Kapitel 55 ~ Feuersbrunst

Alle waren fassungslos.

Erst nach langem Schweigen erinnerte sich der Herold wieder an den Zweck seines Besuchs. „General Tan“, sagte er heiser, „der Graf ...“

„Schweigt!“, donnerte Tan Hongfei. Seine glühenden Stieraugen funkelten wie Bronzeglocken, als er sich dem Mann zuwandte, der in der Mitte des Saals kniete. Tan Hongfeis Kehle war wie zugeschnürt, und die Haare auf seinem Körper schienen zu zittern und sich aufzurichten. „Was habt Ihr gesagt? Sprecht klar und deutlich ‒ welcher treuer Untertan?“

Der Mann richtete sich auf. Sein Teint war fahl, er wirkte eher mitleiderregend. Doch als er sprach, war sein Gesicht von einer unbeschreiblichen Überzeugung erfüllt.

„Vor zwanzig Jahren wurden die Grasländer der nördlichen Barbaren von Naturkatastrophen heimgesucht, weshalb der ehrgeizige Wolfskönig Truppen aufstellte und in unser Land einfiel. Der ehemalige Graf des Friedens führte das Schwarze Eisenbataillon an, um der nördlichen Grenze Frieden zu bringen, und erzwang die Kapitulation des Wolfsrudels. Zusätzlich zu den jährlichen Tributen wurden die Göttin der Barbaren und ihre jüngere Schwester als Friedensangebot an unseren kaiserlichen Hof gesandt. Der Yuanhe-Kaiser nahm die ältere Schwester zu seiner Gemahlin. Der jüngeren Schwester verlieh er den Titel einer Komturprinzessin und nahm sie als Dienerin mit in den Palast auf, zweifellos in der Absicht, sie mit einem Mitglied der kaiserlichen Familie zu verheiraten.

Niemand hatte erwartet, dass dieses Paar von bösen Schamaninnen Bosheit in ihrem Herzen trugen, und sich gegen die Nation verschworen. Diese Schwestern fingierten einen Briefwechsel zwischen dem ehemaligen Grafen und dem Wolfskönig. Sie legten den ehemaligen Grafen rein und ließen es so aussehen, als hätte er die achtzehn Stämme nach der Unterzeichnung des Vertrages bedroht, indem er Violettes Gold für seinen eigenen privaten Gebrauch erpresste. Dann verzauberten sie den Kaiser mit ihrer Zauberei und trieben den Keil zwischen Herrscher und Untertan mit jedem Tag tiefer ...“

Bevor er ein weiteres Wort sagen konnte, explodierte Magistrat Zhu vor Wut. „Wachen! Dieser verlogene Schurke verleumdet Seine Majestät ‒ verhaftet ihn!“

Tan Hongfeis Augen waren kurz davor, aus ihren Höhlen zu platzen, so intensiv war sein Blick. „Jeder, der es versucht, wird sich vor mir verantworten müssen!“

Auf sein Gebrüll hin zogen die Soldaten des nördlichen Lagers an seiner Seite ihre Waffen. Silberne Rüstungen blitzten auf, als sie sich in einer Reihe hinter ihrem Anführer aufstellten, die Schwerter schienen hell wie Schnee. Die wilden Tiere, die auf den Griffen ihrer Klingen eingraviert waren, knurrten, als wollten sie sich auf ihre Feinde stürzen und sie in Stücke reißen.

Die Farbe wich aus Zhu Hengs Gesicht. Er war ein Gelehrter, kein Soldat; er stemmte sich mit dem wenigen Mut, den er hatte. Mit zitternder Stimme fragte er: „Tan Hongfei, wollt Ihr einen Aufstand anzetteln?“

Tan Hongfei grinste. Er schritt die steinernen Stufen hinunter zu dem Mann, stellte sich vor ihn und stieß seinen Säbel in den Boden, wo seine Klinge wie ein großer Eisenturm stand. „Sprecht weiter“, forderte er. „Was geschah dann?“

„Ich frage mich, ob der General sich daran erinnert“, sagte der Mann. „Damals war der junge Graf noch ein Kind. Niemand im Grafenanwesen konnte ihn kontrollieren, und als die Kämpfe in den Grenzregionen abflauten, brachten ihn der Graf und die Prinzessin in das Militärlager.“

Tan Hongfeis Augen flackerten; diese wenigen Worte ließen ihn in alten Erinnerungen schwelgen. Er erinnerte sich daran, dass der glorreiche Marschall Gu einst ein kleines, wildes Kind gewesen war. Er fürchtete niemanden und trieb allerlei Unfug. Weder der ehemalige Graf noch die Prinzessin hatten Eltern oder Älteste, die an ihrer Stelle auf ihn aufpassen oder ihn erziehen konnten. Da sie sahen, dass das Kind völlig gesetzlos werden würde, wenn niemand es in die Hand nahm, hatten sie keine andere Wahl, als den Jungen mitzunehmen.

