Die Leibwächter von Kuai Lantu befolgten den Befehl, der südlichen Grenzarmee Platz zu machen, aber sie zogen ihre Waffen nicht. Sie ließen Fu Zicheng passieren, während er einen mit Klingen besetzten Pfad bestieg und somit den Berg erklomm. Auch der Bandit Fu gab sich keine Mühe mehr, subtil vorzugehen. Er führte mehr als hundert seiner Elitesoldaten mit sich, jeder Einzelne bis an die Zähne bewaffnet. Sie marschierten in zwei langen Kolonnen und zückten ihre Klingen, um die sie flankierenden Leibwächter abzuwehren.
Auf dem ganzen Weg nach oben prallten beide Seiten
aufeinander, Fu Zhicheng biss die Zähne zusammen und drängte sich inmitten des
Lärms von Metall auf Metall durch. Er sah nicht so aus, als wolle er um
Vergebung bitten, sondern, als wolle er Gu Yun verhaften und verhören.
Die verbliebenen Soldaten der südlichen Grenzarmee
umringten den Aprikosenhain wie eine massive Steinmauer und starrten bedrohlich
zum Gipfel des Berges hinauf. Kuai Lantu klappte die Kinnlade herunter. Eine
solche Dreistigkeit hatte er von Fu Zhicheng nicht erwartet ‒ dieser Mann
machte nicht einmal die einfachsten Anstandsregeln, bevor er mit gezogenen
Waffen direkt auf sie zustürmte und die Anwesenheit des Grafen des Friedens
völlig außer Acht ließ.
Fu Zhicheng stürmte wie ein wilder Sturm den Berg hinauf
und erschien auf dem Gipfel in einem Schwall von Blutrausch. Sun Jiao, der als
Wachhund fungierte, trug die Hauptlast seines ersten Angriffs und trat bei
seinem hastigen Rückzug versehentlich auf einen der gefesselten Banditen, die
am Boden lagen. Der Bandit jaulte auf, und die Heftigkeit dieses Schreis ließ
das Paar Essstäbchen, das der Vizemininster Sun als Beine benutzte, vor Angst
schwach werden. Fu Zhicheng hatte seinen Mund noch nicht geöffnet, aber die
Gegenseite hatte bereits ein Opfer zu beklagen.
Chang Geng schaute mit großem Interesse vom Dachboden
herab. „Jetzt erinnere ich mich“, sagte er zu dem verblüfften Shen Yi.
Shen Yi spitzte die Ohren.
„Die jüngere Schwester des Vizeministers Sun aus der ersten
Ehe seines Vaters heiratete den kaiserlichen Onkel Wang als dessen zweite Frau,
nachdem dieser zum Witwer geworden war ... Tsk, was denkt sich der
Kaiser dabei, den Schwager seines Onkels in das Kriegsministerium zu lassen?
Ist es nicht eher eine Strafe als eine Belohnung, wenn der Mann sich den ganzen
Tag mit einem Haufen unzufriedener Generäle herumschlagen muss?“
„Eure Hoheit“, fragte Shen Yi vorsichtig, „Ihr sagtet
vorhin, der Marschall sei vielleicht nicht darauf aus, Fu Zhicheng zu retten.
Könntet Ihr mich bitte aufklären?“
Chang Geng warf ihm einen Seitenblick zu. „Warum sollten
wir sonst in dieser Banditenfestung bleiben? Wenn es ihm am Herzen läge, Fu Zhicheng
zu schützen, wäre er bereits zum südlichen Grenzlager geeilt, um ihn zu
verhören.“
Shen Yi schwieg. Ehrlich gesagt, hatte er sich auch über Gu
Yuns Entscheidung gewundert, aber er war es gewohnt, Gu Yun seit vielen Jahren
bedingungslos zu vertrauen. Er hatte gedacht, Gu Yun hätte noch eine andere
Karte im Ärmel.
„Ich vermute, dass Yifu, als er diese gesetzlosen Banditen
sah, die uns den Weg versperrten, bereits begann, das Für und Wider abzuwägen.
