„Eure Heiligkeit, unsere Vorbereitungen sind nun abgeschlossen.“ Herr Ja streckte die Hand aus, um dem weißhaarigen Mann zu helfen. Diese Person, die Groß-Liang mehrmals besucht hatte und behauptete, ein Gesandter zu sein, war in Wahrheit der Papst selbst.
„Trotz so vieler Abweichungen vom Plan auf dem Weg dorthin
ist dieses Ergebnis ein Beweis dafür, dass Ihre sorgfältige Arbeit nicht
umsonst war“, sagte Herr Ja.
Der Papst starrte mit ruhiger Miene auf den bösartigen
Schwarm von Seeungeheuern, der auf der Oberfläche des Ozeans trieb. Er wirkte
nicht erfreut über den Anblick, vielmehr schien eine unbeschreibliche Spur von
mitfühlender Melancholie seinen Ausdruck zu färben.
„Es ist noch zu früh, um über Ergebnisse zu sprechen“,
sagte der Papst. „Das Schicksal ist eine geheimnisvolle Sache. Das Schicksal
eines einzelnen Menschen ist bereits unvorhersehbar ‒ ganz zu schweigen von dem
einer ganzen Nation. Das weiß vielleicht nur Gott.“
Herr Ja lachte. „Wie damals, als dieser Idiot Jialai
Yinghuo der Versuchung nicht widerstehen konnte und Gu Yun vorzeitig die
Wahrheit über den Vorfall zu verraten?“
Jialai Yinghuo hasste Gu Yun, das letzte verbliebene
Mitglied der Familie Gu, zu sehr. Außer diesem Hass hatte er praktisch nichts
mehr in seinem Leben. Er hatte die Würde des Wolfskönigs längst abgelegt und
sich in einen tollwütigen Hund verwandelt, der nur noch seine Beute im Visier
hatte. Solange er Gu Yun einen Schlag versetzen konnte, war es ihm völlig egal,
wessen Pläne er durchkreuzte.
Leider hatten sie keine andere Wahl, als mit diesem
verrückten Hund zu kooperieren. Der Groll zwischen den achtzehn Stämmen und der
Zentralebene, der sich über Generationen von Konflikten entwickelt hatte, saß
zu tief, und die Kräfte, die die Göttin in der Hauptstadt versteckt hatte,
waren für ihre Pläne zu wichtig.
„Ich bewundere Gu Yun wirklich“, seufzte Herr Ja. „Wenn ich
an seiner Stelle gewesen wäre, hätte ich vielleicht nichts unternommen, aber er
hat das Ganze in absoluter Geheimhaltung gehandhabt. Hätte er das nicht getan,
wäre die Situation noch weiter außer Kontrolle geraten, als wir heute die
Wahrheit ans Licht brachten. Vielleicht hätten die Regionalgarnisonen bereits ...
Wie nennt man das noch gleich? ‘Den Kaiser von
verräterischen Ministern befreien'? „
Der Papst kicherte. „Die Wirkung mag nicht ideal sein, aber
wir haben getan, was wir konnten. Das Fenster der Gelegenheit war kurz, und wir
hatten kaum eine andere Wahl. Ja, jeder von uns ist eine gefangene Bestie, die ums
Überleben kämpft. Wenn wir nicht andere auffressen, werden andere uns
auffressen. Unzählige Augenpaare beobachten den riesigen, plumpen
Pflanzenfresser Groß-Liang. Wir müssen den ersten Schritt machen. Sonst haben
wir in drei bis fünf Jahren vielleicht nicht mehr die Kraft für diesen Kampf.“
Herr Ja blickte auf den grenzenlosen Ozean hinaus. Alles,
was er sah, war Wasser und Meer und Himmel verschmolzen zu einer Einheit. „Eure
Heiligkeit“, fragte er, immer noch verwirrt, „wenn es nur ein Pflanzenfresser
ist, warum müssen wir uns solche Mühe geben, seine Klauen und Zähne zu
entfernen?“
„Ob es ein Pflanzenfresser oder ein Fleischfresser ist,
hängt nicht von der Form seines Körpers oder seinen Zähnen und Klauen ab“,
murmelte der Papst. „Die Frage ist, ob es Gier empfindet, ob sein Herz danach
hungert, zu nagen, zu reißen und zu verschlingen ... Habt Ihr diesen Geruch
jemals gerochen?“
Herr Ja zuckte überrascht zusammen. Violettes Gold von
ausreichender Reinheit war praktisch geruchlos, wenn es verbrannte; Hunde und
Gu Yun waren wahrscheinlich die Einzigen, die es wahrnehmen konnten. „Eure Heiligkeit
meint Ihr den Geruch des Meeres?“, wagte er zu sagen.
