Kapitel 58 ~ Eine Klinge in der Schwebe

Li Feng schwankte, wo er stand. Chang Geng sah ausdruckslos zu, wie der Kaiser in seinem prächtigen Palast auf den Thron zurücksank ‒ doch aus einem Teil seines Geistes, der sich seiner rationalen Kontrolle entzog, stieg eine plötzliche Welle von Schadenfreude in ihm auf. Natürlich war er äußerst diszipliniert und ließ nicht zu, dass sie länger als den Bruchteil einer Sekunde anhielt; er kniff sich diskret in die Handfläche und schob diesen Ausbruch blutdürstigen Hochgefühls wieder hinunter. Er wusste, dass es die Einmischung des Wu'ergus war und nicht seine wahren Gefühle.

„Passt auf Euch auf, Eure Majestät", sagte Chang Geng, nicht ganz aufrichtig.

Jetzt, da Prinz Yanbei gesprochen hatte, kamen die verblüfften Beamten in der großen Halle zur Besinnung und riefen: „Passt auf Euch auf, Eure Majestät."

Li Fengs Blick wanderte langsam zu Chang Geng. Eigentlich war Chang Geng sein einziger verbliebener Bruder, aber Li Feng beachtete ihn nur selten. Obwohl seine Hoheit, der vierte Prinz Li Min, den Adelstitel erhalten hatte und nun am Hof anwesend war, meldete er sich während der Hofsitzungen nur selten zu Wort, und er bemühte sich auch nicht, Verbindungen zu anderen Beamten herzustellen. Er nutzte nicht einmal Gu Yuns Einfluss, um mit den Militärgenerälen ein Gespräch zu führen, und unterhielt sich nur gelegentlich mit ein paar armen und bescheidenen Hanlin-Gelehrten über klassische Literatur.

Chang Geng schien die Aufmerksamkeit des Kaisers nicht zu bemerken, denn er fuhr unbeirrt fort: „Da General Zhao sein Leben für die Nation gegeben hat, sind wir nun entlang des Ostmeeres schutzlos. Wenn die Westler ihre Schiffe nach Norden wenden, werden sie im Nu den Hafen von Dagu erreichen. Jetzt, da sich die Situation so weit zugespitzt hat, ist es zu spät für bloße Kommentare, um das Blatt zu wenden. Eure Majestät, bitte lasst die Ablenkungen beiseite und trefft in dieser Angelegenheit in aller Eile eine Entscheidung.“

Natürlich war sich Li Feng dessen bewusst, aber er konnte vor lauter Aufregung kein einziges Wort herausbringen.

In diesem Moment warf der kaiserliche Onkel Wang, der durch die Gerüchte in Ungnade gefallen war, einen Blick auf die Miene des Kaisers und nahm dann seinen Mut zusammen, um einen Vorschlag zu machen. „Eure Majestät, die einzigen Truppen, die uns in der Gegend um die Hauptstadt zur Verfügung stehen, sind die des nördlichen Lagers. Wir sind von grenzenlosen Ebenen im Landesinneren umgeben, die man leicht zu Pferd durchqueren kann. Wenn wir hier Stellung beziehen, werden unsere militärischen Kräfte zweifellos nicht ausreichen. Außerdem ist der Fall der Rebellion von Tan Hongfei noch offen, und das nördliche Lager hat keine nennenswerte Führung. Wenn sogar die Drachenflotte in Jiangnan ausgelöscht wurde, ist dann das ungeordnete nördliche Lager der Aufgabe gewachsen? Wer ist in der Lage, die Sicherheit der Kaiserstadt zu gewährleisten? Wenn es darum geht, wie wir am besten vorankommen, sollten wir nicht ... ähm ..."