Tan Hongfei nickte langsam. „Ja, es ist so, wie Ihr es sagt.“

„Die Schamanin hat diese Situation ausgenutzt“, fuhr der Mann fort. „Sie unterstellte dem ehemaligen Grafen, er habe seinen einzigen Sohn aus der Hauptstadt entführt, weil er einen Verrat plane. Vielleicht plante er, Groß-Liang ein großes Stück Land zu entreißen und im Westen seine eigene Nation zu gründen. Seine Majestät, der Yuanhe-Kaiser, wurde immer verbissener gegenüber dem ehemaligen Grafen. Gleichzeitig fürchtete er das Schwarze Eisenbataillon ‒ eine Truppe, die in der Lage war, die Barbaren mit nur dreißig Kavalleristen in ihren Rüstungen zu vernichten. Er wusste nicht, was er tun sollte.“

„Lächerlich!“, rief Tan Hongfei aus.

Das Gesicht des Mannes blieb unbewegt, seine Stimme fest. „Die Schamanin hat mithilfe eines anderen Schurken einen bösartigen Plan ausgeheckt. Sie beauftragte meinen verstorbenen Vater Wu-Gonggong, dreißig Selbstmordattentäter und zwei Personen mit ungewöhnlichen Talenten an die nördliche Grenze zu führen. Ihr angeblicher Zweck war es, die an der Front stationierten Truppen zu belohnen, doch ihr eigentlicher Auftrag bestand darin, die Garnison zu infiltrieren und das Attentat auszuführen. Um zu verhindern, dass das Komplott im Falle eines Scheiterns auffliegt, haben sich die Selbstmordkämpfer Wolfsköpfe auf die Brust tätowiert, um sich als Barbaren zu tarnen.“

Tan Hongfeis Atem ging schwer.

Er war dabei gewesen ‒ damals hatten sich dreißig Barbaren-Selbstmordattentäter in die Garnison an die nördliche Grenze geschlichen. Ihr Angriff war ohne Vorwarnung erfolgt, als wären die Attentäter vom Himmel gefallen. Der Feind bediente sich einer hinterhältigen Taktik und versetzte das Essen und Trinken der Soldaten mit lähmendem Pulver. Dann zogen sie sich Leichte Fellrüstungen aus Schwarzem Eisen an und stiegen aus den eigenen Reihen der Soldaten auf. Die Soldaten der Garnison waren daran gewöhnt, dass die Leichten Fellrüstungen jeden Tag auf Patrouille gingen ‒ wenn das passierte, waren sie völlig wehrlos ...

„Das ist richtig“, murmelte Tan Hongfei. „Alles, was Ihr gesagt habt, stimmt mit dem überein, was an diesem Tag passiert ist. Damals war ich nur ein Niedriger Geschwader Kommandant. Es waren tatsächlich nur dreißig Selbstmordattentäter in Leichten Fellen.“

Der ehemalige Graf hatte dreißig Schwere Rüstungen eingesetzt, um die achtzehn Stämme zu dezimieren. Also schickte die Schamanin ihm dreißig Leichte Felle, um das unbesiegbare Schwarze Eisenbataillon auf den Kopf zu stellen und den einzigen Erben des Grafen von Anding zu verwunden.

