Kapitel 56 ~ Gedämpfter Donner; Akt 7; Eine Nation in der Krise

Chang Geng jagte Gu Yun hinterher. „Yifu, warte!“

Gu Yun, der bereits rittlings auf seinem Pferd saß, blickte von seinem hohen Sitzplatz herab. Sein Schlachtross war genauso ängstlich wie sein Reiter, denn obwohl Gu Yun die Zügel fest in der Hand hielt, stapfte es ungeduldig auf der Stelle.

Das Blut auf Chang Gengs Gesicht schien an seiner Handfläche und seinem Ärmel zu kleben, er glich einem Bai Miao-Porträt eines auf Papier gezeichneten Menschen.

Sein Gesichtsausdruck war jedoch fast teilnahmslos, als hätte er eine Maske über das Gesicht gezogen, das noch vor wenigen Sekunden so schmerzhaft gewesen war.

Chang Geng sagte mit Bedacht: „Wenn es Onkel Huo nicht gelingt, General Tan in Schach zu halten, Yifu, dann ziehst du das Unglück auf dich, wenn du jetzt in die Hauptstadt zurückkehrst.“

Gu Yuns zierliche Augenbraue hob sich leicht. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, aber Chang Geng unterbrach ihn.

„Ich weiß. Selbst wenn du ein Unglück heraufbeschwörst, wirst du in die Hauptstadt zurückkehren, denn die Kaiserliche Garde ist dem nördlichen Lager nicht gewachsen. Außer Yifu gibt es niemanden, der General Tan in Schach halten könnte. Wenn eine Rebellion die Hauptstadt erschüttern würde, wären die Folgen unvorstellbar.“ Chang Geng holte tief Luft, dann streckte er Gu Yun eine blutige Hand entgegen. „Aber wenn Seine Majestät dich festhält, werden die Generäle an allen vier Grenzen zweifellos unruhig werden, und auch das kann zu einer Katastrophe führen. Yifu, gib mir ein Zeichen, das die Herzen des Volkes beruhigen wirst.“

Schock flackerte über das Gesicht von Gu Yun. Dieses Kind, das ihn eben noch so sehr geärgert hatte, kam ihm plötzlich fremd vor.

Jeder Mensch hat viele Gesichter. Manche üben in der Öffentlichkeit eine legendäre Autorität aus, verwandeln sich aber in der Nähe ihrer Familie in ein kleines Kind: vergesslich, wankelmütig und unwissend, was die Welt anbelangt.

Chang Geng entfernte sich immer mehr von dem Jungen, der seinen jungen Patenonkel Shiliu rebellisch genannt hatte, sich aber in jeder Hinsicht auf ihn verließ. Doch die Bewunderung und das Vertrauen, die er Gu Yun entgegenbrachte, blieben in seinem Herzen. Selbst wenn sich seine Zuneigung mitten in der Nacht in eine leidenschaftlichere Richtung bewegte, verlieh diese väterliche oder brüderliche Facette ihrer Beziehung der ganzen Angelegenheit einen Hauch von Tabu.

Und so sollte es auch bleiben, bis die östlichen Winde des Wandels die letzten verbliebenen Fragmente seiner jugendlichen Gefühle verwehten.

Chang Geng wurde schnell klar, dass er im Begriff war, allein einen Weg zu beschreiten, auf dem ihn niemand verstehen und niemand ihn begleiten würde.

Von nun an war er nicht mehr der Sohn von irgendjemandem und auch kein Kind der jüngeren Generation.

Gu Yun nahm sein persönliches Siegel heraus und warf es Chang Geng zu. „Dieses Siegel hat nicht das gleiche Gewicht wie das des Schwarzen Eisen-Tigeramuletts“, sagte er, „aber alle Veteranen meines Kommandos werden es erkennen. Es könnte von einigem Nutzen sein. Wenn es darauf ankommt ... überleg dir, wie du den alten General Zhong kontaktieren kannst.“

Chang Geng schaute das Siegel nicht einmal an, bevor er es in seinem Ärmel verstaute. „Ich verstehe. Yifu braucht sich keine Sorgen zu machen“, sagte er mit einem langsamen Nicken.