„Es ist ein Gestank, Kind“, sagte der Papst leise. „Wenn
der Teufel existiert, dann ist er zweifellos dieses winzige Erz. Seit dem Tag,
an dem es die Erde durchbrochen hat, haben diese violetten Flammen dieses
verdammte Zeitalter entfacht. Hat es die Kinder Gottes in die Herzen von
eisernen Bestien verwandelt.“
Aber waren die Maschinen, die das Violette Gold
verbrannten, nicht von Menschen erschaffen worden? Herr Ja zuckte mit den
Schultern. Er antwortete nicht, aber er nahm sich diese Worte auch nicht
wirklich zu Herzen.
Der Papst sprach nicht weiter. Er senkte lediglich den Kopf
und küsste den Ring an seiner Hand, in den das Bild seines Stabes eingraviert
war. Er atmete leise und murmelte ein einfaches Gebet.
„Verzeiht mir“, flüsterte er. „Bitte verzeiht mir.“
Eine azurblaue Signalfackel stieg von dem Drachenschiff an
der Spitze auf und schoss in den Himmel. Ihr reflektiertes Feuer schien in
Herrn Jas Augen zu brennen. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, konnte aber
seine aufsteigende Erregung nicht ganz unterdrücken. „Eure Heiligkeit, es
beginnt!“
_______________
Es war das siebte Jahr von Longan, der achte Tag des
vierten Monats ‒ und der dritte Tag, nachdem der Graf von Anding, Gu Yun, von
dem Herrenhaus mit den heißen Quellen in die kaiserlichen Verliese umgezogen
war.
Die kaiserlichen Verliese waren dunkel und düster, aber zum
Glück war es in der Hauptstadt recht warm, denn die Kälte des Winters hatte
sich mit dem Frühlingsbeginn zurückgezogen. Das Heu, das in Gu Yuns
Gefängniszelle aufgeschichtet worden war, war weicher als ein Feldbett, so dass
es keine Qual war, dort ein paar Tage zu verbringen. Gu Yun betrachtete es als
einen Urlaub. Ungebrochene Stille herrschte in seiner Umgebung; er hatte nicht
einen einzigen Zellengenossen, mit dem er plaudern und mit seinen Erfolgen
prahlen konnte. Die Gefängniswärter waren Eisenpuppen, die selbstverständlich
nicht sprechen konnten. Dies war die innerste Kammer der kaiserlichen Verliese
‒ nur Mitglieder der Kaiserfamilie oder ihre Schwiegereltern, hoher Adel und
bedeutende Minister und Generäle durften sie betreten. Jemand wie Tan Hongfei,
der Kommandant des nördlichen Lagers, hatte nicht einmal das Recht, hier
eingesperrt zu werden.
Die letzte Person, die qualifiziert war, diese Zellen mit
seiner Anwesenheit zu beehren, war der Bruder des Kaisers, Prinz Wei. Gu Yun
hatte das Vergnügen, sein eigenes Privatzimmer zu bekommen, und so blieb er
allein.
Wäre jemand da gewesen, mit dem er sich hätte unterhalten
können, hätte er ihn ohnehin nicht hören können ‒ die Medizin, die er vor
seiner Abreise eilig eingenommen hatte, war längst abgeklungen. Die beiden Muttermale
am Augenwinkel und am Ohrläppchen waren fast unsichtbar geworden. Auch sein
Glasmonokel hatte er nicht dabei, und so reichte seine Sehkraft kaum aus, um
die Finger seiner eigenen Hand zu zählen. Selbst die Schritte der Eisenpuppen,
die ein- und ausgingen, klangen in seinen Ohren gedämpft.
