Kapitel 42 ~ Der Beginn des Chaos

Die Leibwächter von Kuai Lantu befolgten den Befehl, der südlichen Grenzarmee Platz zu machen, aber sie zogen ihre Waffen nicht. Sie ließen Fu Zicheng passieren, während er einen mit Klingen besetzten Pfad bestieg und somit den Berg erklomm. Auch der Bandit Fu gab sich keine Mühe mehr, subtil vorzugehen. Er führte mehr als hundert seiner Elitesoldaten mit sich, jeder Einzelne bis an die Zähne bewaffnet. Sie marschierten in zwei langen Kolonnen und zückten ihre Klingen, um die sie flankierenden Leibwächter abzuwehren.

Auf dem ganzen Weg nach oben prallten beide Seiten aufeinander, Fu Zhicheng biss die Zähne zusammen und drängte sich inmitten des Lärms von Metall auf Metall durch. Er sah nicht so aus, als wolle er um Vergebung bitten, sondern, als wolle er Gu Yun verhaften und verhören.

Die verbliebenen Soldaten der südlichen Grenzarmee umringten den Aprikosenhain wie eine massive Steinmauer und starrten bedrohlich zum Gipfel des Berges hinauf. Kuai Lantu klappte die Kinnlade herunter. Eine solche Dreistigkeit hatte er von Fu Zhicheng nicht erwartet ‒ dieser Mann machte nicht einmal die einfachsten Anstandsregeln, bevor er mit gezogenen Waffen direkt auf sie zustürmte und die Anwesenheit des Grafen des Friedens völlig außer Acht ließ.

Fu Zhicheng stürmte wie ein wilder Sturm den Berg hinauf und erschien auf dem Gipfel in einem Schwall von Blutrausch. Sun Jiao, der als Wachhund fungierte, trug die Hauptlast seines ersten Angriffs und trat bei seinem hastigen Rückzug versehentlich auf einen der gefesselten Banditen, die am Boden lagen. Der Bandit jaulte auf, und die Heftigkeit dieses Schreis ließ das Paar Essstäbchen, das der Vizemininster Sun als Beine benutzte, vor Angst schwach werden. Fu Zhicheng hatte seinen Mund noch nicht geöffnet, aber die Gegenseite hatte bereits ein Opfer zu beklagen.

Chang Geng schaute mit großem Interesse vom Dachboden herab. „Jetzt erinnere ich mich“, sagte er zu dem verblüfften Shen Yi.

Shen Yi spitzte die Ohren.

„Die jüngere Schwester des Vizeministers Sun aus der ersten Ehe seines Vaters heiratete den kaiserlichen Onkel Wang als dessen zweite Frau, nachdem dieser zum Witwer geworden war ... Tsk, was denkt sich der Kaiser dabei, den Schwager seines Onkels in das Kriegsministerium zu lassen? Ist es nicht eher eine Strafe als eine Belohnung, wenn der Mann sich den ganzen Tag mit einem Haufen unzufriedener Generäle herumschlagen muss?“

„Eure Hoheit“, fragte Shen Yi vorsichtig, „Ihr sagtet vorhin, der Marschall sei vielleicht nicht darauf aus, Fu Zhicheng zu retten. Könntet Ihr mich bitte aufklären?“

Chang Geng warf ihm einen Seitenblick zu. „Warum sollten wir sonst in dieser Banditenfestung bleiben? Wenn es ihm am Herzen läge, Fu Zhicheng zu schützen, wäre er bereits zum südlichen Grenzlager geeilt, um ihn zu verhören.“

Shen Yi schwieg. Ehrlich gesagt, hatte er sich auch über Gu Yuns Entscheidung gewundert, aber er war es gewohnt, Gu Yun seit vielen Jahren bedingungslos zu vertrauen. Er hatte gedacht, Gu Yun hätte noch eine andere Karte im Ärmel.