Kaum hatte er zu Ende gesprochen, rammte Gu Yun seine Fersen in die Flanken seines Pferdes und galoppierte in die Ferne davon. Chang Geng starrte auf den sich zurückziehenden Rücken des Pferdes, bis es aus seinem Blickfeld verschwand. Plötzlich kniff er die Augen zusammen und murmelte: „Zixi ...“

Der Wächter des Grafenanwesens, der neben ihm stand, hörte ihn nicht richtig. Er fragte verwirrt: „Eure Hoheit, was habt Ihr gesagt?“

Chang Geng drehte sich um. „Bereitet einen Pinsel und Papier vor.“

„Eure Hoheit, Eure Hände ...“ Der Wächter lief ihm hinterher.

Chang Geng hielt inne, hob Gu Yuns zurückgelassenen Weinkrug auf und goss, ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern, den ganzen Krug mit dem starken Schnaps über die Wunden an seinen Händen. Die Wunden, die bereits zu verschorfen begonnen hatten, bluteten durch den Schwall der Flüssigkeit erneut. Chang Geng holte achtlos ein Taschentuch aus seinem Revers und wickelte sie fest ein.

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In der Hauptstadt hatte niemand erwartet, dass der Tod eines alten Eunuchen einen solchen Sturm der Entrüstung auslösen würde.

Der Groll, den Tan Hongfei zwanzig Jahre lang unterdrückt hatte, brach aus ihm heraus ‒ er hatte wohl schon den Verstand verloren. Er schickte zunächst Soldaten aus, um das Anwesen des kaiserlichen Onkels Wang zu umzingeln. Als er erfuhr, dass der alte Bastard seine Frau und seine Kinder im Stich gelassen hatte, um sich im Palast zu verstecken, machte er eine Kehrtwende und richtete seine Klinge dreist auf die kaiserliche Garde, die zum Tatort geeilt war.

Die kaiserliche Garde und das nördliche Lager waren schon immer die letzten Verteidigungslinien der Hauptstadt gewesen, eine innerhalb und eine außerhalb, und die beiden kreuzten sich ständig. Die kaiserliche Garde bestand im Großen und Ganzen aus zwei Gruppen: Junge Meistersoldaten, die von Vetternwirtschaft profitierten und von der kaiserlichen Staatskasse lebten, und Elitesoldaten aus dem nördlichen Lager. Erstere hatten sich bereits vor Angst in die Hosen gemacht und waren unzuverlässig. Letztere waren zwar fähig, aber als sie plötzlich mit ihrer „Geburtsfamilie“ konfrontiert wurden, steckten auch sie eine Zeit lang in einem Dilemma. Wie Chang Geng vorausgesagt hatte, war die kaiserliche Garde im Handumdrehen besiegt.

Musik und Gesang aus dem Drachenflug-Pavillon hallten noch immer durch die Hallen, und der weiße Dampf aus den erhitzten Krügen mit Blumenwein hatte sich noch nicht verzogen, aber in der Hauptstadt herrschte bereits ein heilloses Durcheinander.

Tan Hongfei und seine Männer drangen bis zum Sperrgebiet des kaiserlichen Palastes vor. Der General nahm seinen Helm ab, als ob er seinen eigenen Kopf in den Armen hielte, und machte drei Verbeugungen und neun Kotaus in Richtung der großen Halle. Er brüllte die kaiserliche Garde an, die ihm den Weg versperrte: „Dieser schuldige Untertan Tan Hongfei bittet um eine Audienz bei Seiner Majestät! Möge Seine Majestät den hinterhältigen Verräter ausliefern, der innerhalb der Palastmauern Unterschlupf gefunden hat, und allen meinen Kameraden, die für die Verteidigung unserer Nation kämpfen, und allen unter dem Himmel eine angemessene Erklärung geben! Dieser schuldige Untertan ist bereit, tausend Tode zu sterben für das Verbrechen, die Hand seines Herrschers zu zwingen!“

