Kapitel 26 ~ Die Suche nach Buddha

Es war üblich, aus den Geburtstagen der Alten eine große Sache zu machen; man nannte dies das Feiern der Langlebigkeit. Auch die Geburtstage von Kleinkindern waren lebhafte Ereignisse, denn ein Jahr älter zu werden, war kein leichtes Unterfangen, mit jedem Jahr konnten die Eltern der Kleinen sicherer sein, dass sie überleben würden.

Gu Yun war weder alt noch jung, und er hatte keine Familie, die ihn liebte. Wenn er an seinem Geburtstag zufällig zu Hause war, dachten die alten Haushälterinnen vielleicht daran, eine kleine Feier für ihn zu veranstalten. Aber die meiste Zeit war er nicht zu Hause. Er war sogar so beschäftigt, dass er selbst ganz vergessen hatte, dass es der Sechzehnte des ersten Monats war.

Um ehrlich zu sein, hatte er nicht viel zu feiern. Es gab ein Sprichwort: ‘Wer am Ersten geboren ist, wird königliche Gemahlin, wer am Fünfzehnten geboren ist, wird Beamter‘, was bedeutet, dass der Erste der beste Geburtstag für Frauen und der Fünfzehnte der beste für Männer ist. Er hätte zu dem äußerst günstigen Zeitpunkt geboren werden können, nämlich in der Nacht des Laternenfestes, am fünfzehnten Tag, aber er musste unbedingt ein paar Stunden länger im Bauch seiner Mutter bleiben. Es war klar, dass sein Pech angeboren war.

Cao Niangzi hatte sich nicht nur selbst verkleidet, sondern auch Chang Geng und die anderen dazu gebracht, die Puppe mit dem Schwert herauszuholen und zu quälen. Sie hatten dem nächtlichen Geist ein paar rustikale, rötliche Wangen aufgemalt und ein paar alte Seidenfäden hervorgeholt, um seine eisernen Gliedmaßen zu verschnüren. In diesem schillernden Kostüm hielt die Schwertpuppe eine Schüssel mit Nudeln in der Hand und starrte Gu Yun ausdruckslos an, wobei ihr regungsloses, pechschwarzes Gesicht irgendwie einen traurigen Ausdruck vermittelte.

Gu Yun fluchte leise vor sich hin. „Ihr kleinen Schlingel, so benutzt ihr also die Schwerttrainingspuppe?“

Ge Pangxiao sprang auf und zählte die Beiträge der anderen auf. „Mein Herr, das falsche Mädchen hat die roten Wangen gemalt, ich habe das Feuer angemacht, um die Nudeln zu kochen, und Dage schlug das Ei auf, um es zu den Nudeln zu geben!“

Plötzlich fühlte sich Gu Yun ein wenig unwohl. Das Grafen-Anwesen, das so viele Jahre lang kalt und leer gewesen war, fühlte sich jetzt so lebendig an, dass er den Ort fast nicht wiedererkannte.

„Yifu, iss deine Nudeln und komm dann herein“, sagte Chang Geng.

„In Ordnung.“

Gu Yun nahm die Schüssel in die Hand, sah Chang Geng an und wählte dann bewusst das Ei aus, das er zuerst essen sollte. Schon beim ersten Bissen knabberte er an einer Schale, ließ sich aber nichts anmerken, sondern kaute und schluckte die Schale zusammen mit dem Rest. Er leerte die Schale in wenigen Bissen, als hätte er acht Leben lang nichts gegessen, und trank auch jeden Tropfen der Suppe aus.

Seit jeher war die Wärme der Heimat das Grab eines Helden. Früher hatte Gu Yun die Hauptstadt immer ohne ein einziges Band verlassen, das ihn an sie band. Jetzt verließ er sie zum ersten Mal mit Wehmut in der Brust. Vielleicht lag es daran, dass er bisher jedes Mal das Gefühl hatte, die Grenze sei der Ort, an den er zurückkehrte. Dies war das einzige Mal, dass er das Gefühl hatte, auf eine ferne Reise zu gehen, und dass sein Zuhause hier war.