Wäre Fu Zhicheng persönlich erschienen, um seine Verbrechen zu gestehen, hätte
Yifu vielleicht erwogen, ihn aus Respekt vor seiner jahrelangen Arbeit und
seinen Diensten freizulassen, aber jetzt ...“ Chang Geng gluckste. „Es ist kein
Verbrechen, gierig, gerissen oder sogar dumm zu sein. Aber Fu Zhicheng hätte
das Schwarze Eisenbataillon niemals offen herausfordern dürfen.“
Das Schwarze Eisenbataillon war das Ergebnis von drei
Generationen mühsamer Arbeit. Unabhängig davon, ob die wahre militärische Macht
der Nation in den Händen des Kaisers oder Gu Yuns lag, war jeder Tag, an dem
der Ruhm des Schwarzen Eisenbataillons anhielt, ein weiterer Tag, an dem
Groß-Liang zumindest ein oberflächliches Maß an Sicherheit bewahrte. Eine
öffentliche Herausforderung des Schwarzen Eisenbataillons war ein Versuch, das
Fundament der Nation zu erschüttern. Allein das war für Gu Yun unerträglich.
Unten starrte Fu Zhicheng Gu Yun schweigend an. Es schien,
als ob er noch einen Funken Verstand besaß, denn er steckte sein Schwert wieder
in die Scheide und verbeugte sich. „Es ist viele Jahre her, seit wir uns das
letzte Mal gesehen haben. Ich bin froh, Marschall Gu nach all der Zeit
wohlbehalten wiederzusehen.“
Als Fu Zhicheng sich verbeugte, legten seine Wachen ihre
eigenen Waffen ab und formierten sich hinter ihm zu einer loyalen Wand aus
Fleisch. Die Spannung im Raum löste sich schlagartig. Kuai Lantu und Sun Jiao
jubelten innerlich ‒ Gu Yun hierher zu bringen, war schließlich die richtige
Entscheidung gewesen.
Doch nachdem sie Gu Yun einen Moment lang beobachtet
hatten, wie er Fu Zhicheng anstarrte, hatten sie seine nächsten Worte nicht
erwartet.
„Ich bin nicht ganz sicher gewesen. General Fu,
Generalinspektor Kuai hat mich soeben darüber informiert, dass Sie als
Gouverneur des Südwestens mit den hiesigen Banditen zusammenarbeiten und sich
mit fremden Nationen im Süden verbündet haben, und zwar in der klaren Absicht,
Hochverrat zu begehen. Was haltet Ihr davon?“
Niemand hatte erwartet, dass Gu Yun noch unverblümter sein
würde als Fu Zhicheng. Da die südliche Grenzarmee an die Tore des Berges
klopfte, nahm er kein Blatt vor den Mund, sondern verhörte den Mann direkt. Die
Atmosphäre verdichtete sich erneut.
Oben auf dem Dachboden jedoch war Chang Geng entspannt. Er
schien den Bogen, den Gu Yun ihm geschenkt hatte, sehr zu mögen. Er wog mehrere
Dutzend Kilogramm, doch er hatte ihn nicht eine einzige Sekunde abgelegt. Er
hatte ihn sich vorhin auf den Rücken geschnallt, und jetzt nahm er ihn ab,
hielt ihn in den Händen und wischte ihn sorgfältig mit einem Taschentuch ab,
das er von wer weiß, woher hervorgeholt hatte.
Shen Yi dachte eine Sekunde lang nach. „Aber wenn er die
Absicht hat, Fu Zhicheng aufzugeben, bleibt ihm dann nicht nichts anderes
übrig, als zuzusehen, wie Seine Majestät den Marschbefehlserlass durchsetzt?“
„General Shen“, sagte Chang Geng gelassen, „haben Sie das
nicht schon einmal bedacht? Selbst die Bauern auf dem Lande wissen, dass der
Erlass über die Marschbefehle, sobald er in Kraft tritt, die militärische
Macht, die in Yifus Schwarzen Eisen-Tigeramulett steckt, spalten wird. Alle Regionalkommandanten
sind dagegen. Warum sagt er dann kein Wort dagegen?“
„Warum?“, ertappte sich Shen Yi bei der Frage.