„Ich vermute, dass Yifu, als er diese gesetzlosen Banditen sah, die uns den Weg versperrten, bereits begann, das Für und Wider abzuwägen. Wäre Fu Zhicheng persönlich erschienen, um seine Verbrechen zu gestehen, hätte Yifu vielleicht erwogen, ihn aus Respekt vor seiner jahrelangen Arbeit und seinen Diensten freizulassen, aber jetzt ...“ Chang Geng gluckste. „Es ist kein Verbrechen, gierig, gerissen oder sogar dumm zu sein. Aber Fu Zhicheng hätte das Schwarze Eisenbataillon niemals offen herausfordern dürfen.“

Das Schwarze Eisenbataillon war das Ergebnis von drei Generationen mühsamer Arbeit. Unabhängig davon, ob die wahre militärische Macht der Nation in den Händen des Kaisers oder Gu Yuns lag, war jeder Tag, an dem der Ruhm des Schwarzen Eisenbataillons anhielt, ein weiterer Tag, an dem Groß-Liang zumindest ein oberflächliches Maß an Sicherheit bewahrte. Eine öffentliche Herausforderung des Schwarzen Eisenbataillons war ein Versuch, das Fundament der Nation zu erschüttern. Allein das war für Gu Yun unerträglich.

Unten starrte Fu Zhicheng Gu Yun schweigend an. Es schien, als ob er noch einen Funken Verstand besaß, denn er steckte sein Schwert wieder in die Scheide und verbeugte sich. „Es ist viele Jahre her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich bin froh, Marschall Gu nach all der Zeit wohlbehalten wiederzusehen.“

Als Fu Zhicheng sich verbeugte, legten seine Wachen ihre eigenen Waffen ab und formierten sich hinter ihm zu einer loyalen Wand aus Fleisch. Die Spannung im Raum löste sich schlagartig. Kuai Lantu und Sun Jiao jubelten innerlich ‒ Gu Yun hierher zu bringen, war schließlich die richtige Entscheidung gewesen.

Doch nachdem sie Gu Yun einen Moment lang beobachtet hatten, wie er Fu Zhicheng anstarrte, hatten sie seine nächsten Worte nicht erwartet.

„Ich bin nicht ganz sicher gewesen. General Fu, Generalinspektor Kuai hat mich soeben darüber informiert, dass Sie als Gouverneur des Südwestens mit den hiesigen Banditen zusammenarbeiten und sich mit fremden Nationen im Süden verbündet haben, und zwar in der klaren Absicht, Hochverrat zu begehen. Was haltet Ihr davon?“

Niemand hatte erwartet, dass Gu Yun noch unverblümter sein würde als Fu Zhicheng. Da die südliche Grenzarmee an die Tore des Berges klopfte, nahm er kein Blatt vor den Mund, sondern verhörte den Mann direkt. Die Atmosphäre verdichtete sich erneut.

Oben auf dem Dachboden jedoch war Chang Geng entspannt. Er schien den Bogen, den Gu Yun ihm geschenkt hatte, sehr zu mögen. Er wog mehrere Dutzend Kilogramm, doch er hatte ihn nicht eine einzige Sekunde abgelegt. Er hatte ihn sich vorhin auf den Rücken geschnallt, und jetzt nahm er ihn ab, hielt ihn in den Händen und wischte ihn sorgfältig mit einem Taschentuch ab, das er von wer weiß, woher hervorgeholt hatte.

Shen Yi dachte eine Sekunde lang nach. „Aber wenn er die Absicht hat, Fu Zhicheng aufzugeben, bleibt ihm dann nicht nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie Seine Majestät den Marschbefehlserlass durchsetzt?“

„General Shen“, sagte Chang Geng gelassen, „haben Sie das nicht schon einmal bedacht? Selbst die Bauern auf dem Lande wissen, dass der Erlass über die Marschbefehle, sobald er in Kraft tritt, die militärische Macht, die in Yifus Schwarzen Eisen-Tigeramulett steckt, spalten wird. Alle Regionalkommandanten sind dagegen. Warum sagt er dann kein Wort dagegen?“

„Warum?“, ertappte sich Shen Yi bei der Frage.

