Revers
und wickelte sie fest ein.
________________
In der Hauptstadt hatte niemand erwartet, dass der Tod
eines alten Eunuchen einen solchen Sturm der Entrüstung auslösen würde.
Der Groll, den Tan Hongfei zwanzig Jahre lang unterdrückt
hatte, brach aus ihm heraus ‒ er hatte wohl schon den Verstand verloren. Er
schickte zunächst Soldaten aus, um das Anwesen des kaiserlichen Onkels Wang zu
umzingeln. Als er erfuhr, dass der alte Bastard seine Frau und seine Kinder im
Stich gelassen hatte, um sich im Palast zu verstecken, machte er eine
Kehrtwende und richtete seine Klinge dreist auf die kaiserliche Garde, die zum
Tatort geeilt war.
Die kaiserliche Garde und das nördliche Lager waren schon
immer die letzten Verteidigungslinien der Hauptstadt gewesen, eine innerhalb
und eine außerhalb, und die beiden kreuzten sich ständig. Die kaiserliche Garde
bestand im Großen und Ganzen aus zwei Gruppen: Junge Meistersoldaten, die von
Vetternwirtschaft profitierten und von der kaiserlichen Staatskasse lebten, und
Elitesoldaten aus dem nördlichen Lager. Erstere hatten sich bereits vor Angst
in die Hosen gemacht und waren unzuverlässig. Letztere waren zwar fähig, aber
als sie plötzlich mit ihrer „Geburtsfamilie“ konfrontiert wurden, steckten auch
sie eine Zeit lang in einem Dilemma. Wie Chang Geng vorausgesagt hatte, war die
kaiserliche Garde im Handumdrehen besiegt.
Musik und Gesang aus dem Drachenflug-Pavillon hallten noch
immer durch die Hallen, und der weiße Dampf aus den erhitzten Krügen mit
Blumenwein hatte sich noch nicht verzogen, aber in der Hauptstadt herrschte
bereits ein heilloses Durcheinander.
Tan Hongfei und seine Männer drangen bis zum Sperrgebiet
des kaiserlichen Palastes vor. Der General nahm seinen Helm ab, als ob er
seinen eigenen Kopf in den Armen hielte, und machte drei Verbeugungen und neun
Kotaus in Richtung der großen Halle. Er brüllte die kaiserliche Garde an, die
ihm den Weg versperrte: „Dieser schuldige Untertan Tan Hongfei bittet um eine
Audienz bei Seiner Majestät! Möge Seine Majestät den hinterhältigen Verräter
ausliefern, der innerhalb der Palastmauern Unterschlupf gefunden hat, und allen
meinen Kameraden, die für die Verteidigung unserer Nation kämpfen, und allen
unter dem Himmel eine angemessene Erklärung geben! Dieser schuldige Untertan
ist bereit, tausend Tode zu sterben für das Verbrechen, die Hand seines
Herrschers zu zwingen!“
Als seine Worte Li Feng im Palast zu Ohren kamen, geriet
der Kaiser, der noch nicht einmal dazu gekommen war, Wang Guo zu tadeln, sofort
in Rage. Wang Guo war mit eingezogenem Schwanz geflohen, aber der Sohn des
Himmels war aus viel härterem Holz geschnitzt. In seiner Wut zerschlug Li Feng
beinahe das kaiserliche Jadesiegel. Er schüttelte alle Ratschläge seiner Diener
ab, warf sich eine Robe über und wandte sich zum Gehen, um durch die Türen der
großen Halle zu schreiten und Tan Hongfei persönlich gegenüberzutreten.
Die massiven Streitkräfte der Hauptstadt der Nation und die
kaiserlichen Leibwächter des Kaiserpalastes starrten einander über Dutzende von
Metern weißer Marmorstufen hinweg an. Selbst die Spatzen, die auf den
Palastmauern hockten, begannen vor Nervosität zu schwitzen.
Gu Yun traf gerade noch rechtzeitig ein, um Zeuge dieser
gefährlichen Pattsituation zu werden.