Doch trotz dieser sanften Melancholie konnte selbst ein Kummer, der ihm das Herz zerriss, die Schritte des Grafen des Friedens nicht aufhalten.

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Am nächsten Tag traf Gu Yun seine letzten Vorbereitungen, als ob er sich um nichts in der Welt kümmern müsste. Schließlich sagte er kein einziges Wort mehr zu Chang Geng. Er kam allein im Nordlager an und drehte sich um, um in Richtung der Hauptstadt zu schauen. Schade, dass er aus dieser Entfernung nur die schwache Silhouette des Drachenflug-Pavillons sehen konnte.

„Marschall hast du endlich dein Gewissen entdeckt?“, fragte Shen Yi, als er zu ihm schlenderte.

Gu Yun seufzte. „Wenn ich das nächste Mal zurückkomme, wird er sich vielleicht wieder weigern, mich anzuerkennen. Ja, mein Titel als Yifu steht immer auf dem Spiel ... Lass uns aufbrechen.“

Das Schwarze Eisenbataillon brach auf, die Soldaten gingen in strenger Formation, wie ein schwarzer Wirbelwind, der unbarmherzig über das Land fegte. Jeder würde vor dieser Machtdemonstration den Rückzug antreten. Der Plan war, den Kronprinzen von Tianlang nach Norden zu eskortieren und dann geradewegs nach Westen in die westlichen Regionen zu ziehen, um Wüstenräuber zu unterdrücken und den sicheren und ungehinderten Fluss des Handels entlang der Seidenstraße zu gewährleisten.

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Am nächsten Tag stand Chang Geng wie üblich früh auf. Er erinnerte sich daran, dass Gu Yun nicht zu Hause sein würde, konnte aber trotzdem nicht widerstehen, die Eisenpuppe in seinen leeren Hof zu bringen. Er übte und tauschte Schläge mit der Puppe aus und frühstückte dann allein. Als er ging, schaute er auf und sah, dass der Pflaumenbaum im Hof geblüht hatte.

Es hatte gerade geschneit, und die Blütenblätter waren mit einer dünnen, durchsichtigen Frostschicht überzogen. Je länger Chang Geng sie betrachtete, desto mehr gefielen sie ihm, und schließlich konnte er dem Drang nicht widerstehen, ein paar Zweige abzubrechen. Sein erster Instinkt war immer, Dinge für Gu Yun aufzubewahren. Obwohl er wusste, dass sein Pate erst in ein paar Tagen zurückkehren würde, wischte er vorsichtig den Frost und Schnee von den Zweigen und suchte nach einer Vase, um sie in Gu Yuns Zimmer auszustellen.

Gu Yuns Zimmer war so groß, und doch hatte er nicht einmal einen einzigen leeren Weinkrug, um ein paar Blumen darin unterzubringen. Chang Geng öffnete das Fenster und rief dem alten Haushälter zu: „Onkel Wang, gibt es irgendwo eine Vase?“

Der Haushälter bejahte seine Bitte und ging nachsehen. Immer noch die Pflaumenblütenzweige umklammernd, wartete Chang Geng in Gu Yuns Zimmer und schaute hin und her. Als sein Blick auf das Kopfende von Gu Yuns Bett fiel, erstarrte er. Der Fuchspelzmantel, der das ganze Zimmer aufzuwerten schien, war verschwunden.

In diesem Moment kam Onkel Wang mit einer Celadon-Vase in der Hand zurück. Er sah Chang Geng an und lächelte. „Eure Hoheit, wird das reichen? Wo soll ich sie hinstellen?“

Chang Gengs Blick rührte sich nicht von dem kahlen Kopfende des Bettes, auch wenn er ein wenig leer wurde. „Onkel Wang, warum wurde der Fuchspelzmantel des Grafen so früh weggelegt?“

Die Augenwinkel von Onkel Wang zuckten ein wenig. „Ist der Graf nicht mit Seiner Majestät verreist?“, antwortete er unbeholfen. „Er muss ihn mitgenommen haben.“

Chang Gengs Herz sank langsam.