„Weil er mit Seiner Majestät aufgewachsen ist und die
eigensinnige Natur Seiner Majestät besser versteht als jeder andere. Jeder Tag,
an dem sich der Marschbefehl verzögert, ist ein Tag, an dem Seine Majestät
nicht in der Lage ist, die militärische Macht der Nation persönlich zu
kontrollieren, ein Tag, an dem er nicht essen und nicht schlafen kann. Sich
dagegen zu wehren, würde den Konflikt am Hof nur verschärfen, und Yifu würde
höchstens erreichen, dass sich Herr und Untertan gegeneinander auflehnen und niederträchtigen
Charakteren die Möglichkeit geben, in seine begehrte Position zu gelangen. Er
muss diesen Kompromiss schließlich eingehen; die Frage ist nur, wie ‒“
Die letzten Worte von Chang Geng wurden von einem wütenden
Schrei von unten übertönt. Kuai Lantu hatte seinen Zug direkt vor Gu Yuns Augen
gemacht!
Kuai Lantu war nicht so schüchtern wie Sun Jiao. In dem
Moment, in dem Gu Yun sprach, wusste er, dass dies nicht gut ausgehen würde.
Entweder er oder Fu Zhicheng würden heute im Aprikosenhain sterben. Die südliche
Grenzarmee stand am Fuße des Berges bereit, und je mehr Worte er hier
verschwendete, desto schneller würde sein Untergang kommen. Er konnte diesen
Fu-Bastard genauso gut gefangen nehmen, bevor er eine Chance zum Handeln hatte.
Ganz gleich, wie viele Soldaten der südlichen Grenzarmee am
Fuße des Berges warteten, wären sie ohne ihren Anführer nicht wie Lämmer, die
zur Schlachtbank geführt werden? Kuai Lantu hatte einen schnellen Entschluss
gefasst, der Gu Yun überrumpelte. Er zeigte auf Fu Zhicheng und rief: „Nehmt
diesen Verräter fest!“
Die Leibwächter des Generalinspekteurs, die seit dem
Eindringen in das Versteck der Banditen auf der Hut waren, stürmten auf seinen
Befehl hin vor.
Chang Geng grinste. Er nahm einen schweren Eisenpfeil aus
seinem Köcher und spannte langsam seinen Bogen, während er auf dem Dachboden
stand. Eine dünne Spur von weißem Dampf zischte von der Bogenspitze und puffte
gegen sein Gesicht. Während das Kondenswasser auf seiner jadefarbenen Haut
abperlte, sah er noch schöner und sanfter aus.
Shen Yi war insgeheim schockiert. Dieser Bogen war speziell
für Gu Yun angefertigt worden, und obwohl er mit einem Goldtank ausgestattet
war, der ihm die Wirkung eines Nebensonnenbogens verlieh, war er immer noch
viel zu schwer, als dass ein normaler Mensch ihn hätte ziehen können. Chang
Geng war gerade einmal zwanzig Jahre alt, doch als er den Bogen spannte und
zielte, waren seine Arme so ruhig wie Stein, ohne das geringste Zittern. Diese
junge Hoheit hatte weit mehr getan, als sich mit seinem Kampftraining ‘auf dem
Laufenden zu halten‘.
„Selbst wenn der Marschall die Absicht hätte, einen
Kompromiss zu schließen“, fragte Shen Yi wagemutig, „wer würde dann an der
Stelle von General Fu das Chaos an der Südlichen Grenze beseitigen?“
„Was meint Ihr?“
Shen Yi ging die Liste aller großen und kleinen
Militärgeneräle durch, die im Dienst waren. „Der neu ernannte Kommandant der
Armee und der Marine von Jiangnan, Zhao Youfang, ist relativ kompetent, aber
abgesehen von ihm sind die anderen der Aufgabe nicht gewachsen. Es mangelt uns
zwar nicht an starken Generälen, aber die Position des Oberbefehlshabers einer
ganzen Region erfordert mehr als nur Kampffähigkeit. Er muss sowohl über
Erfahrung als auch über eine lange Dienstzeit verfügen und sich sowohl gegen die
hiesigen Machthaber als auch gegen diese nutzlosen Idioten im Kriegsministerium
behaupten können. Seine Majestät kann ja wohl kaum einen Flottenkommandanten in
die Gebirgszüge der Südlichen Grenze schicken, oder?“
Chang Geng lachte, aber sein Blick blieb auf die Szene
unter ihm gerichtet. Fu Zhicheng würde sich nicht kampflos festnehmen lassen,
der erfahrene General der Südlichen Grenze machte seinem tapferen Ruf alle
Ehre. Mit einem Schwung seines Schwertes schlug er einem Mann den Kopf ab und
drehte sich dann um, um sich dem Angriff einer Wache mit Schwerer Rüstung frontal
zu stellen. Er machte keine Anstalten auszuweichen, sondern schwang sein
Schwert, um den Angriff abzuwehren, sprang dann hoch, landete mit einem Fuß auf
der Schulter der Schweren Rüstung und drehte sich in der Luft. Drei seiner
Soldaten der südlichen Grenzarmee stürmten hinter ihm her, die Fersenseile, die
sie bei sich trugen, schlangen sich wie Peitschen aus, um die Schwere Rüstung
zwischen ihnen zu umschlingen.