Gu Yun hatte nur einundzwanzig Männer mitgebracht. Sie
bahnten sich einen Weg durch die Truppen des nördlichen Lagers, die den Kaiserpalast
umgaben, und stürmten direkt hinein. Beim Anblick dieser Konfrontation spuckte
der wütende Graf von Anding fast einen Mund voll Herzblut aus. Er stürmte vor
und schlug mit seiner Peitsche auf Tan Hongfeis Gesicht ein und hinterließ eine
blutige Wunde. „Wollt Ihr sterben?“, brüllte er.
Die Ränder von Tan Hongfeis Augen röteten sich beim Anblick
von Gu Yun. „Marschall ...“
„Seid still. Wollt Ihr seine Majestät zur Abdankung
zwingen?“ Gu Yun trat Tan Hongfei in die Schulter und stampfte ihn praktisch in
den Boden. „Habt Ihr noch irgendeine Ehrerbietung in Eurem Herzen? Irgendeine
Loyalität? Versteht Ihr die Hierarchie zwischen einem Herrn und seinem
Untertan? Was ist mit der Regel, dass die Soldaten des nördlichen Lagers die
Hauptstadt nicht ohne Vorladung betreten dürfen? Wer hat Euch den Mut gegeben, sich
gegen Euren Vorgesetzten aufzulehnen?“
Tan Hongfei krümmte sich auf dem Boden und schluchzte bei
seinen Worten. „Marschall, es ist zwanzig Jahre her. Unsere Brüder, die
vergeblich gestorben sind, unsere Brüder, die noch gerächt werden müssen ...“
Gu Yun blickte auf ihn herab, die Augen kalt wie Eis und
ebenso ungerührt. „Befehlt allen Mitgliedern des nördlichen Lagers, sich
innerhalb einer Stunde hinter die neun Tore zurückzuziehen. Wenn ihr auch nur
eine Sekunde zu spät seid, werde ich euch persönlich niedermähen. Verschwindet!“
„Marschall!“
„Raus hier!“ Gu Yuns Augenwinkel pulsierten unaufhörlich.
Er stieß Tan Hongfei weg, trat vor, schlug den Saum seiner Robe hoch und kniete
vor den Steinstufen der großen Halle nieder. „Friede, Eure Majestät. General
Tan hat sich in seiner Jugend Verletzungen zugezogen und leidet seit Langem an
Anfällen von Geisteskrankheit. Er wurde von böswilligen Parteien angestiftet
und muss kurzzeitig besessen gewesen sein, wodurch seine Krankheit aufflammte.
In Anbetracht seiner langjährigen verdienstvollen und unermüdlichen Dienste
bitte ich Sie, diesen Verrückten zu verschonen und ihn nach Hause zu schicken,
damit er sich erholen kann.“
Zhu Xiaojiao nutzte die Gelegenheit und flüsterte Li Feng
ins Ohr. „Eure Majestät, seht Ihr, der Marschall ist auch hier. Ihr dürft mit
Eurem ehrwürdigen Körper kein Risiko eingehen; warum geht Ihr nicht erst einmal
nach drinnen?“
Li Feng lachte wütend und drehte sich zu Zhu Xiaojiao um.
Als er sprach, war seine Stimme eisig: „Was, ist er jetzt auch noch Euer
'Marschall'?“
Zhu Xiaojiaos Gesicht wurde totenbleich, und er sank mit
einem dumpfen Schlag auf die Knie.
Li Feng stand auf den weißen Marmorstufen, die Hände auf
dem Rücken verschränkt, und starrte auf den Grafen von Anding in seiner Leichten
Fellrüstung aus Schwarzen Eisen herab. Endlich verstand er, warum der
verstorbene Kaiser vor seinem Ableben Li Fengs Hand ergriffen und ihn ermahnt
hatte, sich vor einer bestimmten Person in acht zu nehmen ‒ nicht vor dem
ehrgeizigen Prinzen Wei oder den habgierigen Ausländern, sondern vor seiner
eigenen rechten Hand, Gu Yun.