In der Silvesternacht hatte Gu Yuns Schwarzer Falke ihm erzählt, dass der Marschall in der Hauptstadt nie Winterkleidung trug. Nur bei Schneestürmen jenseits der Grenze trug er manchmal wärmere Schichten. Schon damals hatte er sich gewundert — wenn Gu Yun nie Winterkleidung trug, warum hatte er dann einen Fuchspelzmantel an seinem Bett hängen? Wofür wollte er ihn verwenden? Aber damals war es hektisch gewesen, er wurde von Albträumen geplagt, sein Geist war nicht klar, also hatte er nicht weiter darüber nachgedacht.

Chang Gengs Kopf wirbelte herum, seine Stimme knarrte wie eine bis zum Äußersten gespannte Saite. „Onkel Wang, wo ist er hingegangen? Lügen Sie mich nicht an, nur weil ich nicht gerne ausgehe.Ich weiß, dass Xiangshan im Vergleich zum Nordlager immer noch näher an der Hauptstadt liegt.“

Onkel Wang hielt die Vase in der Hand und wusste nicht recht, was er mit sich anfangen sollte. Gu Yun, ihr abwesender Herr, war schon lange weg, und er hatte nicht vor, sich um das zu kümmern, was in seiner Abwesenheit geschah. Der alte Haushälter rechnete damit, dass es irgendwann zu dieser Begegnung kommen würde, aber er hätte nicht gedacht, dass es so bald sein würde.

Chang Geng holte tief Luft. „Ist er schon zur Grenze gegangen? Wohin? In den Norden oder in den Westen?“

Der alte Haushälter schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. „Was das angeht, versteht dieser alte Diener nicht viel von militärischen Angelegenheiten ... Eure Hoheit, ich glaube, der Graf wollte nicht, dass Ihr Euch Sorgen macht ...“

Mit einem Knacken brachen die blühenden Zweige in Chang Gengs Händen. Er sagte langsam und mit Nachdruck: „Er hat keine Angst, dass ich mir Sorgen machen könnte. Er hat Angst, ich würde darauf bestehen, ihm zu folgen, nicht wahr?“

Der alte Haushälter hielt seinen Mund.

Chang Geng war dem Namen nach Gu Yuns Mündel, aber egal, wie sehr er missbilligt wurde, sein Nachname war immer noch Li. Er würde eines Tages zumindest ein Komturprinz sein. Der alte Haushälter verspürte einen Anflug von Bitterkeit. Sein rücksichtsloser Herr musste kalte Füße bekommen haben, weshalb er einem armen alten Mann diese heiße Kartoffel hinwarf. Er machte sich darauf gefasst, die Auswirkungen des Temperaments dieses Prinzen zu spüren.

Aber nach mehreren langen Augenblicken hatte Chang Geng keinen einzigen Laut von sich gegeben.

Chang Geng hielt das ganze Geschrei und Gebrüll seiner aufgestauten Frustration in sich selbst zurück. Es war nicht nur Gu Yuns plötzliche Abreise ohne ein Wort des Abschieds. Diesmal brach die ganze Unruhe und Angst, die er seit seiner Ankunft in der Hauptstadt in seinem Inneren aufgestaut hatte, endlich durch den Damm, den er um sie errichtet hatte. Chang Gengs Verstand war so klar wie ein Spiegel. Er wusste immer, dass seine Existenz für alle um ihn herum irrelevant war. Er war in diesen Strudel hineingezogen worden und dazu bestimmt, eine unbedeutende Spielfigur zu werden. So als wäre er in den unterirdischen Fluss in der Stadt Yanhui gefallen, und wäre hilflos von der Strömung mitgerissen worden.

Aber die Zufriedenheit und die Freuden der letzten Wochen, diese Fassade des Friedens, hatten seine Augen geblendet. Er war gierig geworden und wollte ein wenig für sich behalten. Er hatte andere und sich selbst belogen und sich geweigert, darüber nachzudenken, was als Nächstes passieren würde.

Was willst du überhaupt?, fragte sich Chang Geng? Du erhoffst dir einfach zu viel.