Um sich die Zeit zu vertreiben, fing Gu Yun eine kleine Maus,
die er sich als Haustier hielt. Er fütterte sie mit ein paar Bissen von jeder
seiner Mahlzeiten und spielte mit ihr, wenn ihm langweilig war.
Jemand hatte diesen Vorfall absichtlich ausgegraben. Gu Yun
war sich dessen wohl bewusst. Als er vor fünf Jahren in aller Stille der Sache
nachgegangen war, hatte er einige der belastendsten Beweise vernichtet, aber Wu
He hatte er nicht angerührt. Erstens war der Mann nur ein alter Hund, der sich
ans Leben klammerte, und zweitens ... Vielleicht war Gu Yun nicht ganz
uneigennützig und zögerte, jede Spur der herzzerreißenden Wahrheit aus dieser
Welt zu tilgen.
Gu Yun musste zugeben, dass dies ein Fehltritt seinerseits
war. Wäre er damals auch nur halb so gefestigt und scharfsinnig gewesen wie
heute, hätte er verstanden, dass er die Wahl hatte, entweder die Beweise zu
sammeln, zu warten, bis die Zeit reif war, und sie alle auf einmal zu
präsentieren, als er sich aufrichtig auflehnte, oder seine Entschlossenheit zu
stählen und jede letzte Spur davon zu Asche zu verbrennen, die Vergangenheit in
der Vergangenheit zu begraben und nicht zulassen, dass auch nur ein Hauch
dieser Angelegenheit wieder ans Tageslicht kommt.
Ein absoluter Fehltritt. Er hatte zu einem Zeitpunkt
gezögert, an dem er hätte entschlossen sein müssen.
Der Yuanhe-Kaiser war genauso gewesen. Wäre er nicht so
unentschlossen gewesen, hätte Gu Yun diese Welt schon längst verlassen. Das
hätte zu einer anderen Art von Frieden geführt.
Gu Yun wusste nicht, was nach diesem Vorfall auf ihn zukam ‒
und er wusste auch nicht, ob Chang Geng, ein Junge, der noch grün hinter den
Ohren war, wirklich die Fähigkeit besaß, die Generäle der Nation zu beruhigen.
Aber er befand sich tief in den kaiserlichen Verliesen; sich darüber Gedanken
zu machen, würde nichts bringen. Gu Yun blieb nichts anderes übrig, als zu
versuchen, sich zu entspannen und seine Kräfte zu schonen.
In der Zwischenzeit entdeckte die Ratte, dass diese Person
ärgerlicherweise boshafte Hände hatte. Da sie nicht entkommen konnte, beschloss
sie, sich tot zu stellen und ihn von nun an zu ignorieren. Der kleine Graf, der
von Hunden und Katzen gehasst wurde, konnte sich nur noch lustlos an die
Zellenwand lehnen und meditieren. Tatsächlich fand er, dass diese Maus sich
ähnlich verhielt wie Chang Geng, als er jünger war.
Als seine Gedanken zu Chang Geng wanderten, konnte Gu Yun
nicht anders, als einen Seufzer auszustoßen. „So wie er jetzt ist, war es mir doch
lieber, als er noch klein war und immer so tat, als würde ich ihm auf die
Nerven gehen“, klagte er der Maus.
Die Maus zeigte ihm ihr rundes kleines Hinterteil.
Gu Yun holte tief Luft und verdrängte diese momentane
Ablenkung aus seinem Kopf. Ohne sich um den Schmutz zu kümmern, zog er die
verrottete Decke vom Heuhaufen und legte sie über sich, dann lehnte er sich
zurück, um seine Augen zu entspannen. Er würde seine ganze Kraft brauchen, um
die kommenden Schwierigkeiten zu meistern.
Kein Lärm der Welt konnte laut genug sein, um einen
halbtauben Mann in den Tiefen der kaiserlichen Verliese zu stören, sodass Gu
Yun bald einschlief. Eingehüllt in den düsteren Geruch von Schimmel, hatte er
einen Traum:
Gu Yun träumte, er liege unter einer riesigen Guillotine.