Eine Stunde später hatte sich das nördliche Lager hinter
die neun Tore zurückgezogen. Einschließlich Tan Hongfei wurden neun hochrangige
Offiziere, die in den Vorfall verwickelt waren, hinter Gitter geworfen,
darunter auch der Graf von Anding.
Zur gleichen Zeit stiegen unzählige Holzvögel aus dem
Herrenhaus mit den heißen Quellen in den nördlichen Außenbezirken auf. Leichte
Kavalleristen galoppierten auf zwei verschiedenen Routen und trugen jeweils
einen Brief mit dem persönlichen Siegel von Gu Yun. In Zivilkleidung eilten sie
in Richtung Nordwesten und zur Küste des Ostmeeres in Jiangnan, zwei wichtigen
Regionen entlang der Grenze.
Hätte Chang Geng auch nur einen oder zwei Schwarze Falken
zur Verfügung gehabt, hätte er vielleicht eine Chance gehabt. Aber als der Longan-Kaiser
Gu Yuns Kommandosiegel konfiszierte, schickte er jeden einzelnen seiner
Soldaten des Schwarzen Eisenbataillons zurück in die nordwestliche Garnison.
Und wieder einmal waren sie zu spät dran.
__________________
Das Juwel, das den Eingang zur Seidenstraße in den
westlichen Regionen bildete, erblühte gerade in der schönen Frühlingsröte.
Die blühende Szene von vor einigen Monaten war nicht mehr
da. Jeder Grenzpass war versperrt, das Schwarze Eisenbataillon stand in voller
Kampfmontur bereit, tödliche schwarze Krähen, so weit das Auge reichte. He Ronghui
hatte den Befehl, als Vizekommandant der drei Divisionen zu fungieren, und die
Marschbefehlsverordnung verstaubte auf seinem Schreibtisch.
Es war ein stark bewölkter Tag, und schwarze Wolken hingen
tief über der Stadt. Die Garnisonen der einzelnen Nationen hatten ihre Tore
verschlossen, und alles war still. Es war, als ob dieses Feld aus gelbem Sand
auf einen einzigen Funken wartete, der es in Flammen setzen würde.
Vielleicht hat General He zu viel nachgedacht. Er spürte
eine Vorahnung: Etwas würde geschehen.
Plötzlich fiel ein Schwarzer Falke vom Himmel. Der Mann schwankte
als er landete, und rollte sich im Staub und Sand der Westregionen. Ein
Kavallerist mit Leichtem Fell aus Schwarzeisen, der zufällig auf Patrouille
vorbeikam, sah dies und beeilte sich, der Sache nachzugehen. Der Attentäter aus
der Luft, der Herr der Lüfte, schien unter dem Gewicht seiner Schwarzen Falkenrüstung
zusammenzubrechen. Er kniete auf dem Boden und umklammerte die Hand seines
Kameraden mit einem Schraubstockgriff. Unter seinem Visier wirkte sein
jugendliches Gesicht erschreckend blass.
Der Hauptmann der Patrouille eilte herbei. „Hatte General
He Sie nicht in die Hauptstadt beordert, um sich zu erkundigen, wann der
Marschall sein Siegel zurückerhält? Was ist hier los? Was genau geht hier vor?“,
fragte er im Schnelldurchlauf.