Aber er war von Natur aus gutmütig, und ganz gleich, welche Stürme in seinem Herzen tobten, sagte er kein Wort zu dem weißhaarigen Haushälter vor ihm.

Der alte Haushälter fragte erschrocken: „Eure Hoheit ...?“

Chang Geng nahm ihm schweigend die Vase aus der Hand, zupfte vorsichtig die abgebrochenen Stiele der Zweige ab und stellte das Arrangement auf Gu Yuns Schreibtisch. Er sagte leise: „Ich danke Ihnen.“

Dann drehte er sich um und ging.

Kaum war Chang Geng aus Gu Yuns Zimmer verschwunden, begann er zu rennen und ließ die Schwerttrainingspuppe zurück.

Chang Geng ging an Ge Pangxiao vorbei, der mit einem violettem Goldtank, den er von wer weiß, woher abgenommen hatte, nach draußen ging. „Hey, Dage ...“, rief er verwirrt.

Chang Geng tat so, als ob er ihn nicht gehört hätte. Er fegte wie ein Sturmwind an ihm vorbei und stürmte in sein eigenes Zimmer, wo er die Tür hinter sich verschloss.

Was Gu Yun an diesem Jungen am meisten gefiel, war, dass Chang Geng, selbst wenn er von Wut überwältigt war, diese nie an Unbeteiligten ausließ. Xiu-Niang hatte einen unbestreitbaren Beitrag zu dieser Tugend geleistet —— die ständigen Misshandlungen, denen sie ihn über ein Jahrzehnt lang ausgesetzt hatte, hatten seine erstaunliche Beherrschung geschärft. Aber das Wu'ergu, das seit seiner Kindheit in seinem Körper lauerte, wuchs wie eine Pflanze, die mit Gift begossen werden musste. Jetzt begann es ganz langsam, mit grässlichen Blumen zu blühen.

Chang Geng konnte nicht mehr atmen. Es war, als ob ein riesiger Felsbrocken seine Brust zerdrückte, alle Muskeln in seinem Körper verkrampften sich wie rostige Eisenmaschinen. Seine Unterschenkel begannen zu zittern.

Seine Ohren klingelten, und er stellte mit Schrecken fest, dass ein geheimnisvolles, heftiges Gefühl in seiner Brust aufstieg. Unbewusst ballte er die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel knackten, und zum ersten Mal hatte er das Gefühl, von einem Albtraum gepackt zu werden. Chang Geng spürte das untrügliche Gefühl einer unsichtbaren Hand, die in seiner Brust herumwühlte und versuchte, jede sanfte Emotion in seinem Herzen herauszureißen.

Zunächst war Chang Geng noch bei klarem Verstand und konnte sich ängstlich fragen: „Ist das das Wu'ergu? Was geschieht mit mir?“ Doch bald verschwand auch die Angst. Sein Geist vernebelte sich, und er verlor den Überblick, wo er sich befand. Tausende von Gedanken rauschten durch seinen Kopf wie die steigende Flut, und ein unbestimmter Blutrausch entstand aus dem Nichts. Manchmal dachte er, Gu Yun sei weg, sein Pate wolle ihn nicht mehr, aber dann sah er Gu Yun vor sich stehen, der ihn ausdruckslos dafür verhöhnte, dass er so schwach und machtlos war.

Jede negative Emotion in Chang Gengs Herz wurde durch den Angriff des Wu'ergus hundert-, sogar, tausendfach verstärkt. In dieser Qual war es, als wäre Gu Yun nicht mehr der kleine Yifu, den Chang Geng so sorgfältig in seinem Herzen aufbewahrt hatte, sondern ein Feind, den er aus tiefster Seele hasste, den er in die Hände nehmen und mit aller Kraft demütigen wollte.

Chang Gengs Hand umklammerte den zerbrochenen Pfeil, der um seinen Hals hing, und an seinen Fingern bildete sich ein blutiger Schnitt, weil er die glatt geschliffene Schneide so fest umklammerte. Der deutliche Schmerzensfunke inmitten der endlosen Taubheit rüttelte Chang Geng wach, und er folgte ihm instinktiv wie einem Leitstern. Seine Finger gruben sich in sein eigenes Fleisch und hinterließen eine Spur von groben, klaffenden Wunden in seinem Arm.