Wang Guo brach ab, als jeder General in der großen Halle seine Blicke wie eine Salve von Nebensonnenpfeilen auf ihn richtete. Dieser alte Bastard hatte sich noch nicht einmal den Arsch abgewischt, wie konnte er es wagen, den Kaiser beim geringsten Anzeichen von Ärger zu drängen, die Hauptstadt zu verlegen. Wäre da nicht die Tatsache, dass sie derzeit von inneren und äußeren Bedrohungen geplagt wurden, hätte ihn wahrscheinlich jeder in diesem Raum am liebsten in Stücke gehackt und gegessen.

Wang Guo schluckte besiegt, verbeugte sich und richtete sich nicht wieder auf.

Li Fengs Gesichtsausdruck wurde düster und unleserlich. Nach ein paar Takten des Schweigens ignorierte er den kaiserlichen Onkel Wang und sprach. „Setzt Tan Hongfei wieder in seine Position ein und gebt ihm die Chance, sich durch verdienstvolle Dienste zu rehabilitieren ... Wir haben euch hierher gerufen, um über diese Angelegenheit zu sprechen. Jeder, der noch mehr Blödsinn erzählt, kann sich verpissen!"

In seiner Wut entschlüpfte dem Kaiser ein Straßenfluch aus dem Mund. In der großen Halle herrschte völlige Stille, und Wang Guos Gesicht wurde abwechselnd rot und blass.

Li Feng wandte sich irritiert an den Kriegsminister. „Mein lieber Untertan Hu, Ihr leitet das Kriegsministerium und habt die Befehlsgewalt über den Marschbefehlserlass. Was denkt Ihr?"

Der Kriegsminister wurde mit einem kränklichen, grünlichen Teint und einem langen Gesicht geboren. Sein Name, Hu Guang, wurde ähnlich wie HuaGua oder Flaschenkürbis ausgesprochen. Daher nannten ihn die Leute privat "den Flaschenkürbisminister". Als Li Feng ihn aufforderte, strengte der Flaschenkürbisminister seinen Verstand so sehr an, dass sich Beulen in seinem Gesicht bildeten und ihn in einen bitteren Kürbis verwandelten. Theoretisch wurden die Marschbefehle vom Kriegsministerium herausgeben, aber würde sie es wagen, diese Befehle großzügig und ohne zu zögern in Auftrag zu geben? In der Praxis war er nur ein Pinsel in der Hand des Kaisers. Seit wann besaß ein Pinsel die Kühnheit, seine eigene Meinung zu vertreten?

Hu Guang wischte sich den Schweiß von der Stirn und begann zaghaft: „Ähm ... Eure Majestät hat ganz recht. Die Hauptstadt ist die Grundlage für das Schicksal unseres Groß-Liang; sie ist das führende Licht, auf das alle Menschen der Nation blicken. Wie können wir es zulassen, dass diese haarigen Ausländer hier nach Belieben hereinplatzen? Absurd! Solange noch ein einziger Soldat übrig ist, müssen wir bis zum bitteren Ende kämpfen. Wenn wir jetzt die Trommeln zum Rückzug schlagen, würden die Herzen unserer Soldaten dann nicht ins Wanken geraten?"

Li Feng hatte keine Geduld für sein Geschwätz und brach ihm das Wort ab. „Ich fordere Sie auf, uns einen Schlachtplan zu erstellen!"

Hu Guang verstummte.

Alle hatten Wang Guo angestarrt, aber Wang Guo hatte recht. Wenn der Oberbefehlshaber der Marine von Jiangnan bereits sein Leben für die Nation gegeben hatte, wer sollte dann die Schlacht an der Küste des Ostmeeres leiten? Wie sollten sie ihre Truppen aufstellen, wenn ihre Drachenflotte verstreut war? Wenn die Westmächte ihren Blick auf den Norden richteten, wie viele Kanonenschüsse konnten das nördliche Lager und die kaiserliche Garde abwehren?

In gewisser Hinsicht konnte man Wang Guo als mutig bezeichnen. Zumindest hatte er eine Wahrheit ausgesprochen, die sonst niemand auszusprechen wagte. Hu Guang verwandelte sich zusehends in einen verfaulten, bitteren Kürbis, und der Schweiß rann ihm über das Gesicht wie ranzige Flüssigkeit, die aus verdorbenen Produkten austrat.