Die tausend Kilogramm schwere Klinge drückte sich in seine Brust, schnitt in sein
Fleisch und versank Stück für Stück in seinen Knochen, während sie ihn in zwei
Teile schnitt. Er verlor jede Verbindung zu seinem Körper und seinen Gliedern;
nur die Wunde auf seiner Brust blieb übrig, die bis ins Innerste brannte und
schmerzte. In seinen Ohren hallte eine Kakofonie von Geräuschen wider:
Schluchzen, Kanonenfeuer, Wehklagen und, fast unhörbar, das stockende und
dissonante Trillern einer Hujia ... Er wurde von
der schweren Klinge aufgeschlitzt, aber aus der Wunde sickerte kein Blut.
Stattdessen stürzte ein Signalpfeil in den Himmel und erschütterte die Erde mit
der Wucht seiner Explosion.
Gu Yun wachte mit einem dumpfen Stöhnen auf. Die alte Wunde
in seiner Brust schmerzte ohne Grund. Der durchdringende Schrei des
Signalpfeils aus seinem Traum hallte in seinen Ohren nach und dehnte sich zu
einem seltsamen Brummen aus.
Vielleicht hatte er tatsächlich eine geheimnisvolle
Verbindung zu seinem Schwarzen Eisenbataillon. Denn noch in derselben Nacht
explodierte der erste ominöse Signalpfeil aus der Garnison an der Seidenstraße
in den westlichen Regionen in einer gewaltigen Explosion am Nachthimmel.
Der Notruf erreichte die Hauptstadt erst am nächsten Tag.
Der Schwarze Falke, der die Nachricht überbrachte, kam mit nur noch einem Bein
an. Er hatte bis zum letzten Atemzug durchgehalten, um das von Angst geplagte Nördliche
Lager zu erreichen, konnte aber kein einziges Wort mehr sagen, bevor er starb,
da er fast sofort nach der Landung aus dem Leben schied.
Vier Stunden später erschütterte die Nachricht von einem
Angriff auf das Schwarze Eisenbataillon in den westlichen Regionen den Hof und
das gemeine Volk.
________________________
Als vor einigen Tagen die Nachricht von dem Vorfall in der
Hauptstadt durchgesickert war, hatte He Ronghui seine Männer
zusammengetrommelt, um das Protektorat des Nordwestens zu umzingeln. Niemand
hatte damit gerechnet, dass Qiuci in dem Moment, in dem er die Garnison
verließ, zuschlagen würde: Einhundertsechzig Sandtiger stürmten durch das Lager
der Schwarzen Rösser am Eingang zu den westlichen Regionen. Kriegswagen wie
Sandtiger waren die größte Nemesis der Leichten Rüstungskavallerie. Einen
schrecklichen Moment lang waberten Rauch und Staub durch die Luft, erleuchtet
von einem wahren Feuervorhang. Schlachtrösser starben mit lang gezogenen
Schreien, und Kavalleristen fielen in Scharen in ihren Rüstungen.
Aber das Schwarze Eisenbataillon war immer noch das Schwarze
Eisenbataillon. Nach einer kurzen Zeit des ungeordneten Durcheinanders fanden
sie sich schnell wieder zurecht. Die Schwarzen Rüstungen drängten den Feind
ohne das geringste Zögern zurück, und als He Ronghui die Nachricht erhielt,
führte er die Schwarze Falkendivision sofort den Weg zurück, den sie gekommen
war, und schnitt die Nachschublinien der Sandtiger aus der Luft entscheidend
ab. Diese riesigen Streitwagen verbrannten enorme Mengen Violetten Goldes; wenn
ihre Nachschubwege gekappt waren, wurden sie nur noch zu einem Haufen Schrott.
Doch diese erste Welle von Sandtigern war keine leere
Drohung. Hinter ihnen wurde der schlimmste Albtraum eines jeden wahr: eine
Zehntausend Mann starke Armee, die ihre Fahnen gen Himmel schwang.