Als der Angriff des Wu'ergus schließlich langsam abebbte, hatte die Sonne bereits begonnen, sich nach Westen zu neigen.

Chang Gengs Kleidung war von kaltem Schweiß durchnässt. Seine Arme und Hände waren blutüberströmt, und er lehnte sich erschöpft gegen die Tür. Endlich hatte er die wahre Stärke des Wu'ergus kennengelernt, und erst jetzt wurde ihm klar, wie naiv er gewesen war, als er geglaubt hatte, das Wu'ergu könne ihm schlimmstenfalls Albträume bereiten.

Diesmal hatte Xiu-Niang kein Erbarmen mit ihm gehabt.

Der alte Haushälter hatte auf ihn gewartet, doch Chang Geng war so lange nicht herausgekommen und hatte nicht einmal auf ein Klopfen an der Tür reagiert. Der alte Mann hatte sich längst Sorgen gemacht, war vor der Tür auf und ab gegangen und hatte seinen Namen gerufen. Dieser Anflug von menschlichem Mitgefühl beruhigte Chang Geng ein wenig. Seine Augenlider flackerten leicht, und ein kalter Schweißtropfen kullerte von seiner Stirn hinunter und fiel auf seine Wimpern, sodass es ihm schwerfiel, die Augen zu öffnen. „Es geht mir gut, ich brauche nur etwas Zeit für mich.“

„Ihr habt den ganzen Tag noch nichts gegessen“, sagte der alte Haushälter. „Wenn der Graf hier wäre, würde er es nicht ertragen, Euch so zu misshandeln — esst wenigstens eine Schüssel Reisbrei. Soll dieser alte Diener Euch etwas bringen?“

Chang Geng war körperlich und geistig erschöpft. Bei der Erwähnung von Gu Yun grummelte er ein paar Mal vor sich hin, bevor er entschlossen die Energie aufbrachte, um zu rufen: „Onkel Wang, es ist in Ordnung. Wenn ich Hunger habe, werde ich mir heute Abend selbst etwas zu essen holen. Kümmert Euch nicht um mich.“

Obwohl seine Stimme schwach war, klang er vernünftig genug, sodass der alte Haushälter keinen guten Grund hatte, ihn weiter zu überreden. Er konnte nur Cao Niangzi und Ge Pangxiao zuwinken, die sich zusammen mit dem alten Diener, der Chang Geng normalerweise bediente, in der Nähe aufhielten. Die Gruppe ging widerwillig und blickte alle paar Schritte zurück.

Chang Geng lehnte an der geschlossenen Tür. Als er aufblickte, konnte er die Rüstung sehen, die Gu Yun am Kopfende seines Bettes hatte hängen lassen. Die Rüstung war schwarz wie Pech und kalt wie Eis und verströmte eine Aura der Feindseligkeit — und doch hatte ihr Besitzer sie dort gelassen, um seine Albträume zu vertreiben.

Er wusste nicht, wie lange er dasaß, bis das Kohlenbecken im Zimmer seinen frierenden Körper endlich wärmte. Als Chang Geng wieder zu Kräften gekommen war, erhob er sich, um das Chaos, das er angerichtet hatte, aufzuräumen. Er zog sich um, holte eine medizinische Salbe, die ihm sein Shifu gegeben hatte, als er sich eines Tages beim Training mit dem Schwert verletzt hatte, und trug sie sorgfältig auf, nachdem er seine Wunden gereinigt hatte. Er nahm Gu Yuns Panzer vom Kopfende des Bettes herunter und drückte sie an seine Brust, dann ließ er sich zurück auf sein Bett fallen.

Er weinte nicht.

Vielleicht hatte er nicht die Kraft dazu, oder vielleicht lag es daran, dass er gerade geblutet hatte. Wenn man sich entschieden hat, Blut zu vergießen, kann man oft keine Tränen vergießen — es gibt nicht so viel Wasser im Körper, und das muss Vorrang haben.