In diesem Moment trat Chang Geng vor. „Eure Majestät darf ich sprechen?", fragte der junge Prinz Yanbei.

Hu Guang warf Chang Geng einen Blick der Dankbarkeit zu. Chang Geng schenkte ihm ein elegantes Lächeln, und sein Ton wurde etwas weicher. „Eure Majestät, verschüttetes Wasser kann nicht wiedergewonnen werden, und Tote können nicht ins Leben zurückkehren. Der beklagenswerte Zustand unserer vier Grenzen ist eine Tatsache, und Streit und Zorn werden nichts an unserer Lage ändern. Anstatt im eigenen Haus Chaos zu säen, sollten wir überlegen, welche unserer Schwächen noch behoben werden können."

Dieser junge Mann muss eine zu lange Zeit in der Gesellschaft von Mönchen verbracht haben, denn in seiner Aura befand sich keine Spur von weltlicher Alltäglichkeit. Er stand am Eingang des Saals wie ein Jadebaum im Wind und strahlte eine Ruhe aus, die einen Menschen bis auf die Knochen beruhigen konnte. Allein sein Anblick genügte, um jede lodernde Flamme der Wut zu ersticken.

Li Feng seufzte leise und winkte ihm zu, er solle fortfahren. „Sprecht."

„Die Feuer lodern an allen vier Ecken unseres Landes. Unsere Streitkräfte sind bereits mobilisiert, aber sie müssen noch angemessen versorgt werden. Um weitere Verzögerungen bei der Versorgung unserer Truppen zu vermeiden, bittet dieser Untertan Eure Majestät, die nationale Schatzkammer zu öffnen und das gesamte Violette Gold darin zu verteilen. Dies ist meine erste Bitte."

„Ganz recht, Ihr habt uns daran erinnert." Li Feng wandte sich an die Vertreter des Finanzministeriums. „Gebt den Befehl, das zu tun, was er sagt."

„Eure Majestät", fuhr Chang Geng in aller Ruhe fort, „dieser Untertan hatte gesagt, wir sollten das gesamte Violette Gold verteilen ‒ es handelt sich um einen nationalen Notstand, und der Marschbefehlserlass ist zu einem Hindernis geworden, das unseren Generälen Klauen und Zähne fesselt. Wollen Eure Majestät sie wirklich in Ketten auf das Schlachtfeld beordern?"

Hätte jemand anders diese Worte ausgesprochen, wäre das eine schwere Beleidigung gewesen. Aber aus irgendeinem Grund war es unmöglich, wütend zu werden, wenn sie aus dem Mund von Prinz Yanbei kamen.

Hu Guang, der an der Seite zurückgelassen worden war, beeilte sich, hinzuzufügen: „Dieser Untertan stimmt zu."

Bevor Li Feng zustimmen oder widersprechen konnte, explodierte das Finanzministerium. Der Vize-Finanzminister rief: „Eure Majestät, das dürfen Sie nicht! Die Verteilung des Violetten Goldes jetzt wird in der Tat das dringendste unserer Probleme lösen, aber wenn Ihr diesem Untertan erlaubt, eine unangenehme Wahrheit auszusprechen, wenn wir den heutigen Tag überstehen, was werden wir dann in Zukunft tun? Welchen Anteil werden wir dann nächstes Jahr nutzen?“

Han Qi, der Hauptmann der kaiserlichen Garde, würde dem Vizeminister am liebsten den Kopf abreißen, um die Watte darin auszuschütten. Er schoss zurück: „Die Banditen stehen vor unserer Tür, und ihr Minister fummelt immer noch an euren Rechenmaschinen herum und fragt euch, wie wir unseren Lebensunterhalt verdienen sollen. Dieser bescheidene General hat heute wirklich etwas Neues gesehen. Eure Majestät, wenn wir uns jetzt nicht um unser dringendstes Problem kümmern, von welcher Zukunft kann dann noch die Rede sein? Wenn wir von allen Seiten von Feinden umzingelt sind, wird selbst das Ausgraben jedes Zentimeters der spärlichen Violetten Goldadern innerhalb unserer Grenzen nicht für unseren Bedarf ausreichen!"