Ein leises Glucksen entrang sich Tan Hongfeis Kehle. „Das war die größte und demütigendste Schande für das Schwarze Eisenbataillon. Der Graf von Anding war zu dieser Zeit auf Patrouille, und Ihre Hoheit, die Prinzessin, wachte an jenem Morgen auf, weil sie sich unwohl fühlte und nichts bei sich behalten konnte. Sonst wäre der junge Graf nicht der Einzige gewesen, der an diesem Tag verwundet wurde. Ist es nicht so?“

Der Kommandant des nördlichen Lagers hatte seinen großen Säbel so heftig in den Boden gestoßen, dass sich ein Riss im dicken Steinboden gebildet hatte. „In ihrem Zorn war die Prinzessin davon überzeugt, dass es Feinde in unseren Reihen gab. Wir waren etwa ein Dutzend Brüder, die für die Verteidigung der Garnison an der nördlichen Grenze verantwortlich waren. Unsere Position war verdächtig; wir konnten uns nicht von der Schuld freisprechen. Wir hatten keine andere Wahl, als unsere Rüstung abzulegen, von unseren Posten zurückzutreten und einer nach dem anderen in die Hauptstadt zurückzukehren, um unsere Strafe zu empfangen. All die Jahre habe ich es Ihrer Hoheit insgeheim etwas übel genommen. Ich dachte, sie hätte vor Sorge um ihren geliebten Sohn den Verstand verloren ... Aber in Wirklichkeit hatte sie recht ...“

Tränen flossen aus den Augen von Tan Hongfei. Er machte sich nicht die Mühe, sie abzuwischen oder laut zu schluchzen. Er blieb stehen, so starr wie sein hoch aufragendes Eisenschwert, und keuchte, als hätte er unerträgliche Schmerzen.

Zhu Heng war von diesem Anblick überwältigt; es war, als würde man Tränen auf dem grimmigen Gesicht des Höllenkönigs sehen. Einen Moment lang wurde die geschwollene Wut in seinem Herzen von Tan Hongfeis Tränen durchstochen und ließ einen dünnen Luftstrom frei. Der Hauptstadtmagistrat konnte nicht anders, als seine Stimme zu beruhigen, als er ihn ansprach. „Dies ist eine sehr ernste Angelegenheit. Es wäre ungerecht, sich nur auf die einseitige Aussage dieses Mannes zu verlassen. General Tan, bitte gehen Sie mit Bedacht vor.“

Tan Hongfei kam wieder zur Besinnung, doch ehrlich gesagt glaubte er dem Mann bereits das meiste von dem, was dieser erzählt hatte. Als derjenige, der damals die Verteidigung der Garnison der nördlichen Grenze befehligte, wusste niemand besser als er, wie uneinnehmbar das Schwarze Eisenbataillon gewesen war. Im Laufe der Jahre hatte Gu Yun die ehemaligen Mitglieder des Schwarzen Eisenbataillons immer mit Freundlichkeit und Großzügigkeit behandelt. Er hatte sogar Tan Hongfeis Beförderung zum Kommandanten des nördlichen Lagers unterstützt. Doch Tan Hongfei vergaß nie, dass er auf seinem Rücken die ungerechtfertigte Verurteilung wegen Pflichtverletzung trug, gegen die er nicht vorgehen konnte.

Tan Hongfei warf Zhu Heng einen Blick zu. Er biss die Zähne zusammen und beugte sich hinunter, um den Beschwerdeführer vor ihm zu befragen. „In der Tat. Welche Beweise haben Sie?“

Der Mann zog den Blutbrief aus seinem Revers, dann warf er sich wieder nieder. „Dieser Brief wurde von der eigenen Hand meines verstorbenen Vaters geschrieben. Seine Leiche liegt vor der Tür, während wir sprechen. Wenn der General ihn untersucht, wird er ihn als Wu He erkennen und wissen, dass alles, was ich gesagt habe, wahr ist.“

Zhu Heng runzelte die Stirn, aber Tan Hongfei hatte seinen Männern bereits befohlen, den Leichnam hereinzubringen. Wenige Minuten später wurde die vertrocknete Hülle eines Mannes hereingetragen. Dieser erhängte Geist ruhte keineswegs in Frieden ‒ seine Wangen waren geschwollen, und seine Zunge ragte aus dem Mund, seine Kehle war so violett wie ein bösartiger Geist. Tan Hongfei warf nur einen Blick darauf, bevor er seinen Blick abwandte, als könne er eine solche Last nicht ertragen. „Ich erinnere mich an eine dreieckige Narbe im Augenwinkel des alten Eunuchen ...“, sagte er mit rauer Stimme.