„Weil er mit Seiner Majestät aufgewachsen ist und die eigensinnige Natur Seiner Majestät besser versteht als jeder andere. Jeder Tag, an dem sich der Marschbefehl verzögert, ist ein Tag, an dem Seine Majestät nicht in der Lage ist, die militärische Macht der Nation persönlich zu kontrollieren, ein Tag, an dem er nicht essen und nicht schlafen kann. Sich dagegen zu wehren, würde den Konflikt am Hof nur verschärfen, und Yifu würde höchstens erreichen, dass sich Herr und Untertan gegeneinander auflehnen und niederträchtigen Charakteren die Möglichkeit geben, in seine begehrte Position zu gelangen. Er muss diesen Kompromiss schließlich eingehen; die Frage ist nur, wie ‒“

Die letzten Worte von Chang Geng wurden von einem wütenden Schrei von unten übertönt. Kuai Lantu hatte seinen Zug direkt vor Gu Yuns Augen gemacht!

Kuai Lantu war nicht so schüchtern wie Sun Jiao. In dem Moment, in dem Gu Yun sprach, wusste er, dass dies nicht gut ausgehen würde. Entweder er oder Fu Zhicheng würden heute im Aprikosenhain sterben. Die südliche Grenzarmee stand am Fuße des Berges bereit, und je mehr Worte er hier verschwendete, desto schneller würde sein Untergang kommen. Er konnte diesen Fu-Bastard genauso gut gefangen nehmen, bevor er eine Chance zum Handeln hatte.

Ganz gleich, wie viele Soldaten der südlichen Grenzarmee am Fuße des Berges warteten, wären sie ohne ihren Anführer nicht wie Lämmer, die zur Schlachtbank geführt werden? Kuai Lantu hatte einen schnellen Entschluss gefasst, der Gu Yun überrumpelte. Er zeigte auf Fu Zhicheng und rief: „Nehmt diesen Verräter fest!“

Die Leibwächter des Generalinspekteurs, die seit dem Eindringen in das Versteck der Banditen auf der Hut waren, stürmten auf seinen Befehl hin vor.

Chang Geng grinste. Er nahm einen schweren Eisenpfeil aus seinem Köcher und spannte langsam seinen Bogen, während er auf dem Dachboden stand. Eine dünne Spur von weißem Dampf zischte von der Bogenspitze und puffte gegen sein Gesicht. Während das Kondenswasser auf seiner jadefarbenen Haut abperlte, sah er noch schöner und sanfter aus.

Shen Yi war insgeheim schockiert. Dieser Bogen war speziell für Gu Yun angefertigt worden, und obwohl er mit einem Goldtank ausgestattet war, der ihm die Wirkung eines Nebensonnenbogens verlieh, war er immer noch viel zu schwer, als dass ein normaler Mensch ihn hätte ziehen können. Chang Geng war gerade einmal zwanzig Jahre alt, doch als er den Bogen spannte und zielte, waren seine Arme so ruhig wie Stein, ohne das geringste Zittern. Diese junge Hoheit hatte weit mehr getan, als sich mit seinem Kampftraining ‘auf dem Laufenden zu halten‘.

„Selbst wenn der Marschall die Absicht hätte, einen Kompromiss zu schließen“, fragte Shen Yi wagemutig, „wer würde dann an der Stelle von General Fu das Chaos an der Südlichen Grenze beseitigen?“

„Was meint Ihr?“

Shen Yi ging die Liste aller großen und kleinen Militärgeneräle durch, die im Dienst waren. „Der neu ernannte Kommandant der Armee und der Marine von Jiangnan, Zhao Youfang, ist relativ kompetent, aber abgesehen von ihm sind die anderen der Aufgabe nicht gewachsen. Es mangelt uns zwar nicht an starken Generälen, aber die Position des Oberbefehlshabers einer ganzen Region erfordert mehr als nur Kampffähigkeit. Er muss sowohl über Erfahrung als auch über eine lange Dienstzeit verfügen und sich sowohl gegen die hiesigen Machthaber als auch gegen diese nutzlosen Idioten im Kriegsministerium behaupten können. Seine Majestät kann ja wohl kaum einen Flottenkommandanten in die Gebirgszüge der Südlichen Grenze schicken, oder?“