Als ob er befürchtete, nicht zu Wort zu kommen, schaltete sich Hu Guang erneut ein, das Gesicht errötet und der Hals vor Wut geschwollen. „Dieser Untertan ist einverstanden!"

Chang Geng hatte noch kein Wort darüber verloren, wie sie ihre Feinde abwehren sollten, und schon hatte er einen heftigen Streit angezettelt. Er sprach jedoch nicht weiter, sondern stand geduldig an der Seite und wartete darauf, dass ihr Streit zu einem Ende kam.

Li Fengs Kopf drohte zu zerspringen. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass alle sogenannten Säulen seines Hofes völlig auf die winzigen Grasflächen in ihren eigenen Hinterhöfen fixiert waren, und dass die langfristigen Bilder, die sie in Erwägung zogen, zusammengesetzt ein Tableau ergaben, das kleiner war als eine Schüssel. Wenn ihr Gezänk noch heftiger wurde, konnte er sie genauso gut in die kaiserlichen Küchen schicken und auf die Öfen verzichten ‒ vielleicht konnten sie dort eine beeindruckende Tafel mit schillernden neuen Gerichten aus einer bisher unbekannten Küche zubereiten.

„Genug!", brüllte Li Feng.

Alle im Saal verstummten ‒ bis auf Chang Geng, der nun wieder hereinschlüpfte, um seine Rede fortzusetzen. „Dieses Thema ist noch nicht abgeschlossen. Meine zweite Bitte ist, dass Eure Majestät bereit ist, einen Rückzug anzuordnen."

Daraufhin explodierten die Beamten erneut. Selbst die Wut des Sohnes des Himmels konnte nicht verhindern, dass dieser Topf überkochte, und einige der älteren Minister schienen kurz davor zu sein, ihre Köpfe gegen die Säulen zu schlagen, um ihre Entschlossenheit zu demonstrieren.

Die Augenwinkel von Li Feng zuckten. Wut stieg in seiner Kehle auf, und es gelang ihm gerade noch rechtzeitig, sie zu unterdrücken, um nicht nach Chang Geng zu schlagen. Er schnitt eine Grimasse, als würde er an seiner Wut ersticken, und sprach eine leise Warnung aus. „A-Min, es gibt gewisse Dinge, die man nicht unbedacht sagen sollte. Unsere Vorfahren haben uns die Nation nicht in die Hand gegeben, damit wir unser Territorium den Kiefern der Tiger überlassen."

Chang Gengs Gelassenheit flackerte nicht einen Deut. „Dieser Untertan bittet Eure Majestät, die Fülle seines eigenen Geldbeutels zu spüren. Selbst wenn wir die Kraft unserer Nation ausschöpfen, wie groß ist das Gebiet, das unser Hof versorgen kann? Dies ist keine Abtretung unseres Landes an die Kiefer der Tiger, sondern ein tapferer Krieger, der sich die Hand am Handgelenk abschneidet, um nicht an Schlangengift zu sterben. Wenn wir nicht entschlossen sind, wenn wir dieses Opfer nicht aus eigenem Antrieb bringen, werden wir gezwungen sein, es zu bringen, wenn das Gift bis ins Mark eingedrungen ist und die Nation von den Westlern überrannt wurde.

Seine Stimme, die so ruhig war, als würde er nur die Analekten rezitieren, war wie eine unbarmherzige Schüssel Eiswasser, die über Li Fengs Kopf ausgegossen wurde.