Der Schwarze Falke biss die Zähne zusammen; Blut sickerte
zwischen seinen Zähnen hervor. Sein hübsches Gesicht verzog sich, als er sich
die Falkenrüstung vom Leib riss. Heiser sagte er. „Ich muss mit General He sprechen
...“
Kaum war der Zwischenfall im nördlichen Lager beendet und
Tan Hongfei inhaftiert, fürchtete der Kommandant der Neun-Tore-Infanterie, dass
die Nachricht von der Festnahme des Grafen von Anding noch größere Unruhen
auslösen würde. Nachdem er die Verteidigungsaufgaben des nördlichen Lagers
übernommen hatte, schickte er als Erstes seine Männer los, um alle Eingänge zur
Hauptstadt und ihrer Umgebung zu versiegeln. Der von He Ronghui entsandte
Schwarze Falke war noch in der Luft, als er von einer Salve von
Nebensonnenpfeilen getroffen wurde. Nachdem er sich mühsam aus dem Sperrfeuer
befreit hatte, landete er getarnt und erfuhr schließlich aus Gerüchten, die
unter dem einfachen Volk kursierten, wie die Lage aussah.
Wütend drehte der Schwarze Falke um und flog geradewegs
zurück nach Nordwesten, wobei er den leichten Kavalleristen, den Chang Geng zu He
Ronghui geschickt hatte, überholte. Ein Schwarzer Falke war viel schneller als
ein Pferd; er erreichte die Garnison des Schwarzen Eisenbataillons mehrere Tage
vor dem Reiter.
Das Pulverfass namens He Ronghui explodierte auf der
Stelle. Noch in derselben Nacht führte er seine Männer an, um das Protektorat
des Nordwestens zu stürmen. Zur gleichen Zeit verließen die Sandtiger, die sich
in Qiuci versammelt hatten, langsam ihr Lager, hoben ihre Köpfe und richteten
ihre pechschwarzen Schnauzen nach Osten.
Jede Partei hatte alles getan, was menschenmöglich war. Der
Rest war dem Schicksal überlassen.
Wie bedauerlich, dass das Schicksal des Hauses Li, dessen
Schicksalsjahre sich dem Ende zuneigten, sie völlig im Stich gelassen hatte.
_________________
In der Einöde der nördlichen Grenze, wo nach einem
plötzlichen warmen Frühling ein zweiter Kälteeinbruch stattgefunden hatte.
Der Kamm einer gewundenen Gebirgskette wölbte sich in einem
sanften Bogen, und eifrige Wildblumen schossen Welle um Welle von Knospen in
die Höhe. Ein Rudel grauer Wölfe stand hoch oben auf einem Hügel. Jagdbussarde
kreischten, als sie durch die Luft zogen, und eine staubige, ölverschmierte
Fahne wehte im Wind neben flatternden Tierfellen. Der endlose Himmel war
azurblau, die weite Erde schwarz und gelb, und tief in den dichten Gräsern
stand ein Heer von Tausenden.
Inmitten des kalten Eisens und des Dröhnens der Maschinen
erhob sich eine Stimme in einem heiseren und doch zarten Gesang.
„Der reinste Geist des Graslandes, selbst die himmlischen
Winde wollen den Saum ihres Rockes küssen. Alle Lebewesen singen mit, alle
Lebewesen neigen ihr Haupt, sie knien auf dem Land, wo sie singt und tanzt. Im
kommenden Jahr werden diese Länder mit Rindern und Schafen bevölkert sein, sie
werden mit üppiger Vegetation gedeihen, sie werden mit einem Blumenteppich
blühen, der sich bis an den Rand der Himmelsberge erstreckt. Im kommenden Jahr
wird es einen ewigen Himmel und immergrünes Gras geben, wilde Hasen werden aus
ihren Höhlen kriechen, Wildpferde werden zurückkehren ...“
Es war fünf, fast sechs Jahre her, dass Jialai Yinghuo, der
Barbarenkronprinz aus dem Norden, der in seinem Zorn einen Frontalangriff auf
die Stadt Yanhui gestartet hatte, nun die achtzehn Stämme geerbt und der wahre
Wolfskönig geworden war. Die Nordwestwinde jenseits des Passes hatten sein
Gesicht mit tiefen Furchen gezeichnet, als hätte ihn eine Klinge geschnitten,
und Tausende von Tagen und Nächten waren wie Schnitzmesser auf sein Antlitz
gefallen, seine Knochen waren von Hass und Verbitterung durchdrungen.