Der Mann mittleren Alters kroch auf seinen Knien nach vorne. Vorsichtig drehte er das Gesicht der Leiche nach oben und schob das schüttere, weiße Haar beiseite. Dort, bedeckt mit Falten und Altersflecken, aber deutlich sichtbar im Augenwinkel des Toten, befand sich eine alte, dreieckige Narbe.

Stille kehrte in den Raum ein. Zhu Hengs Gesicht war blutleer, und er atmete scharf ein. Seine zitternden, gelehrten Hände griffen nach oben, um den Hut des Beamten zu richten, der durch Tan Hongfeis früheren Schlag verrutscht war. „Und was ist dann passiert?“

„Zum Glück hilft der Himmel denen, die es wert sind“, antwortete der Mann unter dem Podium. „Der junge Graf entkam dem Unglück. Als die Zeit verging, erwachte der verstorbene Kaiser aus dem Zauber der Schamanin. Er bedauerte zutiefst, was geschehen war, und bestrafte heimlich die Schamanin der Barbarin und ihre Schwester.

Gleichzeitig behandelte er den jungen Grafen mit größerer Gunst als je zuvor, nahm ihn in den kaiserlichen Palast auf und kümmerte sich persönlich um ihn. Doch obwohl die Schamanin hingerichtet wurde, blieb der Bösewicht, der Seiner Majestät diesen bösartigen Plan unterbreitet hatte, auf freiem Fuß.

Einige Jahre später, als die Familie Gu wieder an Einfluss gewann, verbündete sich diese Person mit Wu He-Gonggong und hatte es erneut auf den jungen Grafen abgesehen.“

Zhu Hengs Gesicht war dunkel wie ein bedeckter Himmel. „Angelegenheiten, die den kaiserlichen Harem betreffen, sollten nicht in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Denkt genau nach, bevor Ihr etwas sagt.“

Das Lachen des Mannes mittleren Alters schallte laut durch den Saal. „Vielen Dank, Euer Ehren. Dieser Niedrige wuchs in einer Bauernfamilie an der nördlichen Grenze auf. Seit Generationen litt meine Familie unter den Händen der Barbaren. Mein Vater, meine Mutter und meine Brüder starben alle unter den Schwertern dieser Unholde und ihrer falschen Zauberei. Es war der ehemalige Graf, der uns das Leben rettete und uns Genugtuung für unseren Zorn verschaffte. Ich bin nur ein Bürgerlicher, ein Niedriger von unwürdigem Stand, der seit vielen Jahren schweigend ausharrt. Ich habe die ganze Zeit auf diesen alten Eunuchen gewartet, nicht um ein Erbe oder Privilegien zu erlangen, sondern um diesen Tag zu erleben!“

Tan Hongfei war fast wie betäubt und hatte nicht einmal mehr die Kraft zu weinen. „Aber ich erinnere mich ... Derjenige, der in jenem Jahr starb, war Seine Hoheit der Dritte Prinz.“

„Das ist richtig“, stimmte der Mann zu. „Wu He benutzte ein Gift, das sich in der Luft auflöste, wenn es erhitzt wurde, und wandte es auf die Gaslampe an, die der junge Graf zum Lernen benutzte. Wu He sagte, dass der junge Graf als Kind die Gaslampe gerne auf die Hellste Stufe stellte und sie oft brennen ließ, selbst wenn er sich ins Bett legte. Wenn sie die ganze Nacht brannte, war die Lampe heiß genug, um ein Ei zu braten. Natürlich würde das Gift verdampfen, sich in der Luft verteilen und eingeatmet werden. Der junge Graf würde zunächst von einem hartnäckigen Husten und anhaltendem, niedrigem Fieber geplagt ‒ Beschwerden, die bei kleinen Kindern üblich sind, aber nichts, was Verdacht erregen würde. Aber mit der Zeit würde sein Körper immer schwächer werden, bis das Gift seine lebenswichtigen Organe erreicht, und dann wäre es für jede Behandlung zu spät, um ihn zu retten.“

Die Augen von Tan Hongfei waren so rot, dass sie kurz davor waren, Blut zu träufeln.