Fu Zhicheng und die stählerne Maschinerie stießen ein
gemeinsames Gebrüll aus. Der General nahm sein Eisenschwert in beide Hände und
schlug zu, wobei die Klinge mit tödlicher Präzision den Spalt im Nacken der Schweren
Rüstung fand und den Hals des darin befindlichen Soldaten durchtrennte. Die Schwere
Rüstung machte einen letzten steifen Schritt und blieb dann liegen.
Erst dann begann das Blut in Strömen aus der Rüstung zu
fließen.
Fu Zhicheng setzte sich auf die Schultern der Schweren
Rüstung und wischte sich das Blut aus dem Gesicht, dann richtete er seinen
Blick wie ein Falke auf Kuai Lantu.
Kuai Lantu wich schließlich unwillkürlich einen Schritt
zurück.
In diesem Moment schoss ein Pfeil von oben herab mit einer
Wucht, die ausreichte, um die Sonne zu zerschießen, und durchschlug die Luft
mit einem Schrei, der durch das Banditenversteck hallte.
Fu Zhichengs Pupillen zogen sich zusammen, aber es war zu
spät. Der Pfeil streifte die Spitze von Kuai Lantus schwarzem Beamtenhut und
ließ ihn durch die Wucht seines Durchschlags in zwei Hälften zerspringen. Sein
Haar wurde aus seinem Dutt geschüttelt und fiel wie ein ungepflegter Geist
herunter. Der Pfeil hatte das Ende seines Fluges noch nicht erreicht ‒ er
durchschlug die Brust der Schweren Rüstung und pulverisierte das Eisenblech auf
beiden Seiten, bevor er sich ohne Schwungverlust in den Boden nagelte. Von der
Wucht des Aufpralls erschüttert, stürzte Fu Zhicheng von seinem Sitzplatz.
Der Boden um die Landestelle des Pfeils explodierte und
hinterließ nur eine Grube. Die drei Soldaten der südlichen Grenzarmee sprangen
gleichzeitig zurück. Der Pfeil hatte sich genau an der Kreuzung ihrer
Fersenseile verankert.
Die Pfeilspitze zitterte noch immer von der Wucht des
Aufpralls und surrte wie ein Hornissennest.
„Wie unverschämt“, murmelte Chang Geng leise vor sich hin.
Unter den schockierten Blicken aller Anwesenden zog er einen zweiten Eisenpfeil
und spannte ihn in die Sehne ein. Gleichzeitig setzte er leise sein Gespräch
mit Shen Yi fort. „General Shen, vergessen Sie nicht, dass es noch eine weitere
Person gibt.“
Shen Yi stand noch immer unter Schock über seinen
atemberaubenden Schuss. Es dauerte einige Sekunden, bis er seine Stimme
wiederfand. „...Verzeiht mir, ich kann mich an niemanden mehr erinnern.“
„So nah und doch so fern.“
„Was?“, platzte Shen Yi schockiert heraus.
Die Augenwinkel von Chang Geng verzogen sich zu einem
Lächeln. „Ja, ich meine Euch.“
Unten angekommen, war Gu Yuns Gesicht frei von seiner
üblichen Selbstsicherheit. Seine angespannten Gesichtszüge ließen ihn besonders
kalt erscheinen. „Kuai Lantu, ich wollte Euch schon lange eine Frage stellen.