Jetzt war das Haar an seinen Schläfen weiß gesträhnt, und
der mörderische Glanz in seinen Augen war ordentlich in seinem Herzen
aufbewahrt worden, keine Spur davon war auf seinem Gesicht zu sehen. Seine
große und weitreichende Gesangsstimme war bereits mit Staub bedeckt. Er sang
nur ein paar Strophen ‒ bekannte Texte aus dem bekannten Lied ‒ aber seine
Stimme war bereits rau geworden.
Er hob den Weinkrug an seiner Hüfte und nahm einen Schluck
des ungefilterten Schnapses, der nach Rost schmeckte. Seine Augen waren zum
Himmel gerichtet, auf eine schwebende Gestalt, die sich aus der Ferne näherte,
und sein Gesicht war angespannt. Die schwarze Gestalt, die mit den jagenden
Falken Flügel an Flügel flog, näherte sich rasch ‒ es war eine Falkenrüstung,
größer als die der Schwarzen Falken und weitaus grausamer im Aussehen. Mit
einem schrillen Kreischen flog der Soldat heran, landete vor dem Wolfskönig und
hielt ihm mit beiden Händen einen kleinen goldenen Pfeil aus einem unbekannten
Material hin.
Jialai Yinghuo hob den kleinen Pfeil auf und goss seinen
Wein über seine Oberfläche. Auf dem einst glänzenden Schaft erschien allmählich
eine Textzeile in der Schrift der achtzehn Stämme. Die schlanken und
geschwungenen Schriftzeichen breiteten sich unter dem starken Alkohol aus und
bildeten Worte: Möge der Wolfskönig den ersten Schritt tun.
Jialai Yinghuo sog den Atem ein. Einst hatte er gedacht,
dass ihn, wenn dieser Tag endlich gekommen war, eine wilde Freude überkommen
würde.
Aber es war nicht so. Erst jetzt entdeckte er, dass der
Hass nach so vielen Jahren in ihm eine Leere hinterlassen hatte. Seine Chance,
den Spieß umzudrehen, war zum Greifen nahe, aber er hatte vergessen, wie man
vor Freude lacht. Der herrschende Wolfskönig blickte in den grenzenlosen Himmel
und wurde vom Licht der Sonne schwindelig. Es war, als starrten ihn die Augen
der Toten in ihren unzähligen Paaren direkt an.
„Es ist Zeit“, murmelte er und hob eine Hand. Sein Heer von
Tausenden verstummte.
Er schwang seine Hand heftig nach unten.
Die grauen Wölfe heulten zum Himmel. Sie stürmten von den
Hügeln herab und richteten ihre Klauen nach Süden.
_______________
Auf den Inselgruppen des Südens, wo warme Winde durch
immergrünes Laub heulten ...
Ein großes Schiff, schwarz vom Bug bis zum Heck, fuhr in
einen ruhigen, rauen Hafen ein. Noch bevor das Schiff fest vertäut war, hatte
eine Schar gerüsteter und bewaffneter Krieger bereits die Türen geöffnet und
strömten aus den Kabinen. Die unbewohnte kleine Insel wurde augenblicklich in
Licht getaucht. Inmitten der kolossalen Felsformationen standen reihenweise
Kampfrüstungen wie eine unheilvolle Armee von Geistersoldaten, deren Visiere im
schwachen Schein des Feuers düster wirkten. Zwischen den Reihen der Schweren
Rüstungen war eine riesige Militärkarte zu sehen, auf der jeder einzelne
geheime Tunnel in den Gebirgszügen der südlichen Grenze eingezeichnet war. Die
vierundsechzig, die Gu Yun ausgegraben hatte, waren nur die Spitze des
Eisbergs.
_______________
Und schließlich, im einst friedlichen Ostmeer ...
Schlangenartige Ninja- und Dong Ying-Krieger mit langen
Säbeln verkleideten sich als Wokou-Piraten und ruderten in winzigen Booten
unbemerkt über den Ozean, wobei sie sich mit seltsamen Gesten verständigten.