Als seine Worte Li Feng im Palast zu Ohren kamen, geriet der Kaiser, der noch nicht einmal dazu gekommen war, Wang Guo zu tadeln, sofort in Rage. Wang Guo war mit eingezogenem Schwanz geflohen, aber der Sohn des Himmels war aus viel härterem Holz geschnitzt. In seiner Wut zerschlug Li Feng beinahe das kaiserliche Jadesiegel. Er schüttelte alle Ratschläge seiner Diener ab, warf sich eine Robe über und wandte sich zum Gehen, um durch die Türen der großen Halle zu schreiten und Tan Hongfei persönlich gegenüberzutreten.

Die massiven Streitkräfte der Hauptstadt der Nation und die kaiserlichen Leibwächter des Kaiserpalastes starrten einander über Dutzende von Metern weißer Marmorstufen hinweg an. Selbst die Spatzen, die auf den Palastmauern hockten, begannen vor Nervosität zu schwitzen.

Gu Yun traf gerade noch rechtzeitig ein, um Zeuge dieser gefährlichen Pattsituation zu werden.

Gu Yun hatte nur einundzwanzig Männer mitgebracht. Sie bahnten sich einen Weg durch die Truppen des nördlichen Lagers, die den Kaiserpalast umgaben, und stürmten direkt hinein. Beim Anblick dieser Konfrontation spuckte der wütende Graf von Anding fast einen Mund voll Herzblut aus. Er stürmte vor und schlug mit seiner Peitsche auf Tan Hongfeis Gesicht ein und hinterließ eine blutige Wunde. „Wollt Ihr sterben?“, brüllte er.

Die Ränder von Tan Hongfeis Augen röteten sich beim Anblick von Gu Yun. „Marschall ...“

„Seid still. Wollt Ihr seine Majestät zur Abdankung zwingen?“ Gu Yun trat Tan Hongfei in die Schulter und stampfte ihn praktisch in den Boden. „Habt Ihr noch irgendeine Ehrerbietung in Eurem Herzen? Irgendeine Loyalität? Versteht Ihr die Hierarchie zwischen einem Herrn und seinem Untertan? Was ist mit der Regel, dass die Soldaten des nördlichen Lagers die Hauptstadt nicht ohne Vorladung betreten dürfen? Wer hat Euch den Mut gegeben, sich gegen Euren Vorgesetzten aufzulehnen?“

Tan Hongfei krümmte sich auf dem Boden und schluchzte bei seinen Worten. „Marschall, es ist zwanzig Jahre her. Unsere Brüder, die vergeblich gestorben sind, unsere Brüder, die noch gerächt werden müssen ...“

Gu Yun blickte auf ihn herab, die Augen kalt wie Eis und ebenso ungerührt. „Befehlt allen Mitgliedern des nördlichen Lagers, sich innerhalb einer Stunde hinter die neun Tore zurückzuziehen. Wenn ihr auch nur eine Sekunde zu spät seid, werde ich euch persönlich niedermähen. Verschwindet!“

„Marschall!“

„Raus hier!“ Gu Yuns Augenwinkel pulsierten unaufhörlich. Er stieß Tan Hongfei weg, trat vor, schlug den Saum seiner Robe hoch und kniete vor den Steinstufen der großen Halle nieder. „Friede, Eure Majestät. General Tan hat sich in seiner Jugend Verletzungen zugezogen und leidet seit Langem an Anfällen von Geisteskrankheit. Er wurde von böswilligen Parteien angestiftet und muss kurzzeitig besessen gewesen sein, wodurch seine Krankheit aufflammte. In Anbetracht seiner langjährigen verdienstvollen und unermüdlichen Dienste bitte ich Sie, diesen Verrückten zu verschonen und ihn nach Hause zu schicken, damit er sich erholen kann.“

Zhu Xiaojiao nutzte die Gelegenheit und flüsterte Li Feng ins Ohr. „Eure Majestät, seht Ihr, der Marschall ist auch hier. Ihr dürft mit Eurem ehrwürdigen Körper kein Risiko eingehen; warum geht Ihr nicht erst einmal nach drinnen?“

Li Feng lachte wütend und drehte sich zu Zhu Xiaojiao um. Als er sprach, war seine Stimme eisig: „Was, ist er jetzt auch noch Euer 'Marschall'?“

Zhu Xiaojiaos Gesicht wurde totenbleich, und er sank mit einem dumpfen Schlag auf die Knie.