Sie stammten aus den verschiedenen Garnisonen des fernen
Westens, aus den einst rebellischen Königreichen der westlichen Regionen und
sogar aus dem Volk der Sindhu, das die Unruhen in der Region lange Zeit
ausgenutzt hatte, um sich an die Spitze zu setzen ... die Zahl war noch größer
als gedacht. Es war zwar eine bunt zusammengewürfelte Horde, aber sie war
dennoch eine Horde. Mit den Sandtigern auf der Seite des Feindes hatte das Schwarze
Eisenbataillon keine andere Wahl, als sich ihnen frontal und in schwerer
Rüstung zu stellen. Der Sieg wurde bald zu einer Frage, wer die größeren
Vorräte an Violettem Gold besaß.
He Ronghui genehmigte die Notverwendung der Violetten
Goldvorräte des Lagers der westlichen Regionen, doch als er sie öffnete, war er
schockiert: Die Vorräte waren bereits aufgebraucht. Als der Longan-Kaiser gegen
den Schmuggel vom Violetten Gold vorging, war Gu Yun gezwungen gewesen, seine
eigenen geheimen Operationen einzustellen; in der Zwischenzeit reichte die
Menge an Violettem Gold, die dem Schwarzen Eisenbataillon vom Hof zugewiesen
worden war, nur noch für regelmäßige Patrouillen. Ein plötzlicher Kriegsausbruch
wäre damit nicht zu überstehen gewesen.
He Ronghui schickte seine Männer aus, um mehr zu
beschaffen, aber sie stießen auf noch mehr Hindernisse. Die Nachricht von der
Gefangenschaft des Grafen von Anding hatte sich im ganzen Land verbreitet, aber
niemand kannte die Einzelheiten der Situation.
Die Zeiten waren unsicher und es kursierten alle möglichen
Gerüchte. Wer würde mutig genug sein, dem Schwarzen Eisenbataillon ohne
Marschbefehl Violettes Gold zu liefern? Was, wenn ihr nächster Schritt darin
bestünde, sich den Weg in die Hauptstadt zu bahnen und eine Rebellion
anzuzetteln?
He Ronghui hatte keine andere Wahl, als die Schwarzen
Falken in die Hauptstadt zu schicken und gleichzeitig ihre engsten Verbündeten
im Verteidigungskorps der nördlichen Grenze um Unterstützung zu bitten. Doch
bevor die Boten aufbrechen konnten, starteten die achtzehn Stämme einen
Überraschungsangriff von jenseits des Passes. Die Nachricht, dass Wolfskönig
Jialai Yinghuo persönlich eine Expedition nach Süden anführte, schlug mit einem
lauten Knall auf das Land ein.
Nach fünf Jahren des Friedens hatte sich die Lage jenseits
der eisernen Mauer völlig verändert.
Jialai Yinghuo hatte eine Armee aus Zehntausenden von
Elitesoldaten, fast tausend Schweren Rüstungen und einer unaufhaltsamen neuen
Falkenrüstung zusammengestellt, die größer und tödlicher war als die Schwarzen
Falken. Diese große Bestie öffnete ihren Rachen und riss die nördliche
Grenzverteidigung von Groß-Liang auf, die über eine Länge von Tausenden von
Kilometern ausgedünnt war.
Der Nordwesten versank im Chaos. Ohne den Befehl des Grafen
von Anding, ihres Oberbefehlshabers, würde das Schwarze Eisenbataillon keinen
einzigen Schritt zurückweichen, selbst wenn es bis zum letzten Mann ausgereizt
wäre. He Ronghui hielt die Linie drei bittere Tage und zwei Nächte lang und
leerte ihre Munition, während die wunderbare Armee, die über drei Generationen
hinweg geschmiedet wurde, fast die Hälfte ihrer Männer verlor.
Dann traf endlich der Bote von Chang Geng ein.
Mit Gu Yuns persönlichem Siegel in der Hand hatte dieser
mysteriöse Komturprinz weit weg in der Hauptstadt Gu Yuns Handschrift mit
makelloser Perfektion nachgeahmt. Er gab dem Boten zwei Briefe mit ‒ wenn an
der Grenze alles in Ordnung war, sollte der Mann den ersten Brief überbringen.