Sie strömten aus allen Richtungen herbei und sammelten sich langsam wie ein
Ameisenhaufen. Die Frachtschiffe, die sonst wie Wasser ein- und ausliefen,
glitten eines nach dem anderen aus dem Hafen von Groß-Liang und wandten sich
dann lautlos den Inseln von Dong Ying zu.
Der lange, durchdringende Pfiff einer Dampfpfeife ertönte
über den grenzenlosen Ozean. Die Handelsschiffe sammelten sich in geordneter
Formation, ihre Bewegungen waren geordnet und streng. Als sie die Reichweite
der Marine von Jiangnan verließen, holte das Schiff an der Spitze der Formation
seine Handelsflagge ein. An ihrer Stelle wehte die strenge und schwere
Schlachtflagge des westlichen Papstes, die sich über die Meeresoberfläche erhob
und einen langen Schatten hinter sich herzog.
Der Flaggenwechsel war eine Art Schreckenssignal: Jedes der
riesigen Handelsschiffe begann, sich zu zerlegen. Ihre äußeren Hüllen, die den
Anschein von Frieden erwecken sollten, lösten sich, fielen ins Meer und
enthüllten eine Reihe pechschwarzer Kanonenmündungen darunter. Es waren Drachenschiffe,
wie sie die Welt noch nie gesehen hatte. Sie waren klein und von eigentümlicher
Bauweise; man könnte sie unter der Hülle eines gewöhnlichen Handelsschiffs
verstecken, aber sie segelten blitzschnell und bewegten sich wie Seeungeheuer,
die Stürme hinter sich ließen, wenn sie durch die Brandung schnitten.
Signalflaggen gaben Befehle, und der Schwarm von Ungeheuern
zerstreute sich. Ein riesiger schwarzer Schatten erhob sich unaufhaltsam aus
der Tiefe des Wassers.
Eine Welle von der Größe eines kleinen Berges erhob sich
von der einst ruhigen Oberfläche des Meeres. Was zum Vorschein kam, war ein
riesiges Ungeheuer, das in seiner Größe seinesgleichen suchte. Es durchbrach
die Oberfläche und enthüllte einen grotesken Kopf und unzählige Saugnäpfe, an
denen Tausende von bewaffneten und einsatzbereiten Seedrachen und
Kriegsschiffen befestigt waren. Senkrechte Säulen auf dem großen Ungetüm waren
mit Violettem Gold gefüllt. Die dicke eiserne Hülle öffnete sich durch das
Drehen zahlloser ineinandergreifender Zahnräder, um Reihen von Kanonen in jeder
Größe zu enthüllen, deren klaffende Mündungen wie viele bösartige Augen ohne
Unterlass hin und her schwenkten.
Dieses gewaltige Seeungeheuer konnte mehr als ein Dutzend
von Groß-Liangs Drachenschiffen auf seinem Deck tragen.
Die Kabinentür schwang langsam auf. Eine tiefschwarze
Treppe schien sich wie eine große Zunge aus dem Nichts zu entfalten, und zwei
Reihen Westler-Matrosen mit seltsamen kleinen Hüten traten im Gänsemarsch
heraus. Ein schwarzer Regenschirm öffnete sich in der schwarzen Tür und hob
sich, um das Meerwasser, das von oben herabströmte, abzuhalten. Ein Mann neigte
den Kopf und trat gelassen in seinen Schutz ‒ es war kein anderer als der
weißhaarige Westler, dem Gu Yun einst im Kaiserpalast begegnet war.
Die Gestalt, die den Schirm hielt, kam einen halben Schritt
hinter ihm heraus. Es war derselbe „Herr Ja“, der vor Monaten die Banditen an
der südlichen Grenze im Regen stehen gelassen hatte.
Erklärungen:
Bai Miao ist ein Kunststil, bei dem nur Strichzeichnungen ohne Farbgebung verwendet werden.
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