„Die Gaslampe des jungen Grafen war eine Spezialanfertigung aus dem fernen Westen. Sie hatte einen Lampenschirm aus farbigem Glas und war sehr kostbar. Die Lampen wurden nur den kaiserlichen Prinzen und dem jungen Grafen überreicht; nicht einmal die Kaiserin erhielt eine. Der dritte Prinz zerbrach jedoch aus Versehen seine Gaslampe. Er fürchtete, gescholten zu werden, und wagte es nicht, jemand anderen um Hilfe zu bitten, also tauschte der junge Graf mit ihm die Lampen aus. Der Graf klebte die Scherben der zerbrochenen Lampe des Prinzen heimlich wieder zusammen und deckte sie jeden Tag mit einem Buch zu, wobei er so tat, als würde er sie wie gewohnt benutzen.

Wir alle kennen den Rest der Geschichte: Der dritte Prinz wurde vergiftet und starb jung; der verstorbene Kaiser war wütend und stellte den kaiserlichen Harem auf den Kopf; und Wu He wurde wegen eines Komplotts gegen das Leben eines kaiserlichen Prinzen inhaftiert. So wurde der Eunuch zum Sündenbock für diesen gerissenen Mann im Schatten.“ Der Mann warf sich noch einmal auf den Boden und schlug die Ärmel hoch. „Nun ist der gesamte Ablauf der Ereignisse dargelegt worden“, sagte er mit klingender Stimme. „Mein aufrichtiger Dank gilt allen anwesenden Herren und Generälen. Der hinterlistige und kriecherische Schurke, der heute noch frei herumläuft, ist kein anderer als der kaiserliche Onkel Wang Guo!“

„Unverschämtheit ... Wie könnt Ihr es wagen!“, stammelte Zhu Heng verblüfft.

„Ich hänge nicht an diesem unbedeutenden Körper aus Fleisch ‒ ich wage es, frech zu sein!“, schrie der Mann.

„Welche Beweise habt Ihr?“, drängte Zhu Heng.

Der Mann zog einen zerfledderten Brief hervor, der so alt war, dass sich seine Ränder zu wellen begannen. „Euer Ehren, dies ist ein Brief, den der kaiserliche Onkel Wang eigenhändig verfasst hat, als er seine geheimen Geschäfte mit dem kaiserlichen Eunuchen abwickelte. Was seine Echtheit betrifft, so werden Sie es mit einem Blick erkennen.“

Der Mann legte den Brief auf den Boden. Er neigte den Kopf leicht nach hinten und schien zu seufzen.

„Damit sind die Streitigkeiten der Vergangenheit beigelegt.“

Als Tan Hongfei die seltsame Miene des Mannes bemerkte, war es schon zu spät. Der Mann stand schnell auf und bevor jemand reagieren konnte, drehte er sich um und schlug mit dem Kopf gegen einen Pfeiler.

Blut und Hirnmasse spritzten auf den Boden. Der Mann war auf der Stelle tot ‒ eindeutig ein Selbstmordattentäter der anderen Art.

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Zurück im Herrenhaus mit den heißen Quellen begann Gu Yuns Augenlid unerklärlicherweise zu zucken.

Huo Dan, der Hauptmann der Wachen des Grafenanwesens, stürmte in sein Zimmer und rang am ganzen Körper nach Atem. „M-mein Herr ...“

Gu Yuns Kopf schnellte herum. „Was ist los?“

Hauptmann Huos Herz klopfte wie wild, seit er die Nachricht von den Unruhen in der Hauptstadt erhalten hatte. Doch bevor er den Mund öffnen konnte, um zu berichten, wurde die Tür erneut aufgerissen.

In der Tür stand Chang Geng, einen Holzvogel mit weit geöffnetem Schnabel und ausgebreiteten Flügeln in der Hand. Der Kopf der kleinen Kreatur war kurzerhand abgetrennt worden; Chang Geng hatte den massiven Holzkörper in seinem Griff zerquetscht. Die gezackten Kanten der freiliegenden Zahnräder stachen in seine Handflächen und hinterließen eine blutige Spur, aber er schien den Schmerz nicht zu spüren. Er war wie ein Fisch, der aus dem Wasser gerissen wurde und nach Luft schnappte, doch seine Brust konnte keinen einzigen Atemzug mehr halten.

In seiner anderen Hand hielt er ein blutverschmiertes Stück Papier. Ein Holzvogel war schneller als eine Kutsche oder ein Pferd, schließlich hatte ihm jemand die Nachricht von der Farce in der Hauptstadt geschickt. Chang Geng hatte das Gefühl, als würde eine Klinge auf sein Brustbein gedrückt, als würde bei jedem Heben und Senken seines Brustkorbs Blut heraussickern. Er stolperte zu Gu Yun und schloss ihn in seine Arme.