Der Inhalt sollte He Ronghui anweisen, die Angelegenheiten des Hofes zu
ignorieren, die Vorräte an Violettem Gold in den westlichen Regionen sofort und
mit allen Mitteln aufzufüllen ‒ sei es auf dem Schwarzmarkt oder anderswo ‒ die
Rüstung der Garnison auf Vordermann zu bringen und jede Sekunde zum Kampf
bereit zu sein.
Wenn die Kämpfe an der Grenze bereits ausgebrochen waren,
sollte der Bote den zweiten Brief überbringen. Darin sollte He Ronghui
angewiesen werden, einen Kampf auf Leben und Tod zu vermeiden und sich mit
voller Kraft zum Jiayu-Pass einige Hundert
Kilometer weiter östlich zurückzuziehen und dort auf Verstärkung zu warten.
Ihre versteckten Feinde hatten bereits zugeschlagen. Für
einen Angriff war es jetzt zweifellos zu spät ‒ Chang Geng hatte keine Schwarzen
Falken, und es gab nur eine äußerst begrenzte Anzahl von Personen, die er mit
Hilfe der Holzvögel des Linyuan-Pavillons kontaktieren konnte. Egal, ob der
Himmel einstürzte oder die Erde zusammenbrach, es war unwahrscheinlich, dass
sein Bote noch rechtzeitig eintreffen konnte, um dies zu verhindern. Also
dachte er an den schlimmsten Fall und konzentrierte sich darauf, den Pferch zu
reparieren, nachdem die Schafe entkommen waren, in der Hoffnung, den Rest der
Herde zu retten.
Wenn in den westlichen Regionen Kämpfe ausbrachen, war es
unwahrscheinlich, dass die nördliche Grenze unversehrt bleiben würde. Während
sich also das Schwarze Eisenbataillon zurückzog, um sich auf die Verteidigung
zu konzentrieren, erhielt General Cai Bin einen weiteren Brief von Chang Geng,
in dem er darum bat, Verstärkung nach Norden zu schicken und so viel Violettes
Gold, das seine riesige Armee eingelagert hatte, zum Jiayu-Pass zu
transportieren, wie er konnte, um so die dringendste Notlage zu beheben.
Chang Geng war sich darüber im Klaren, dass diese wenigen
strategischen Schritte im Ernstfall bei weitem nicht ausreichten.
Er hatte keinen Einfluss auf die riesigen Gebirgsketten im
Südwesten. Shen Yi war da, aber Shen Yi war ein Kommandant, der praktisch vom
Himmel gefallen war, ohne nennenswerte Verbindungen oder Unterstützung. Ohne
einen Marschbefehl konnte er die Armee nicht mobilisieren. Die Marine von
Jiangnan, die an der Küste des Ostmeeres operierte, bereitete ihm noch mehr
Kopfzerbrechen: Zhao Youfang war Li Fengs Mann und würde niemals auf die
Aufforderung von Gu Yuns persönlichem Siegel reagieren. Außerdem ... hatte Chang
Geng eine gewisse Vorahnung, dass, selbst wenn es ihm gelang, sich beim Löschen
von Bränden überall zu verausgaben, in den Weiten des Ostmeeres ein tödlicher
Schlag lauerte.
Die schlimmen Nachrichten, die der Schwarze Falke
überbrachte, bestätigten seine schlimmsten Vermutungen. Chang Geng atmete tief
durch, ließ den letzten Holzvogel los und wandte sich an Huo Dan, der vor
lauter Stress eine blutige Blase an seinem Mundwinkel bekommen hatte. „Macht
die Pferde bereit. Ich gehe zum Kaiserpalast.“
_______________
Chang Geng wurde von Liao Ran direkt vor den Toren des
Palastes aufgehalten. Der Mönch war voller Staub und von der Reise mitgenommen,
aber sein Gesicht zeigte die gewohnte Gelassenheit, als würde selbst die
dringendste Notlage unter den sauberen Reihen seiner Weihrauchnarben
zerfließen.