Li Feng stand auf den weißen Marmorstufen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und starrte auf den Grafen von Anding in seiner Leichten Fellrüstung aus Schwarzen Eisen herab. Endlich verstand er, warum der verstorbene Kaiser vor seinem Ableben Li Fengs Hand ergriffen und ihn ermahnt hatte, sich vor einer bestimmten Person in acht zu nehmen ‒ nicht vor dem ehrgeizigen Prinzen Wei oder den habgierigen Ausländern, sondern vor seiner eigenen rechten Hand, Gu Yun.

Eine Stunde später hatte sich das nördliche Lager hinter die neun Tore zurückgezogen. Einschließlich Tan Hongfei wurden neun hochrangige Offiziere, die in den Vorfall verwickelt waren, hinter Gitter geworfen, darunter auch der Graf von Anding.

Zur gleichen Zeit stiegen unzählige Holzvögel aus dem Herrenhaus mit den heißen Quellen in den nördlichen Außenbezirken auf. Leichte Kavalleristen galoppierten auf zwei verschiedenen Routen und trugen jeweils einen Brief mit dem persönlichen Siegel von Gu Yun. In Zivilkleidung eilten sie in Richtung Nordwesten und zur Küste des Ostmeeres in Jiangnan, zwei wichtigen Regionen entlang der Grenze.

Hätte Chang Geng auch nur einen oder zwei Schwarze Falken zur Verfügung gehabt, hätte er vielleicht eine Chance gehabt. Aber als der Longan-Kaiser Gu Yuns Kommandosiegel konfiszierte, schickte er jeden einzelnen seiner Soldaten des Schwarzen Eisenbataillons zurück in die nordwestliche Garnison.

Und wieder einmal waren sie zu spät dran.

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Das Juwel, das den Eingang zur Seidenstraße in den westlichen Regionen bildete, erblühte gerade in der schönen Frühlingsröte.

Die blühende Szene von vor einigen Monaten war nicht mehr da. Jeder Grenzpass war versperrt, das Schwarze Eisenbataillon stand in voller Kampfmontur bereit, tödliche schwarze Krähen, so weit das Auge reichte. He Ronghui hatte den Befehl, als Vizekommandant der drei Divisionen zu fungieren, und die Marschbefehlsverordnung verstaubte auf seinem Schreibtisch.

Es war ein stark bewölkter Tag, und schwarze Wolken hingen tief über der Stadt. Die Garnisonen der einzelnen Nationen hatten ihre Tore verschlossen, und alles war still. Es war, als ob dieses Feld aus gelbem Sand auf einen einzigen Funken wartete, der es in Flammen setzen würde.

Vielleicht hat General He zu viel nachgedacht. Er spürte eine Vorahnung: Etwas würde geschehen.

Plötzlich fiel ein Schwarzer Falke vom Himmel. Der Mann schwankte als er landete, und rollte sich im Staub und Sand der Westregionen. Ein Kavallerist mit Leichtem Fell aus Schwarzeisen, der zufällig auf Patrouille vorbeikam, sah dies und beeilte sich, der Sache nachzugehen. Der Attentäter aus der Luft, der Herr der Lüfte, schien unter dem Gewicht seiner Schwarzen Falkenrüstung zusammenzubrechen. Er kniete auf dem Boden und umklammerte die Hand seines Kameraden mit einem Schraubstockgriff. Unter seinem Visier wirkte sein jugendliches Gesicht erschreckend blass.

Der Hauptmann der Patrouille eilte herbei. „Hatte General He Sie nicht in die Hauptstadt beordert, um sich zu erkundigen, wann der Marschall sein Siegel zurückerhält? Was ist hier los? Was genau geht hier vor?“, fragte er im Schnelldurchlauf.