Chang Geng blickte nicht auf, um den Ausdruck des Kaisers zu lesen. Er fuhr fort: „Was meine dritte Bitte betrifft, hat der kaiserliche Onkel Wang recht. Der Nordwesten steht unter der Schirmherrschaft des Schwarzen Eisenbataillons; auch wenn sie schwere Verluste erleiden, werden sie die Stellung halten. Die dringlichste Front ist die Küste des Ostmeeres. Sobald die Westler nach Norden vordringen, werden sie auf das nördliche Lager treffen, dessen Kampffähigkeiten Anlass zur Sorge geben. Alle möglichen Verstärkungen, von nah und fern, sind anderswo gebunden und werden möglicherweise nicht rechtzeitig eintreffen. Eure Majestät, was sind Eure Pläne, wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist?"

Diese Worte ließen Li Feng in einem Augenblick um zehn Jahre altern. Er saß eine lange Zeit niedergeschlagen da, bevor er endlich wieder sprach. „Wir verkünden einen kaiserlichen Erlass ... Bringt den kaiserlichen Onkel zu uns."

Chang Geng zuckte bei diesem Erlass nicht einmal mit der Wimper. Er zeigte weder Freude noch Verärgerung, als ob dies völlig normal und vernünftig wäre. Aus Angst, zu laut zu atmen, akzeptierte Zhu Xiaojiao den Erlass und wandte sich zum Gehen, als Chang Geng noch einmal mahnend das Wort ergriff. „Eure Majestät, ist es nicht eine ziemliche Herabwürdigung, wenn Zhu-Gonggong einen kaiserlichen Erlass verkündet, um einen Gefangenen aus den kaiserlichen Kerkern zu holen, ohne dass ein Beamter des Hofes anwesend ist?"

Er hatte begonnen, jedem von Li Fengs Dienern instinktiv zu misstrauen ‒ auch dieser Person, die Gu Yun die ganze Zeit über aus dem Schatten heraus geholfen hatte.

Li Feng war erschöpft. „Was sind das für Zeiten, in denen Ihr Euch so sehr um hohle Benimmregeln kümmert? Mein lieber Untertan Jiang, bitte geht dorthin in unserem Namen."

Zhu Xiaojiao wankte auf winzigen Schritten hinter Jiang Chong her. Unbewusst warf er von Weitem einen Blick auf Chang Geng zurück. Der Eunuch war ein Veteran des Palastes und kannte jeden Adligen und Minister, der am Hof von Groß-Liang tätig war. Dieser Prinz Yanbei war die einsame Ausnahme. Gu Yun hatte ihn seit seiner Jugend im Grafenanwesen eingesperrt, und nachdem er erwachsen geworden war, vernachlässigte er seine eigentlichen Pflichten, um durch das ganze Land zu reisen, und ließ sich nur selten blicken. Er stand inmitten der Menge, um der Gerichtssitzung beizuwohnen und den Verhandlungen zuzuhören, aber er betrat den Palast nur noch selten allein. Er begleitete Gu Yun nur, um ihm während der Feiertage zum Jahresende seine Aufwartung zu machen ... niemand wusste etwas über ihn.

Sie wussten nichts über ihn ‒ und so war er eine unbekannte Größe.

Jiang Chong und Zhu Xiaojiao verließen den Palast und ritten zügig zu den kaiserlichen Kerkern. Gerade als sie diese fast erreicht hatten, kam Zhu Xiaojiao ein plötzlicher Gedanke und ergriff mit verkniffener Stimme das Wort. „Wartet, Richter Jiang, wie unpassend wäre es für den Grafen, eine Audienz beim Kaiser in einer Gefangenenuniform zu haben? Warum schicke ich nicht jemanden los, der die neu angefertigten Hofuniformen für den Grafen des ersten Ranges durchsucht und eine mitbringt?"

Jiang Chongs Geist war erfüllt von Trauer und Empörung über die Katastrophen, die sein Land heimgesucht hatten. Als seine Seele durch die Worte des alten Eunuchen in seinen Körper zurückgerufen wurde, war er so verblüfft, dass er nicht wusste, ob er lachen oder weinen sollte. „Zhu-Gonggong, Ihr macht Euch immer noch Gedanken über solche Kleinigkeiten in einer Zeit wie dieser? Ich ..."