Chang Geng lachte, aber sein Blick blieb auf die Szene unter ihm gerichtet. Fu Zhicheng würde sich nicht kampflos festnehmen lassen, der erfahrene General der Südlichen Grenze machte seinem tapferen Ruf alle Ehre. Mit einem Schwung seines Schwertes schlug er einem Mann den Kopf ab und drehte sich dann um, um sich dem Angriff einer Wache mit Schwerer Rüstung frontal zu stellen. Er machte keine Anstalten auszuweichen, sondern schwang sein Schwert, um den Angriff abzuwehren, sprang dann hoch, landete mit einem Fuß auf der Schulter der Schweren Rüstung und drehte sich in der Luft. Drei seiner Soldaten der südlichen Grenzarmee stürmten hinter ihm her, die Fersenseile, die sie bei sich trugen, schlangen sich wie Peitschen aus, um die Schwere Rüstung zwischen ihnen zu umschlingen.

Fu Zhicheng und die stählerne Maschinerie stießen ein gemeinsames Gebrüll aus. Der General nahm sein Eisenschwert in beide Hände und schlug zu, wobei die Klinge mit tödlicher Präzision den Spalt im Nacken der Schweren Rüstung fand und den Hals des darin befindlichen Soldaten durchtrennte. Die Schwere Rüstung machte einen letzten steifen Schritt und blieb dann liegen.

Erst dann begann das Blut in Strömen aus der Rüstung zu fließen.

Fu Zhicheng setzte sich auf die Schultern der Schweren Rüstung und wischte sich das Blut aus dem Gesicht, dann richtete er seinen Blick wie ein Falke auf Kuai Lantu.

Kuai Lantu wich schließlich unwillkürlich einen Schritt zurück.

In diesem Moment schoss ein Pfeil von oben herab mit einer Wucht, die ausreichte, um die Sonne zu zerschießen, und durchschlug die Luft mit einem Schrei, der durch das Banditenversteck hallte.

Fu Zhichengs Pupillen zogen sich zusammen, aber es war zu spät. Der Pfeil streifte die Spitze von Kuai Lantus schwarzem Beamtenhut und ließ ihn durch die Wucht seines Durchschlags in zwei Hälften zerspringen. Sein Haar wurde aus seinem Dutt geschüttelt und fiel wie ein ungepflegter Geist herunter. Der Pfeil hatte das Ende seines Fluges noch nicht erreicht ‒ er durchschlug die Brust der Schweren Rüstung und pulverisierte das Eisenblech auf beiden Seiten, bevor er sich ohne Schwungverlust in den Boden nagelte. Von der Wucht des Aufpralls erschüttert, stürzte Fu Zhicheng von seinem Sitzplatz.

Der Boden um die Landestelle des Pfeils explodierte und hinterließ nur eine Grube. Die drei Soldaten der südlichen Grenzarmee sprangen gleichzeitig zurück. Der Pfeil hatte sich genau an der Kreuzung ihrer Fersenseile verankert.

Die Pfeilspitze zitterte noch immer von der Wucht des Aufpralls und surrte wie ein Hornissennest.

„Wie unverschämt“, murmelte Chang Geng leise vor sich hin. Unter den schockierten Blicken aller Anwesenden zog er einen zweiten Eisenpfeil und spannte ihn in die Sehne ein. Gleichzeitig setzte er leise sein Gespräch mit Shen Yi fort. „General Shen, vergessen Sie nicht, dass es noch eine weitere Person gibt.“

Shen Yi stand noch immer unter Schock über seinen atemberaubenden Schuss. Es dauerte einige Sekunden, bis er seine Stimme wiederfand. „...Verzeiht mir, ich kann mich an niemanden mehr erinnern.“

„So nah und doch so fern.“

„Was?“, platzte Shen Yi schockiert heraus.