Liao Ran presste die Hände zusammen und verbeugte sich zur
Begrüßung, dann formte er: „Amitabha Buddha, Eure Hoheit ...“
Chang Geng unterbrach ihn, seine Stimme war gleichgültig. „Großer
Meister, sagt nichts mehr. Ich werde mich für einen anderen einsetzen und nicht
die Abdankung des Kaisers erzwingen.“
Liao Rans Gesichtsausdruck veränderte sich leicht. „Dieser
bescheidene Mönch vertraut darauf, dass Eure Hoheit weiß, welche Grenzen nicht
überschritten werden dürfen.“
„Es ist nicht so, dass ich die Grenze nicht überschreiten will.“
Der vierte Prinz mit der Silberzunge riss seine raffinierte Maske ab und sprach
ausnahmsweise unverblümt. „Das Qinling-Gebirge spaltet die Nation im Norden und
Süden; die Gebiete im Südosten und Südwesten sind nicht unter unserer
Kontrolle. Selbst wenn ich Li Feng dort, wo er steht, stürzen würde, könnte ich
diese Krise nicht überwinden. Darüber hinaus gibt es niemanden, der den Thron
besteigen kann. Der älteste Prinz ist neun Jahre alt, der Kronprinz ist noch
jünger. Die Kaiserin ist eine schöne, aber nutzlose Invalide und Zixi hat
keinen rechtmäßigen Anspruch. Was mich betrifft ...“ Er spottete: „Ich bin der
Sohn einer Schamanin der Barbaren.“
Liao Ran sah ihn an, die Sorge stand ihm ins Gesicht
geschrieben.
„Großer Meister, seid unbesorgt, ich war schon immer eine
giftige Kreatur. Wäre ich auch nur ein bisschen launischer, hätte ich aller
Wahrscheinlichkeit nach bereits Unheil über die Nation und ihr Volk gebracht.
Aber ich habe ja noch gar nichts getan, nicht wahr?“ Chang Gengs
Gesichtsausdruck glättete sich und kehrte zu seiner üblichen Gelassenheit
zurück. „Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über solche Dinge zu
sprechen. Ausländische Feinde verletzen unsere Grenzen, während wir hier
sprechen ‒ ihr Plan muss von langer Hand vorbereitet worden sein. Es ist noch
nicht vorbei. Aber sie haben viel zu schnell reagiert. Ich habe den Verdacht,
dass jemand im Palast, vielleicht sogar jemand, der Li Feng selbst dient, mit
unseren Feinden in Verbindung steht. Hat der Linyuan-Pavillon jemanden im
Palast, an den wir uns wenden können?“
Liao Rans Gesichtsausdruck wurde ernst. Er formte: „Eure
Hoheit meint ...“
„Es handelt sich um einen alten Fall, der zwanzig Jahre
zurückliegt und mit Sicherheit mit den Nördlichen Barbaren in Verbindung steht.
Untersucht jeden, mit denen die zwei Barbarinnen im Palast Kontakt hatten ‒
jede einzelne Person. Die Schamanin der Barbarin war eine geschickte
Giftmischerin und hatte unzählige Tricks in petto. Lasst keinen Stein auf dem
anderen.“
Seine Stimme war vollkommen ruhig, als er von diesen ‘die zwei
Barbarinnen‘ sprach, als hätten sie nichts mit ihm zu tun.
„Ich hätte es schon lange seltsam finden müssen“, sagte
Chang Geng leise. „Es muss einen außergewöhnlichen Grund dafür geben, dass Li
Feng einem Tiger wie Jialai Yinghuo so leicht erlaubt, in sein Versteck
zurückzukehren. Leider ...“
Leider war er zu jung gewesen, und sein faustgroßes Herz
konnte damals nur eine Handvoll jugendlicher Sorgen über den Abschied von
seiner Heimat aufnehmen.
„Wenn ich zehn Jahre früher geboren worden wäre ...“,
begann Chang Geng plötzlich. Liao Rans Augenlid zuckte.
Chang Geng fuhr fort, Wort für Wort: „Diese Welt wäre nicht
so, wie wir sie heute sehen.“
Auch hätte er Gu Yun niemals losgelassen.