Bevor er zu Ende sprechen konnte, erblickte er einen Reiter, der in ihre Richtung galoppierte. Der Neuankömmling kam bald vor ihnen an und stieg ab, um einem Vorgesetzten einen förmlichen Gruß zu entbieten ‒ es war der Hauptmann der Wache des Grafenanwesens, Huo Dan. Huo Dan vollführte schnell den Faust- und Handflächengruß. „Richter Jiang, Zhu-Gonggong, ich bin ein Diener des Grafen von Anding. Unser Prinz hat mir befohlen, dies für den Grafen zu bringen."

Er hielt mit beiden Händen eine Reihe von Hofroben und eine Rüstung in die Höhe.

Jiang Chongs Herz rührte sich. Prinz Yanbei war eindeutig ein akribischer Mensch ‒ aber warum sollte er sich so sehr um die kleinen Details kümmern?

Vor wem schützte sich dieser Prinz?

In den kaiserlichen Kerkern ließ Gu Yun die dicke Maus aus purer Langeweile am Schwanz baumeln und ließ sie in der Luft herumschwingen. Als er eine Veränderung im Luftstrom hinter sich spürte, drehte er sich erschrocken um und sah die vagen Umrisse dreier Personen von draußen hereinstürmen. Die erste Person fegte wie der Wind vorwärts und schien eine Hofrobe zu tragen. Sekunden später schwang das Schloss der Zellentür auf, und der einzigartige Duft von Hofweihrauch stieg Gu Yun in die Nase, zusammen mit einem Hauch von Li Fengs persönlichem Sandelholzduft.

Als Gu Yun die Augen zusammenkniff, konnte er den dickbäuchigen Mann als Zhu Xiaojiao erkennen. Wenn diese Leute hier waren, um ihn zu verhören, gab es keinen Grund, Zhu Xiaojiao zu schicken. Aber Li Feng war nicht der Typ, der sich zum Narren machte, indem er so kurz hintereinander zwei widersprüchliche Erlasse verkündete, Gu Yun einsperrte, um ihn im nächsten Moment wieder frei zu lassen. In diesem Fall blieb nur die Möglichkeit ...

Das Lächeln verschwand aus Gu Yuns Gesicht. Was nun?

Jiang Chong stieß einen Strom von schnellen Silben aus. Gu Yun konnte ihn kaum verstehen und nahm nur vage die Worte ‘Feindliche Zhao ...‘ und sonst nichts wahr. Hoffnungslos verwirrt, konnte er nur eine Miene der undurchdringlichen Ruhe aufsetzen und nicken, das Bild eines unbeweglichen Objekts, das auf eine unaufhaltsame Kraft trifft. Von seiner stoischen Miene angesteckt, war Jiang Chong auf einmal sehr beruhigt. Seine Emotionen, die drastisch zwischen Angst und Trauer geschwankt hatten, beruhigten sich schließlich wieder in seinem Magen, und er wäre beinahe auf der Stelle in Tränen ausgebrochen. „Eine Säule wie den Grafen zu haben, ist wahrlich ein Segen für Groß-Liang und sein Volk."

Gu Yun war verblüfft. Verdammt, was hat er jetzt gesagt?

Aber vordergründig gab er Richter Jiang nur einen kurzen Klaps auf die Schulter und eine knappe Anweisung: „Geht voran."

Glücklicherweise trat zu diesem Zeitpunkt Huo Dan vor. Während er Gu Yun seine Robe überreichte, zog er eine Weinflasche seinem Hüftbereich hervor. „Seine Hoheit bat mich, dies meinem Herrn zu bringen, um die Kälte zu lindern."

Gu Yun öffnete den Deckel; ein Schnuppern genügte, um zu erkennen, dass es sich um Medizin handelte. Er atmete erleichtert auf, als wäre ihm eine enorme Last von den Schultern genommen worden, und leerte das Fläschchen in einem Zug.