Hauptmann Huo, der an der Seite gestanden hatte, schreckte überrascht auf. „Mein Herr ...“

Gu Yun winkte ihn zur Tür. „Alter Huo, gehen Sie kurz raus.“

Hauptmann Huos Kehle schnürte sich leicht zu. Er schien etwas sagen zu wollen, aber schließlich zog er sich leise zurück.

Dieses unglückliche Kind war erstaunlich stark. Gu Yun hatte das Gefühl, dass seine Taille durch die Kraft seiner Umarmung entzweizubrechen drohte. Als Hauptmann Huo weg war, löste er eine seiner Hände und klopfte Chang Geng auf den Rücken. „Was ist los?“

Chang Geng ließ den Kopf sinken und vergrub sein Gesicht in Gu Yuns Schulter. Der medizinische Duft, der an Gu Yuns Körper haftete, umgab ihn noch immer. Chang Geng empfand diesen Duft immer als beruhigend ‒ selbst in seinen Träumen hatte er die Macht, den schattenhaften Schleier seiner Albträume zu vertreiben. Doch in diesem Moment wollte er nie wieder den medizinischen Duft an Gu Yuns Körper riechen. Chang Geng schloss die Augen. Seine Ohren dröhnten, und ein einziger Gedanke drängte sich in seinen Kopf: Ich werde jedes einzelne Mitglied der Familie Li abschlachten.

Gu Yun zog das zerknüllte Stück Papier aus seiner Hand und überflog es von oben nach unten. Er atmete scharf ein und schubste Chang Geng weg. „Huo Dan!“, rief er, als er wütend aufstand.

Hauptmann Huo hatte an der Tür gewartet und war auf seine Aufforderung hin sofort wieder hereingekommen.

Gu Yun fühlte sich, als würde er verrückt werden. Er war zu schnell aufgestanden, und für eine Sekunde verdunkelte sich seine Sicht. Hastig lehnte er sich gegen den Tisch und seine Arme zitterten unaufhörlich.

„Macht mein Pferd bereit. Ich kehre in die Hauptstadt zurück.“ Gu Yun holte tief Luft. „Nehmt ... hust ...

Seine Stimme knackte, aber er räusperte sich heftig und fuhr fort: „Nehmt ein paar Leichte Felle mit und reitet zuerst los. Ihr müsst Tan Hongfei um jeden Preis aufhalten.“

Hauptmann Huo warf ihm einen prüfenden Blick zu. „Ja, Marschall!“

Gu Yun hatte sich schon umgedreht, um seine Robe und seine Leichte Rüstung zu holen, als er von Chang Geng am Handgelenk gepackt wurde.

„Ist es wahr?“, fragte Chang Geng mit zittriger Stimme.

Gu Yun senkte den Kopf und blickte ihn an, seine Augen waren von einem Sturm der Gefühle erfüllt. Nach einer kurzen Pause sagte er mit leiser Stimme: „Natürlich nicht. So etwas wie Zauberei gibt es nicht, und der kaiserliche Onkel Wang ist nur ein ...“

Lediglich ein unterwürfiger Hund des kaiserlichen Throns, der angriff, wohin man ihn wies. Was die beiden Barbarinnen betrifft, so waren sie bemitleidenswerte Gestalten, die nach der Niederlage ihres Landes in ein fernes und fremdes Land verschleppt worden waren.

Jeder kannte die Wahrheit, aber niemand wagte es, sie laut auszusprechen.

Gu Yun riss seine Hand aus dem Griff von Chang Geng. „Die Situation ist im Moment sehr unruhig. Halte dich vorerst von der Hauptstadt fern und bleibe ein paar Tage hier ...“

Doch Chang Geng ließ sich nicht beirren. „Abgesehen von der Zauberei und Wang Guo ist also alles andere wahr? Du weißt es? Du hast es schon immer gewusst?“

Gu Yun war mit seiner Geduld am Ende. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Erreg nicht noch mehr Unruhe ‒ geh zur Seite!“

Chang Geng sprach zu ihm: „Warum verausgabst du dich immer noch für ihn, um diese verkommene Nation zu schützen? Warum gibst du so viele Zugeständnisse ab? Warum ... hast du mich aufgenommen und dich so viele Jahre lang um mich gekümmert?“, fragte er schließlich leise.