Der Schwarze Falke biss die Zähne zusammen; Blut sickerte zwischen seinen Zähnen hervor. Sein hübsches Gesicht verzog sich, als er sich die Falkenrüstung vom Leib riss. Heiser sagte er. „Ich muss mit General He sprechen ...“

Kaum war der Zwischenfall im nördlichen Lager beendet und Tan Hongfei inhaftiert, fürchtete der Kommandant der Neun-Tore-Infanterie, dass die Nachricht von der Festnahme des Grafen von Anding noch größere Unruhen auslösen würde. Nachdem er die Verteidigungsaufgaben des nördlichen Lagers übernommen hatte, schickte er als Erstes seine Männer los, um alle Eingänge zur Hauptstadt und ihrer Umgebung zu versiegeln. Der von He Ronghui entsandte Schwarze Falke war noch in der Luft, als er von einer Salve von Nebensonnenpfeilen getroffen wurde. Nachdem er sich mühsam aus dem Sperrfeuer befreit hatte, landete er getarnt und erfuhr schließlich aus Gerüchten, die unter dem einfachen Volk kursierten, wie die Lage aussah.

Wütend drehte der Schwarze Falke um und flog geradewegs zurück nach Nordwesten, wobei er den leichten Kavalleristen, den Chang Geng zu He Ronghui geschickt hatte, überholte. Ein Schwarzer Falke war viel schneller als ein Pferd; er erreichte die Garnison des Schwarzen Eisenbataillons mehrere Tage vor dem Reiter.

Das Pulverfass namens He Ronghui explodierte auf der Stelle. Noch in derselben Nacht führte er seine Männer an, um das Protektorat des Nordwestens zu stürmen. Zur gleichen Zeit verließen die Sandtiger, die sich in Qiuci versammelt hatten, langsam ihr Lager, hoben ihre Köpfe und richteten ihre pechschwarzen Schnauzen nach Osten.

Jede Partei hatte alles getan, was menschenmöglich war. Der Rest war dem Schicksal überlassen.

Wie bedauerlich, dass das Schicksal des Hauses Li, dessen Schicksalsjahre sich dem Ende zuneigten, sie völlig im Stich gelassen hatte.

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In der Einöde der nördlichen Grenze, wo nach einem plötzlichen warmen Frühling ein zweiter Kälteeinbruch stattgefunden hatte.

Der Kamm einer gewundenen Gebirgskette wölbte sich in einem sanften Bogen, und eifrige Wildblumen schossen Welle um Welle von Knospen in die Höhe. Ein Rudel grauer Wölfe stand hoch oben auf einem Hügel. Jagdbussarde kreischten, als sie durch die Luft zogen, und eine staubige, ölverschmierte Fahne wehte im Wind neben flatternden Tierfellen. Der endlose Himmel war azurblau, die weite Erde schwarz und gelb, und tief in den dichten Gräsern stand ein Heer von Tausenden.

Inmitten des kalten Eisens und des Dröhnens der Maschinen erhob sich eine Stimme in einem heiseren und doch zarten Gesang.

„Der reinste Geist des Graslandes, selbst die himmlischen Winde wollen den Saum ihres Rockes küssen. Alle Lebewesen singen mit, alle Lebewesen neigen ihr Haupt, sie knien auf dem Land, wo sie singt und tanzt. Im kommenden Jahr werden diese Länder mit Rindern und Schafen bevölkert sein, sie werden mit üppiger Vegetation gedeihen, sie werden mit einem Blumenteppich blühen, der sich bis an den Rand der Himmelsberge erstreckt. Im kommenden Jahr wird es einen ewigen Himmel und immergrünes Gras geben, wilde Hasen werden aus ihren Höhlen kriechen, Wildpferde werden zurückkehren ...“

Es war fünf, fast sechs Jahre her, dass Jialai Yinghuo, der Barbarenkronprinz aus dem Norden, der in seinem Zorn einen Frontalangriff auf die Stadt Yanhui gestartet hatte, nun die achtzehn Stämme geerbt und der wahre Wolfskönig geworden war. Die Nordwestwinde jenseits des Passes hatten sein Gesicht mit tiefen Furchen gezeichnet, als hätte ihn eine Klinge geschnitten, und Tausende von Tagen und Nächten waren wie Schnitzmesser auf sein Antlitz gefallen, seine Knochen waren von Hass und Verbitterung durchdrungen.