Mit Huo Dans Hilfe zog er sich mit großer Effizienz um. Wenigstens sah er jetzt mehr oder weniger vorzeigbar aus. Ihre Gruppe eilte direkt zum Palast. Der taubblinde Graf von Anding tastete sich in ihrer Mitte entlang und wünschte sich mehr denn je, dass die Medizin schnell wirken würde. Als sie die Palastmauern erreichten, besserte sich Gu Yuns Gehör endlich mit nadelartigen Schmerzstichen.

Er gab Huo Dan ein diskretes Handzeichen. Huo Dan verstand sofort, was er meinte, trat vor, lehnte sich an sein Ohr und wiederholte jedes Wort, das Jiang Chong in den kaiserlichen Kerkern zu ihm gesagt hatte.

Als Gu Yun seinen Ausführungen lauschte, schien etwas in seinem Kopf zu zerspringen, der schon fast vor Kopfschmerzen zu platzen drohte. Eine Explosion goldener Funken wirbelte vor seinen Augen herum, und er stolperte, bevor Huo Dan ihn am Arm festhielt. „Marschall!"

Jiang Chong sprang erschrocken auf. Der Graf von Anding war noch vor wenigen Augenblicken von fast unmenschlicher Ruhe gewesen ‒ was war geschehen? Als er Gu Yun so blass wie ein Toter sah, fragte er besorgt: „Mein Herr, was ist los?"

„Das Schwarze Eisenbataillon hat mehr als die Hälfte seiner Mitglieder verloren ... Die Pässe entlang der nördlichen Grenze fielen in schneller Folge in die Hände des Feindes ... General Zhao hat sein Leben für die Nation gegeben ... Das südwestliche Nachschublager wurde bombardiert ..." Jede dieser kurzen Meldungen wurde zu einer tödlichen Klinge, die sich in Gu Yuns Fleisch und Knochen bohrte. Schmerzen bohrten sich in seine Brust, und der Geschmack von Eisen überflutete seine Kehle.

Auf Gu Yuns Stirn traten Adern hervor, Schweiß rann ihm die Schläfen hinunter, und seine Augen schienen den Blick zu verlieren. Jiang Chong wusste, dass niemand es wagen würde, den Grafen von Anding zu foltern, selbst wenn er sich in den kaiserlichen Kerkern befände, aber er war dennoch zutiefst erschrocken. „Was ist mit dem Grafen los? Soll ich eine Sänfte herbeirufen? Die kaiserlichen Ärzte?"

Gu Yuns Körper schwankte leicht.

„Mein Herr, die Sicherheit von Groß-Liang ruht auf Euren Schultern. Wir können es uns nicht leisten, Euch jetzt zu verlieren!", schrie Jiang Chong auf.

Seine Worte klangen wie ein Donnerschlag in Gu Yuns Ohr. Die verstreuten Teile seiner Seele erbebten und zogen sich dann wieder in dieses außerordentlich widerstandsfähige eiserne Rückgrat zurück. Gu Yun schloss die Augen und schluckte entschlossen einen Mundvoll Blut. Nach einem kurzen Augenblick lachte er heiser unter Jiang Chongs ängstlichem Blick, als ob nichts wäre. „Ich habe seit ein paar Tagen keine Sonne mehr gesehen, deshalb habe ich leichte Kopfschmerzen ‒ das macht nichts, das ist ein altes Leiden.“

Während Gu Yun sprach, senkte er den Kopf und richtete die Leichte Rüstung an seinem Körper. Er riss seinen Arm aus Huo Dans Griff und warf ihm die graue Maus zu, die sich in seiner Handfläche zusammengerollt hatte, seit sie das Gefängnis verlassen hatten. „Das ist mein Mäusebruder und engster Vertrauter. Gebt ihm etwas zu essen, lasst ihn nicht verhungern."

Mit diesen Worten drehte er sich um und schritt in den Palast.

_________________

 

In der großen Audienzhalle hatten diese wenigen Worte von Chang Geng einen verbalen Schlagabtausch ausgelöst. Doch als Zhu Xiaojiaos tönende Stimme die Worte ‘Der Graf von Anding ist zur Audienz beim Kaiser im Palast eingetroffen‘ rief, hielten alle die Luft an, und eine tödliche Stille legte sich über den Saal.