„Zixi sagte einmal, dass unsere Drachenkriegsschiffe zehn
Jahre hinter unseren anderen Militärzweigen zurückliegen. Ich fürchte, dass im Ostmeer
ein Krieg ausbrechen wird. General Zhao ist talentiert genug, um auf den
Errungenschaften seiner Vorgänger aufzubauen, aber er ist vielleicht nicht in
der Lage, eine große Schlacht zu leiten“, erklärte Chang Geng zügig. „Ich habe
bereits einen Brief an Shifu geschrieben. Der Linyuan-Pavillon ist tief in
Jiangnan verwurzelt; großer Meister, bitte kümmert Euch um die Dinge dort. Ich
werde mich jetzt verabschieden.“ Mit diesen Worten trieb er sein Pferd an und
verschwand im Palastgelände.
Liao Ran runzelte die Stirn. Aus irgendeinem Grund klopfte
sein Herz vor Angst, als er, dass Zixi von Chang Geng hörte.
Aber es gab dringendere Angelegenheiten, und es war nicht
der richtige Zeitpunkt, um sich über einen einfachen Namen aufzuregen. Der
Mönch warf sich eine Robe aus grobem Leinen über, verschmolz mit dem Licht der
Morgendämmerung und rannte in die Ferne.
In dem Moment, in dem Chang Geng den Palast betrat, wurde
er mit einer Flut von schlechten Nachrichten konfrontiert. Berichte von der
Front, einer dringlicher als der andere, trafen den Longan-Kaiser und die
Beamten des Hofes völlig unvorbereitet.
Das Schwarze Eisenbataillon hatte sich zum Jiayu-Pass
zurückgezogen.
Die nördliche Grenze hatte über Nacht sieben Städte verloren
... Bevor Cai Bins Verstärkung überhaupt einen Fuß auf den Schauplatz setzen
konnte.
Als hätte der wütende Mob an der südlichen Grenze auf
diesen Tag gewartet, hatte er sich mit umherstreifenden ausländischen Banditen
abgesprochen, die aus dem Nichts aufgetaucht waren, und das südwestliche
Nachschublager in die Luft gesprengt ...
„Meldung‒“
Alle in der großen Halle drehten sich mit aschfahlen
Gesichtern zur Tür. Li Feng hatte noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt,
Chang Geng eine förmliche Begrüßung zukommen zu lassen.
„Dringende Meldung, Eure Majestät: Eine hunderttausend Mann
starke Flotte aus dem fernen Westen ist vom Dong Ying-Archipel aus eingedrungen
...“
Li Fengs Augen traten ihm vor Wut fast aus dem Kopf. „Wo
ist Zhao Youfang?“
Der Bote schlug mit dem Kopf auf den Boden. Er sprach mit
vor Schluchzen erstickter Stimme. „General Zhao hat sein Leben für die Nation
gegeben.“
Erklärungen:
‘Den Kaiser von verräterischen Ministern zu
befreien‘ wurde in der Vergangenheit als Vorwand für einen
Staatsstreich benutzt.
Die Hujia, 胡笳, ist ein traditionelles mongolisches
Doppelrohrblattinstrument, das traditionell zur Begleitung des Khoomei
(Kehlkopfgesangs) verwendet wird.
Der Jiayu-Pass, 嘉峪关, ist die erste Grenzfestung
am westlichen Ende der Großen Mauer der Ming-Dynastie, nahe der Stadt Jiayuguan
in der Provinz Gansu. Zusammen mit dem Juyong-Pass und dem Shanhai-Pass ist sie
einer der Hauptpässe der Großen Mauer. In der Ming-Zeit gelangten ausländische
Kaufleute und Gesandte aus Zentralasien und Westasien meist über den Jiayu-Pass
nach China. Dabei war der Pass ein wichtiger Wegpunkt auf der alten
Seidenstraße.
Weihrauchnarben, 香疤 oder auch Xiangba sind rituelle Brandnarben, die buddhistische Mönche als Ordinationspraxis erhalten. Bei dem Ritual wird Weihrauch auf dem Kopf verbrannt, um diese Brandnarben zu erzeugen ‒ daher auch der Name.
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