Jetzt war das Haar an seinen Schläfen weiß gesträhnt, und der mörderische Glanz in seinen Augen war ordentlich in seinem Herzen aufbewahrt worden, keine Spur davon war auf seinem Gesicht zu sehen. Seine große und weitreichende Gesangsstimme war bereits mit Staub bedeckt. Er sang nur ein paar Strophen ‒ bekannte Texte aus dem bekannten Lied ‒ aber seine Stimme war bereits rau geworden.

Er hob den Weinkrug an seiner Hüfte und nahm einen Schluck des ungefilterten Schnapses, der nach Rost schmeckte. Seine Augen waren zum Himmel gerichtet, auf eine schwebende Gestalt, die sich aus der Ferne näherte, und sein Gesicht war angespannt. Die schwarze Gestalt, die mit den jagenden Falken Flügel an Flügel flog, näherte sich rasch ‒ es war eine Falkenrüstung, größer als die der Schwarzen Falken und weitaus grausamer im Aussehen. Mit einem schrillen Kreischen flog der Soldat heran, landete vor dem Wolfskönig und hielt ihm mit beiden Händen einen kleinen goldenen Pfeil aus einem unbekannten Material hin.

Jialai Yinghuo hob den kleinen Pfeil auf und goss seinen Wein über seine Oberfläche. Auf dem einst glänzenden Schaft erschien allmählich eine Textzeile in der Schrift der achtzehn Stämme. Die schlanken und geschwungenen Schriftzeichen breiteten sich unter dem starken Alkohol aus und bildeten Worte: Möge der Wolfskönig den ersten Schritt tun.

Jialai Yinghuo sog den Atem ein. Einst hatte er gedacht, dass ihn, wenn dieser Tag endlich gekommen war, eine wilde Freude überkommen würde.

Aber es war nicht so. Erst jetzt entdeckte er, dass der Hass nach so vielen Jahren in ihm eine Leere hinterlassen hatte. Seine Chance, den Spieß umzudrehen, war zum Greifen nahe, aber er hatte vergessen, wie man vor Freude lacht. Der herrschende Wolfskönig blickte in den grenzenlosen Himmel und wurde vom Licht der Sonne schwindelig. Es war, als starrten ihn die Augen der Toten in ihren unzähligen Paaren direkt an.

„Es ist Zeit“, murmelte er und hob eine Hand. Sein Heer von Tausenden verstummte.

Er schwang seine Hand heftig nach unten.

Die grauen Wölfe heulten zum Himmel. Sie stürmten von den Hügeln herab und richteten ihre Klauen nach Süden.

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Auf den Inselgruppen des Südens, wo warme Winde durch immergrünes Laub heulten ...

Ein großes Schiff, schwarz vom Bug bis zum Heck, fuhr in einen ruhigen, rauen Hafen ein. Noch bevor das Schiff fest vertäut war, hatte eine Schar gerüsteter und bewaffneter Krieger bereits die Türen geöffnet und strömten aus den Kabinen. Die unbewohnte kleine Insel wurde augenblicklich in Licht getaucht. Inmitten der kolossalen Felsformationen standen reihenweise Kampfrüstungen wie eine unheilvolle Armee von Geistersoldaten, deren Visiere im schwachen Schein des Feuers düster wirkten. Zwischen den Reihen der Schweren Rüstungen war eine riesige Militärkarte zu sehen, auf der jeder einzelne geheime Tunnel in den Gebirgszügen der südlichen Grenze eingezeichnet war. Die vierundsechzig, die Gu Yun ausgegraben hatte, waren nur die Spitze des Eisbergs.