Sobald Gu Yun seinen Kopf hob, begegnete er Chang Gengs Blick. Sie sahen sich nur kurz an, bevor sie den Blick abwandten, aber Gu Yun entging nicht der Sturm unaussprechlicher Worte, der in Chang Gengs Augen tobte.

Gu Yun trat vor und verbeugte sich zur Begrüßung vor dem Kaiser, als wären sie die einzigen beiden im Raum, so gleichgültig, als wäre er gerade von einem Nickerchen im Grafenanwesen aufgewacht und nicht aus den kaiserlichen Kerkern geholt worden.

Li Feng erklärte die Sitzung sofort für beendet und warf alle Streithähne und nutzlosen Schmarotzer hinaus, so dass nur Gu Yun, Chang Geng und die hohen Militärbeamten übrig blieben, um die Nacht hindurch über Anpassungen der Verteidigungsanlagen der Hauptstadt zu beraten. Meister Fenghan, der zu Hause über sein Verhalten nachgedacht hatte, wurde erneut aus seiner Einsiedelei gerufen, und das Lingshu-Institut war bald in Lampenlicht getaucht und machte Überstunden, um die gesamte Ausrüstung der Hauptstadt zu optimieren.

Li Feng, mit dunklen Flecken unter den Augen, hielt sie einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang auf Trab, die ganze vierte Nachtwache hindurch, bis der Himmel am Horizont zu verblassen begann.

Auf dem Weg nach draußen forderte Li Feng Gu Yun auf, allein zurückzubleiben.

Alle anderen waren aus der großen Halle entlassen worden, so dass nur noch ein Prinz und ein Untertan einander gegenüberstanden. Li Feng schwieg lange Zeit, bis die Palastlampen das Sonnenlicht spürten und mit einem Klicken erloschen, was ihn wieder zur Besinnung brachte. Er betrachtete Gu Yun mit einem komplizierten Gesichtsausdruck und sagte dann vage: „Onkel hat eine Kränkung erlitten."

Gu Yun hatte den Bauch voll mit abgedroschenen Nettigkeiten, die er ohne Weiteres aussprechen konnte. ‘Wütender Donner und sanfter Regen sind eine Ehre für meinen Herrscher‘, ‘Es gibt keinen Grund, sich darüber zu ärgern, für die Nation gestorben zu sein‘ und anderer Unsinn dieser Art hatte sich bereits nahtlos unter seiner Silberzunge aneinandergereiht.

Doch plötzlich war es, als wäre diese Silberzunge eingerostet; egal wie sehr er sich bemühte, er konnte kein Wort mehr sagen. Er konnte nur in die Richtung des Longan-Kaisers lächeln.

Es war ein seltsam steifes Lächeln, ein wenig unbeholfen in seiner Darstellung.

Die beiden hatten sich wirklich nichts zu sagen. Li Feng seufzte und winkte ihn ab.

Mit ehrerbietig gesenktem Kopf verabschiedete sich Gu Yun.

 

 

 

Erklärungen:

HuaGua, 花瓜, ist eine eingelegte Gurke, die in Taiwan häufig gegessen wird. Normalerweise wird sie mit Congee als eine der vielen Beilagen gereicht.

Als Tableau vivant (frz. „lebendes Bild“) bezeichnet man eine Darstellung von Werken der Malerei und Plastik durch lebende Personen.


Eine Plastik ist ein dreidimensionales Werk der bildenden Kunst, das durch Antragen von Material wie Ton oder Gips entsteht.

Faust- und Handflächengruß 












⇐Vorheriges Kapitel   Nächstes Kapitel⇒

GLOSSAR und die Welt von Stars of Chaos

2 Kommentare:

  1. Oh je, wie wollen sie dieses Chaos wieder halbwegs in den Griff bekommen?

    AntwortenLöschen