Chang Geng hatte soeben einen Feind getroffen, mit dem er ein Leben lang verbunden sein sollte. Er hatte die Stärke seines Gegners am eigenen Leib erfahren und eine vernichtende Niederlage erlitten. Aber merkwürdigerweise hatte er keine Angst. Es war genau wie damals in der Stadt Yanhui, als er in Xiu-Niangs Zimmer ganz allein einem Barbarenkrieger gegenübergestanden hatte. Er war sanftmütig, aber nichts konnte ihn bezwingen.

Oh ... abgesehen von Gu Yun.

Chang Geng dachte erschöpft: Ich hasse Gu Yun abgrundtief, bis zum Tod.

Er versuchte, Gu Yuns Rüstung auf seine eigenen Schultern zu legen. Er hatte noch nie eine Rüstung getragen, also wusste er nicht, ob sie passte oder nicht, nur dass sich diese Dinger noch schwerer anfühlten, als er erwartet hatte, wenn sie an seinen Körper gedrückt wurden. Er schlief ein, während er die Rüstung trug — schließlich warteten in seinen Träumen noch unzählige Schwierigkeiten und Hindernisse auf ihn.

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Am nächsten Tag verkündete Chang Geng, dass er hinausgehen würde.

Das ganze Anwesen war schockiert — die Szene, in der Marschall Gu den vierten Prinzen auf seinen Schultern trug, um ihn in der Silvesternacht aus dem Haus zu zerren, war allen noch frisch im Gedächtnis geblieben.

Die genauen Worte von Gu Yun waren gewesen: ‘Haltet ihn drei bis fünf Tage auf. Bis dahin werden wir die Sieben Pässe überquert und die Nordgrenze erreicht haben. Er wird mich dann nicht mehr einholen können, also wird er sich beruhigen.‘

Aber es waren noch keine drei bis fünf Tage vergangen. Aus Angst, dass Chang Geng ihm befehlen würde, die Pferde vorzubereiten und die Verfolgung aufzunehmen, sagte der alte Haushälter vorsichtig: „Eure Hoheit, das Schwarze Eisenbataillon ist keine gewöhnliche Truppe von Soldaten. Sie sind schnell zu Fuß unterwegs, und selbst das beste Pferd könnte sie nicht überholen. Und ... die Armee lässt keine Zivilisten zu. Das war eine Regel des ehemaligen Grafen, wisst Ihr ...“

„Onkel Wang“, erwiderte Chang Geng gleichmäßig, „ich habe nicht die Absicht, ihm hinterherzulaufen und Ärger zu machen. Ich bin kein ungehorsames Kind.“

„Wo wollt Ihr dann hin ...“

„Ich möchte den Nationalen Tempel besuchen und den Großen Meister Liao Ran aufsuchen. Ich habe ihm gesagt, dass ich kommen werde.“

Der Gesichtsausdruck des alten Haushälters wurde wieder einmal kompliziert. Wenn der Marschall nach Hause käme und feststellen müsste, dass der kleine Prinz während seiner Abwesenheit zum Verräter geworden und ins Kloster geflüchtet war ... er wagte sich kaum vorzustellen, wie Gu Yun reagieren würde. War das nicht praktisch dasselbe, wie betrogen zu werden?

Aber das Dringendste war im Moment, den Patensohn des Grafen aufzuheitern. Der alte Haushälter konnte nichts tun, also biss er die Zähne zusammen und ließ es zu, dass eine Reihe von Wachen den Jungen zum Nationalen Tempel begleiteten, als ob sie sich auf einen Krieg vorbereiten würden.

Es war, als wollten sie die Mönche zu einer Schlacht herausfordern.