Die Augenwinkel von Chang Geng verzogen sich zu einem Lächeln. „Ja, ich meine Euch.“

Unten angekommen, war Gu Yuns Gesicht frei von seiner üblichen Selbstsicherheit. Seine angespannten Gesichtszüge ließen ihn besonders kalt erscheinen. „Kuai Lantu, ich wollte Euch schon lange eine Frage stellen. Woher nehmt Ihr den Mut, so viele Privatsoldaten zu befehligen?“

Kuai Lantus Gesicht war aschfahl, als das Summen des Eisenpfeils in seinem Ohr widerhallte. Da er nicht wusste, auf wessen Seite Gu Yun stand, geriet er in Panik. „M-Marschall, es gibt einige Dinge, die Sie nicht wissen. Da der Generalinspekteur von Nanzhong an der Grenze arbeitet, hat mir der Hof die Sondergenehmigung erteilt, eine Wache zum Schutz vor Aufständen des Pöbels zu unterhalten ...“

Gu Yun ließ sich nicht beirren. „Mit Ausnahme der kaiserlichen Garde Seiner Majestät ist es keiner Wache gestattet, dampfgetriebene Rüstungen mit einer größeren Feuerkraft als die der Leichten Fellkavallerie einzusetzen. Selbst die Schweren Rüstungen der kaiserlichen Garde dürfen keine Goldpanzer von mehr als sechzig Zentimetern Größe tragen. Kuai Lantu, wessen Gedächtnis lässt nach, Eures oder meines?“

Kuai Lantu zog scharf die Luft ein.

Natürlich wusste er, dass er gegen die Regeln verstieß, aber dieser Verstoß war zwar nicht geringfügig, aber auch nicht besonders schwerwiegend. Jemand könnte einen Aufstand machen und eine hässliche Anklageschrift gegen ihn verfassen, aber wenn er Fu Zhicheng ausschalten und den Weg für den Marschbefehlerlass freimachen könnte, wäre das nur eine unglückliche Fußnote zu einer großen Leistung, die schnell vergessen wäre. Jetzt, wo er so weit gekommen war, gab es kein Zurück mehr. Kuai Lantu ballte die Faust und erwiderte das Feuer mit einigen Andeutungen seinerseits. „Mein Herr, da wir einen Landesverräter vor uns haben, ist es da wirklich an der Zeit, über die Spezifikationen meines Schutzes zu streiten?“

Gu Yun runzelte leicht die Stirn, als sei er es nicht gewohnt, von Angesicht zu Angesicht zu streiten.

Kuai Lantu entging diese flüchtige Veränderung in seinem Gesichtsausdruck nicht. Jetzt, da er seine Vorsicht in den Wind geschlagen hatte, stellte Generalinspektor Kuai fest, dass der legendäre Graf von Anding gar nicht so furchterregend war ‒ er war lediglich ein junger Mann mit einem hohen Status. Was war Gu Yun ohne die Leute des ehemaligen Grafen von Anding hinter ihm?

Auf der anderen Seite brüllte Fu Zhicheng vor Wut. „Du Bastard ‒ wen nennst du einen Verräter der Nation?!“

Kuai Lantu erhob seine Stimme. „Wir sind von der Rebellenarmee umzingelt worden. Unsere einzige Möglichkeit ist es, ihren Anführer gefangen zu nehmen, bevor sie Zeit haben zu reagieren! Meine Herren, ich hoffe, Ihr werdet Eure Untergebenen kontrollieren und zeigen, dass Ihr keinen Verrat duldet!“

Fu Zhicheng war so wütend, dass er nur noch lachen konnte. Er hatte ein hässliches Gesicht, und sein Lachen ließ ihn noch mehr wie ein böser Teufel aussehen. „Mich gefangen nehmen? Das würde ich zu gern sehen!“

Fu Zhichengs Leibwächter stürmten zuerst in die Haupthalle, um die Wache des Generalinspektors in einen Nahkampf zu verwickeln. Das winzige Banditennest von Aprikosenhain war in Kürze vollgepackt mit Rüstungen und Waffen.