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Und schließlich, im einst friedlichen Ostmeer ...

Schlangenartige Ninja- und Dong Ying-Krieger mit langen Säbeln verkleideten sich als Wokou-Piraten und ruderten in winzigen Booten unbemerkt über den Ozean, wobei sie sich mit seltsamen Gesten verständigten. Sie strömten aus allen Richtungen herbei und sammelten sich langsam wie ein Ameisenhaufen. Die Frachtschiffe, die sonst wie Wasser ein- und ausliefen, glitten eines nach dem anderen aus dem Hafen von Groß-Liang und wandten sich dann lautlos den Inseln von Dong Ying zu.

Der lange, durchdringende Pfiff einer Dampfpfeife ertönte über den grenzenlosen Ozean. Die Handelsschiffe sammelten sich in geordneter Formation, ihre Bewegungen waren geordnet und streng. Als sie die Reichweite der Marine von Jiangnan verließen, holte das Schiff an der Spitze der Formation seine Handelsflagge ein. An ihrer Stelle wehte die strenge und schwere Schlachtflagge des westlichen Papstes, die sich über die Meeresoberfläche erhob und einen langen Schatten hinter sich herzog.

Der Flaggenwechsel war eine Art Schreckenssignal: Jedes der riesigen Handelsschiffe begann, sich zu zerlegen. Ihre äußeren Hüllen, die den Anschein von Frieden erwecken sollten, lösten sich, fielen ins Meer und enthüllten eine Reihe pechschwarzer Kanonenmündungen darunter. Es waren Drachenschiffe, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte. Sie waren klein und von eigentümlicher Bauweise; man könnte sie unter der Hülle eines gewöhnlichen Handelsschiffs verstecken, aber sie segelten blitzschnell und bewegten sich wie Seeungeheuer, die Stürme hinter sich ließen, wenn sie durch die Brandung schnitten.

Signalflaggen gaben Befehle, und der Schwarm von Ungeheuern zerstreute sich. Ein riesiger schwarzer Schatten erhob sich unaufhaltsam aus der Tiefe des Wassers.

Eine Welle von der Größe eines kleinen Berges erhob sich von der einst ruhigen Oberfläche des Meeres. Was zum Vorschein kam, war ein riesiges Ungeheuer, das in seiner Größe seinesgleichen suchte. Es durchbrach die Oberfläche und enthüllte einen grotesken Kopf und unzählige Saugnäpfe, an denen Tausende von bewaffneten und einsatzbereiten Seedrachen und Kriegsschiffen befestigt waren. Senkrechte Säulen auf dem großen Ungetüm waren mit Violettem Gold gefüllt. Die dicke eiserne Hülle öffnete sich durch das Drehen zahlloser ineinandergreifender Zahnräder, um Reihen von Kanonen in jeder Größe zu enthüllen, deren klaffende Mündungen wie viele bösartige Augen ohne Unterlass hin und her schwenkten.

Dieses gewaltige Seeungeheuer konnte mehr als ein Dutzend von Groß-Liangs Drachenschiffen auf seinem Deck tragen.

Die Kabinentür schwang langsam auf. Eine tiefschwarze Treppe schien sich wie eine große Zunge aus dem Nichts zu entfalten, und zwei Reihen Westler-Matrosen mit seltsamen kleinen Hüten traten im Gänsemarsch heraus. Ein schwarzer Regenschirm öffnete sich in der schwarzen Tür und hob sich, um das Meerwasser, das von oben herabströmte, abzuhalten. Ein Mann neigte den Kopf und trat gelassen in seinen Schutz ‒ es war kein anderer als der weißhaarige Westler, dem Gu Yun einst im Kaiserpalast begegnet war.

Die Gestalt, die den Schirm hielt, kam einen halben Schritt hinter ihm heraus. Es war derselbe „Herr Ja“, der vor Monaten die Banditen an der südlichen Grenze im Regen stehen gelassen hatte.

 

 

 

Erklärungen:

Bai Miao ist ein Kunststil, bei dem nur Strichzeichnungen ohne Farbgebung verwendet werden.




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