Liao Ran hatte bereits Tee gekocht und schien nicht im Geringsten überrascht, Chang Geng zu sehen, als hätte er seine Ankunft schon lange erwartet. Er lud ihn freundlich ein, sich zu setzen, schenkte ihm einen Becher Tee ein und ließ seinen Novizen einen Pinsel, Papier und einen Feueranzünder holen, um die Reste zu entsorgen und sich auf eine lange Diskussion vorzubereiten. Es war kaum einen halben Monat her, dass sie sich getroffen hatten, aber Liao Ran stellte fest, dass die Verwirrung und Unruhe zwischen den Augenbrauen des jungen Mannes verflogen war. Er trug sich mit einer würdevollen Gelassenheit und Entschlossenheit, wie eine Puppe, die sich auf dem Weg der Metamorphose zum Schmetterling aus der ersten Schicht ihrer Puppe befreit hat.

Chang Geng bedankte sich höflich, nahm den Tee entgegen und nahm einen Schluck, um ihn dann fast wieder auszuspucken.

Bei ihrer letzten Begegnung hatte dieser Mönch ihm gesagt, dass er im Tempel mit gutem Tee willkommen heißen würde. Das musste nur eine nette Bemerkung gewesen sein, denn das Zeug, das er aufgebrüht hatte, war wie kein Tee, den Chang Geng je zuvor gekostet hatte. Er war so bitter, dass er auf der Zunge schmerzte, und er hatte nichts von dem Duft eines Tees.

„Was ist das?“

Liao Ran schrieb mit einem Lächeln: Kuding. Er klärt die Augen und fördert die Durchblutung. Er kann auch Angstgefühle lindern und den Schlaf fördern.

Chang Geng überlegte einen Moment und sagte dann: „Ist das nicht das Gleiche wie Gualu? Ich habe es schon einmal im Grafen-Anwesen gegessen, ich glaube, mich zu erinnern ...“

Dass es nicht ganz so ekelhaft war.

Liao Ran strich mit dem Pinsel über das Papier: Das ist die Sorte mit den kleinen Blättern. Die Sorte mit den großen Blättern ist Gualu.

‘Große Blätter‘ klang ziemlich beeindruckend, und Chang Geng wollte sie gerade in diesem Sinne loben, als der Mönch seine Ehrlichkeit zeigte und weiterschrieb: Die Sorte mit großen Blättern ist billiger.

Chang Geng fiel nichts ein, was er hätte sagen können.

Er betrachtete die Teebecher des Mönchs. Der Becher waren von guter Qualität, und sie war sehr sauber gewaschen worden, aber sie waren unweigerlich mit der Zeit abgenutzt. Nicht wenige von ihnen waren am Rande angeschlagen.

Der Tempel dieses Mönchs ist einfach und grob. Ich bitte Eure Hoheit um Verzeihung, schrieb Liao Ran.

In den Augen von Chang Geng war die gesamte Hauptstadt fantastisch dekadent. Jeder schien reich zu sein, und die ganze Stadt war voll von extravaganten Vergnügungen. Die Westler sagten, die Hauptstadt von Groß-Liang sei mit vergoldeten Kacheln gepflastert, und das war nicht weit von der Wahrheit entfernt. Aber aus irgendeinem Grund waren alle Leute, die Chang Geng kannte, pleite. Shen Yi hatte das bittere Melonengesicht von jemandem, dessen Familie jahrzehntelang arme Bauern gewesen waren. Und Gu Yun hatte ein ganzes Anwesen, aber das war nur eine leere Hülle. Ganz zu schweigen davon, dass er Chang Geng am Neujahrsmorgen so eifrig in den Palast geschleppt hatte, um den Kaiser zu bespaßen. Und nun saß er vor Liao Ran, der Tee in Bechern und Knabbereien in Schalen servierte.

„Der Nationale Tempel erhält viele Opfergaben, doch der große Meister begnügt sich mit Einfachheit. Ihr seid wahrlich jemand, der einen Weg kultiviert, der über weltlichen Belangen steht.“

Liao Ran lächelte und schrieb: Dieser Mönch ist durch die ganze Welt gewandert und hat sich an die Armut gewöhnt. Ich entschuldige mich dafür, dass ich einen ehrenwerten Gast schlecht behandelt habe.