Warum tat Gu Yun immer noch so, als sei er feige, und sah dem Treiben nur zu? Shen Yi verstand das nicht. Das markerschütternde Getöse der Kampfschreie spornte ihn zum Handeln an, und er machte sich daran, vom Dachboden herunterzuspringen. Doch sobald er sich umdrehte, sah er den ungerührten Gesichtsausdruck des jungen Prinzen. Das Ziel seines Pfeils wich nie von Gu Yun ab. Sollte ihm jemand zu nahe kommen, würde er ihn auf der Stelle aufspießen.

„General Shen, macht Euch keine Sorgen. Ich behalte die Dinge im Auge.“ In der Stimme von Chang Geng lag eine subtile, aber unzweifelhafte Überzeugung.

Ein erschreckender Gedanke ging Shen Yi durch den Kopf: Wollte Gu Yun absichtlich das böse Blut zwischen Fu Zhicheng und Kuai Lantu entfachen, um durch die Hand eines anderen zu töten? Und bevor Shen Yi es selbst herausgefunden hatte, hatte der vierte Prinz es bereits durchschaut?

„Wenn Fu Zhicheng heute gefangen genommen wird, wird der Posten des Kommandanten der Südlichen Grenze frei“, sagte Chang Geng ruhig. „Seine Majestät mag stur sein, aber er weiß, wo seine Prioritäten liegen. Eine so wichtige Region wie die Grenze braucht einen hochrangigen Offizier, der sie bewacht, und bei Hofe gibt es niemanden, der dafür besser geeignet wäre als Sie, General Shen.

Seine Majestät untergräbt die militärische Macht meines Yifu nur, weil seine Paranoia zu tief sitzt. Es besteht noch immer Zuneigung zwischen ihnen, weil sie zusammen aufgewachsen sind, und die Sicherheit Groß-Liangs ruht immer noch auf den Schultern meines Yifu. Sobald der Marschbefehlerlass in Kraft getreten ist, wird der Schwarze Eisen-Tigeramulett ein leeres Symbol sein. Ganz gleich, wer der Kommandant an der Südlichen Grenze wird, er wird nur über administrative und nicht über echte militärische Macht verfügen. Yifu hat seine Haltung bereits deutlich gemacht ‒ ist es da nicht nur recht und billig, wenn Seine Majestät seinem Marschall ein Bonbon anbietet, um den Schmerz dieser Schläge zu lindern?“

Chang Geng hielt inne, dann lächelte er. „General Shen, bedenken Sie: Auch wenn Seine Majestät mich, seinen diskontinuierlichen jüngsten Bruder, nicht sonderlich schätzt, wird er die jährliche Vergütung, die er mir gewährt, nicht um eine einzige Münze kürzen. Alles in allem ist es sogar mehr als Yifus Jahresgehalt.“

Shen Yi ließ die komplizierte Frage, wer genau der Ernährer des Grafenanwesens war, vorerst beiseite und sah Chang Geng schockiert an. Mehrere Gesichtsausdrücke flackerten über sein Gesicht. Schließlich seufzte er. „Eure Hoheit, Ihr habt Euch wirklich verändert.“

Der Teenager, den sie aus der kleinen Stadt Yanhui mitgebracht hatten, war rein und stur, er trug jede Emotion auf dem Leib. Shen Yi hatte seiner Hartnäckigkeit innerlich oft Beifall gespendet. Jedes normale Kind, das sich über Nacht von einem Landei in einen Prinzen verwandelt hätte, wäre längst von der Pracht der Hauptstadt in den Bann gezogen worden.

Aber jetzt hatte dieser junge Mann, der mitten in einer Schlacht leidenschaftlich über die Richtung der Nation zu ihm sprach, die ganze Zärtlichkeit der Jugend abgelegt. Das Ausmaß seiner Verwandlung war erschreckend.