Chang Gengs Stimme war leise wie gefallener Schnee, so schwach, dass sie kaum über Gu Yuns wütenden Schrei zu hören war. Doch irgendwie flogen diese Worte in dem Moment, in dem sie ihm entglitten, zielsicher zu den Ohren desjenigen, der sie hören musste.

Gu Yuns Herz krampfte sich zusammen.

Die Lippen von Chang Geng waren blutleer. Seine Augen bohrten sich in Gu Yun und er fragte erneut: „Yifu, warum?“

Gu Yun schnürte es die Kehle zu. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte ‒ was sollte er sagen?

Sollte er sagen, dass er damals keine Ahnung hatte? Dass er jahrelang annahm, seine Wunde sei nur ein Unfall gewesen? Dass er dachte, er hätte es versäumt, A-Yan zu beschützen, dass er hilflos zugesehen hatte, wie der kleine Prinz starb, ein Opfer der bösartigen Kämpfe im kaiserlichen Harem? Dass ... er erst, als er den Befehl erhielt, Kronprinz Jialai Yinghuo über den Pass zu begleiten, aus dem bösartigen Mund des Barbaren selbst erfuhr, dass das Gift der Göttin des Graslandes ein streng gehütetes Geheimnis war. Dass es seit Generationen das alleinige Wissen der Göttin war, dass es nicht einmal von Mitgliedern desselben Stammes reproduziert werden konnte, und dass die dreißig Leichten Kavalleristen, die dieses Gift mit sich führten und dem Schwarzen Eisenbataillon vor zwanzig Jahren so schwere Verluste zufügten, auf keinen Fall von irgendwelchen Barbaren im Norden geschickt worden sein konnten?

Heimat und Land, Feindschaft und Ressentiments. Die Straße des Lebens war breit genug, dass jeder seinen eigenen Weg gehen konnte, ohne die Wege der anderen zu behindern. Doch ganz gleich, welche Richtung man wählte, sobald man den ersten Schritt tat, konnte man nicht mehr zurückkehren.

Diese Angelegenheiten umfassten so viele Dinge, die nicht in Worte gefasst werden sollten. Schließlich sagte Gu Yun nichts mehr. Er öffnete Chang Gengs Hand, zog seine Rüstung an und band sich die Haare zusammen.

Der General hatte ein Herz ‒ wie schade, dass es aus Eisen gegossen war.

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Gu Yuns Reaktion war kaum zu bremsen, und die hundert Wachen des Grafenanwesens konnten kaum als ineffektiv bezeichnet werden. Aber sie kamen trotzdem zu spät.

Als Huo Dan schweißgebadet die Stadtmauern der Hauptstadt erreichte, hatte sich das nördliche Lager bereits zur Meuterei erhoben. Die kaiserliche Garde wurde mobilisiert, um die Krise zu bewältigen, die neun Stadttore wurden versiegelt, und die Hauptstadt versank im Chaos.




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4 Kommentare:

  1. Hä wie jetzt?... Gu Yun wusste die ganze Zeit von dem Gift in Chang Gengs Körper oder habe ich das jetzt falsch verstanden?

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    1. Nein, da hast du was falsch verstanden. In diesem Kapitel geht es um das Gift, das Gu Yuns fast vollkommene Taub- und Blindheit verursacht hat. Eigentlich sollte Gu Yuns Gift ihn töten und damit die Blutlinie der Gus vernichten, aber dadurch, das er schnell medizinische Hilfe bekommen hat, wurden "nur" Gu Yuns Seh- und Hörfähigkeit stark beeinträchtigt.
      Chang Gengs Gift ist das Wu'ergu und von dem hat Gu Yun noch keine Ahnung. Natürlich erfährt er s später noch, aber das dauert.

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  2. Ich denke, Chang Geng ist deshalb so entsetzt, weil er erfährt, dass seine Barbarenmutter und sein kaiserlicher Vater Gu Yuns Tod wollten, dieser das weiß und sich trotzdem um ihn kümmert, statt irgendwelche Rachegedanken zu haben.

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    1. Ja das hast du vollkommen recht, das war auch mein Gedanke und ich glaube Chang Geng deutet so was in einem Gespräch mit Gu Yun auch an.

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