„Ich habe gehört, dass Ihr auf den eisernen Drachen in fremde Länder des Westens geflogen seid. Seid Ihr gegangen, um buddhistische Lehren zu verbreiten?“, fragte Chang Geng.

Meine Talente sind gering und mein Wissen ist oberflächlich. Ich wage es nicht, die bedeutenden Wandermönche der Vergangenheit nachzuahmen. Ich reise nur, um die Welt und ihre Menschen zu sehen, schrieb der Mönch.

Chang Geng nahm einen weiteren Schluck Kuding und stellte fest, dass er immer bitterer wurde, je länger er ihn probierte, und keinen süßen Nachgeschmack mehr hatte. Enttäuscht schluckte er ihn hinunter. „Ich bin in einer kleinen Grenzstadt aufgewachsen und habe die kleinen Grenzen nie überschritten. Nachdem ich in die Hauptstadt gekommen war, verließ ich das Grafen-Anwesen nur noch selten. Vielleicht war ich in meiner kleinen Ecke der Welt zu zufrieden. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass alle Freuden und Sorgen der Welt ungefähr gleich sind, und wenn ich die der anderen mit einbeziehen würde, hätte ich keinen Platz für meine eigenen.“

Wenn Euer Herz nur eine Ecke enthält, schrieb Liao Ran, müssen Sorgen von der Größe eines Hauses in eine Ecke gequetscht werden. Wenn Euer Herz so groß ist wie die Welt, sind Sorgen von der Größe eines Berges nicht mehr als ein Tropfen im Ozean.

Chang Geng sah lange Zeit erstaunt zu, wie Liao Ran die gebrauchten Papierbögen nacheinander in die Feuerstelle legte und zu Asche verbrannte.

„Großer Meister, an jenem Tag sagtet Ihr zu mir: 'Wer kein Leiden kennt, glaubt an keinen Gott oder Buddha.' Nun habe ich Leid erfahren und bin gekommen, um die Lehre Buddhas zu hören. Darf ich Sie bitten, mir den richtigen Weg zu zeigen?“

 

 

Erklärungen:

Komturprinz, 郡王. Ein Adelstitel, der sowohl Mitgliedern der königlichen Familie als auch vertrauenswürdigen Beamten verliehen werden konnte. Sie herrschten über Komtureien, die eine Art Verwaltungsregion ähnlich den Landkreisen waren.

Ein Shifu ist eine Anrede für eine/n Lehrer/in oder Meister/in der eigenen Schule. Geschlechtsneutral.




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2 Kommentare:

  1. oh weh was tut er im nur an und jetzt schlägt das wu`geru auch noch sehr stark zu. ob sie das merken werden das er verletzt ist. wenn er die lehre des buddas lernt ist er ein verräter oder war das nur symbolisch gemeint weil gu keine mönche mag. was wird den woll noch passieren. also der tee ist teuer und schmeckt im gar nicht. freu mich wenns weiter geht.

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    1. Ich fand Gu Yuns Tat einfach nur feige, sich ohne ein Wort des Abschieds zu gehen. Erst recht, wenn man bedenkt, dass sie sich erst in ein paar Jahren wieder sehen könnten. Immerhin ist er einer so hohen militärischen Position, dass er eigentlich permanent gebraucht wird. Zu gehen, ohne Tschüss oder dergleichen zu sagen, ist auch Chang Geng gegenüber extrem unfair.
      Der Wu'ergu-Angriff ist echt heftig und im Prinzip nur Gu Yuns Schuld. Armer Chang Geng da wird er in seiner Kindheit mit einem Fluch belegt und muss damit klarkommen, ohne so recht zu wissen wie schade nur das er sich nicht traut, jemanden davon zu erzählen.
      Gu Yun ist aber auch selber schuld, wenn Chang Geng ein Mönch werden sollte. Vielleicht wird es Chang Geng ja doch noch und wen es auch nur ist, damit sein Yifu ihm endlich mal her Aufmerksamkeit schenkt. XD
      Ich mag sowieso kein Tee, allerhöchstens Früchtetee, also mir Kräutertees oder so kannst du mich jagen. Nope, sag ich da.

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