Chang Geng antwortete nicht. In den letzten vier Jahren hatte er es nicht gewagt, auch nur einen einzigen Tag lang mit dem Training seines Körpers oder seines Geistes aufzuhören. Das lag nicht daran, dass er große Dinge erreichen wollte. Sondern weil er so schnell wie möglich stark werden wollte; stark genug, um eines Tages einen geistreichen Schlagabtausch mit dem Wu'ergu zu führen ... Stark genug, um eine bestimmte Person zu schützen.

„Die größte Schwierigkeit unseres Landes ist im Moment der Geldmangel“, sagte Chang Geng. „Obwohl unsere Häfen offen sind, unternehmen die Menschen der Zentralebene nur selten eine Seereise, und unsere Küstenverteidigung ist unzureichend. Wir sind auf die Menschen aus dem Westen angewiesen, die hin- und Herreisen und uns Handel bringen. Die Kaufleute aus dem Westen, die diese Reise unternehmen, machen den größten Gewinn, und das Silber, das in unsere Kassen fließt, reicht nicht einmal für Seine Majestät aus, um heimlich das Violette Gold der Westler zu kaufen.“

„Das ist wahr“, stimmte Shen Yi zu. „Aber das ist nur eine vorübergehende Situation. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, sie zu beheben.“

Chang Geng lachte. „Das ist richtig. In diesem Frühjahr habe ich die Seidenstraße besucht. Der Eingang zur Seidenstraße in Loulan ist so wohlhabend, dass es einen mit Ehrfurcht erfüllt. Und als ich daran dachte, wie mein Yifu dieses Wachstum mit seinen eigenen Händen gefördert hat, wurde auch ich von Stolz erfüllt. In spätestens drei Jahren wird die Seidenstraße vollständig angeschlossen sein und sich über die gesamte Breite Groß-Liangs erstrecken. Sobald das einfache Volk vom Handel profitiert, werden Gold und Silber in die Staatskasse fließen. Das Lingshu-Institut wird sich nicht mehr um die Finanzierung sorgen müssen, es wird reichlich Geld für die Besoldung des Militärs vorhanden sein, und wer würde mit einer starken Armee eine Invasion wagen? Bis dahin wird es meinem Yifu egal sein, wer das Sagen hat, er selbst oder das Kriegsministerium.“

Shen Yi verstummte. Er verstand nicht, wie Chang Geng Gu Yun nach einer vierjährigen Trennung besser verstehen konnte als zuvor. Alles, was er sagte, war wahr.

Vor ein paar Jahren hatte Gu Yun noch vor Blutrausch gestunken und immer davon gesprochen, wie er diesen oder jenen Menschen verprügeln würde. Doch seit er das Kommando über die Seidenstraße übernommen hatte, sagte er diese Dinge nicht mehr so oft. Zu einem Teil lag es daran, dass er mit zunehmendem Alter mehr nachdachte und weniger die Beherrschung verlor ... zum anderen lag es aber auch daran, dass Gu Yun sich nie an die militärische Macht klammern wollte ‒ was hatte es für einen Sinn, so herumzuprahlen?

Das Einzige, was er im Leben wollte, war Frieden für sein Land.

Wenn dies im Kampf erreicht werden könnte, würde er seine Rüstung anlegen. Aber wenn es nur um die Verteidigung ging, war er auch bereit, ein armer und bescheidener Wächter entlang der Handelswege zu werden.

Als er Shen Yi gedankenverloren beobachtete, erinnerte sich Chang Geng daran, dass er einmal gehört hatte, dass sich niemand zwischen einen General und seinen Mechaniker stellen konnte ‒ so groß waren das Vertrauen und das Verständnis zwischen ihnen. Ein Hauch von saurem Neid beschlich sein Herz. Doch bevor er diesen Essig zu Ende brauen konnte, flatterte ein Vogel auf der Fensterbank. Chang Geng schreckte auf, dann legte er Pfeil und Bogen beiseite. Gehorsam flog der Vogel herbei und setzte sich auf seine Handfläche.

Bei näherer Betrachtung war er aus Holz, aber sehr naturgetreu gebaut. Die Bewegungen seines Halses waren niedlich und geschickt, nicht unähnlich einem lebenden Wesen.

Shen Yi war ein ehemaliges Mitglied des Lingshu-Instituts, und das Jucken seiner Hände beim Anblick von Maschinen war ein chronischer Zustand. Als er den Vogel sah, traten ihm fast die Augen aus dem Kopf. Er zappelte fast vor Gier, hatte aber keinen guten Grund, Chang Geng um die kleine Maschine zu bitten. Chang Geng klopfte leicht in einem bestimmten Rhythmus auf den Bauch des Vogels, woraufhin sich die Platte öffnete und eine Papierrolle zum Vorschein kam.

Als Chang Geng den Inhalt las, veränderte sich die unbewegliche Ruhe auf seinem Gesicht.

„Was ist das?“

Unten bemerkte Gu Yun aus dem Augenwinkel einen Lichtblitz. Er hob seinen Arm und legte seine Hand, schlank und schön wie die eines edlen Sohnes, auf das Schwert, das an seiner Taille hing.

Ein kleiner Soldat der südlichen Grenzarmee war aufgesprungen und stürzte sich auf Kuai Lantu. Gu Yuns Schwarze Eisenwächter eilte ihm zu Hilfe, doch bevor Kuai Lantu reagieren konnte, öffnete der Soldat seinen Mund und spuckte etwas aus. Der Generalinspekteur drehte sich um, um auszuweichen, und sein Instinkt schlug Alarm ‒ aber es war zu spät. Ein Pfeil von der Größe eines Fingers bohrte sich in seinen Hals. Gleichzeitig schlug das Schwert des Schwarzen Eisenwächters auf den Kopf des südlichen Grenzsoldaten ein, als hätte der Mann den Pfeil, der auf Generalinspektor Kuai zuflog, gar nicht gesehen.

Kuai Lantus Kehle zuckte, und er hob die Hände, als wolle er nach etwas greifen ‒ doch im Bruchteil einer Sekunde hatten sowohl der Attentäter als auch das Ziel ihr Leben verloren.

Sun Jiao hatte mit diesem Missgeschick nicht gerechnet. Er wich zurück und prallte wie versteinert gegen die Wand hinter ihm.

Dann brach mit einem himmelweiten Schrei die halbe Decke des Banditennestes auf. Unzählige Schwarze Falken stürzten sich auf die Szene.

Kuai Lantu und Sun Jiao hatten den Plan gefasst, Gu Yun zu benutzen, um Fu Zhicheng zu einer Rebellion zu zwingen, aber Gu Yun hatte sich geweigert, ihren Plänen zu folgen. Er hatte den Konflikt verschärft, bevor sie ihren Zug machen konnten, Fu Zhicheng dazu gebracht, Kuai Lantu zu töten, und das Schwarze Eisenbataillon aufgestellt, das irgendwie die Südliche Grenze infiltriert hatte, um mit Fu Zhicheng fertig zu werden. Er hatte seine Truppen aus gutem Grund eingesetzt und zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen ...

Aber irgendetwas stimmte nicht!

Chang Geng stürzte vom Dachboden herunter. Die Sache war noch nicht vorbei!

Jetzt, wo er darüber nachdachte ‒ derjenige, der das alles ausgelöst hatte, war nicht Kuai Lantu, das Kriegsministerium, Sun Jiao oder gar Gu Yun ...

 

 

 

Erklärungen:

Essig zu Ende brauen konnte: Essig zu trinken wird als Slangausdruck für Eifersucht verwendet, meist im Zusammenhang mit romantischen Beziehungen.




⇐Vorheriges Kapitel   Nächstes Kapitel⇒

GLOSSAR und die Welt von Stars of Chaos

2 Kommentare:

  1. Ein guter Punkt um auf das nächste Kapitel zu warten. Chang Geng und Gu Yun sind mir ehrlich ans Herz gewachsen

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Wie gut, dass das nächste Kapitel schon da ist. Es freut mich, dass dir die Charaktere schon an Herz gewachsen sind, ich finde diese Charakterzusammenstellung harmoniert sehr gut und macht sehr viel aus.

      Löschen