Woher nehmt Ihr den Mut, so viele Privatsoldaten zu befehligen?“
Kuai Lantus Gesicht war aschfahl, als das Summen des
Eisenpfeils in seinem Ohr widerhallte. Da er nicht wusste, auf wessen Seite Gu
Yun stand, geriet er in Panik. „M-Marschall, es gibt einige Dinge, die Sie
nicht wissen. Da der Generalinspekteur von Nanzhong an der Grenze arbeitet, hat
mir der Hof die Sondergenehmigung erteilt, eine Wache zum Schutz vor Aufständen
des Pöbels zu unterhalten ...“
Gu Yun ließ sich nicht beirren. „Mit Ausnahme der
kaiserlichen Garde Seiner Majestät ist es keiner Wache gestattet,
dampfgetriebene Rüstungen mit einer größeren Feuerkraft als die der Leichten Fellkavallerie
einzusetzen. Selbst die Schweren Rüstungen der kaiserlichen Garde dürfen keine
Goldpanzer von mehr als sechzig Zentimetern Größe tragen. Kuai Lantu, wessen
Gedächtnis lässt nach, Eures oder meines?“
Kuai Lantu zog scharf die Luft ein.
Natürlich wusste er, dass er gegen die Regeln verstieß,
aber dieser Verstoß war zwar nicht geringfügig, aber auch nicht besonders
schwerwiegend. Jemand könnte einen Aufstand machen und eine hässliche
Anklageschrift gegen ihn verfassen, aber wenn er Fu Zhicheng ausschalten und
den Weg für den Marschbefehlerlass freimachen könnte, wäre das nur eine
unglückliche Fußnote zu einer großen Leistung, die schnell vergessen wäre.
Jetzt, wo er so weit gekommen war, gab es kein Zurück mehr. Kuai Lantu ballte
die Faust und erwiderte das Feuer mit einigen Andeutungen seinerseits. „Mein
Herr, da wir einen Landesverräter vor uns haben, ist es da wirklich an der
Zeit, über die Spezifikationen meines Schutzes zu streiten?“
Gu Yun runzelte leicht die Stirn, als sei er es nicht
gewohnt, von Angesicht zu Angesicht zu streiten.
Kuai Lantu entging diese flüchtige Veränderung in seinem
Gesichtsausdruck nicht. Jetzt, da er seine Vorsicht in den Wind geschlagen
hatte, stellte Generalinspektor Kuai fest, dass der legendäre Graf von Anding
gar nicht so furchterregend war ‒ er war lediglich ein junger Mann mit einem
hohen Status. Was war Gu Yun ohne die Leute des ehemaligen Grafen von Anding
hinter ihm?
Auf der anderen Seite brüllte Fu Zhicheng vor Wut. „Du
Bastard ‒ wen nennst du einen Verräter der Nation?!“
Kuai Lantu erhob seine Stimme. „Wir sind von der
Rebellenarmee umzingelt worden. Unsere einzige Möglichkeit ist es, ihren
Anführer gefangen zu nehmen, bevor sie Zeit haben zu reagieren! Meine Herren,
ich hoffe, Ihr werdet Eure Untergebenen kontrollieren und zeigen, dass Ihr
keinen Verrat duldet!“
Fu Zhicheng war so wütend, dass er nur noch lachen konnte.
Er hatte ein hässliches Gesicht, und sein Lachen ließ ihn noch mehr wie ein
böser Teufel aussehen. „Mich gefangen nehmen? Das würde ich zu gern sehen!“
Fu Zhichengs Leibwächter stürmten zuerst in die Haupthalle,
um die Wache des Generalinspektors in einen Nahkampf zu verwickeln. Das winzige
Banditennest von Aprikosenhain war in Kürze vollgepackt mit Rüstungen und
Waffen.
Warum tat Gu Yun immer noch so, als sei er feige, und sah
dem Treiben nur zu? Shen Yi verstand das nicht. Das markerschütternde Getöse
der Kampfschreie spornte ihn zum Handeln an, und er machte sich daran, vom
Dachboden herunterzuspringen. Doch sobald er sich umdrehte, sah er den
ungerührten Gesichtsausdruck des jungen Prinzen. Das Ziel seines Pfeils wich
nie von Gu Yun ab. Sollte ihm jemand zu nahe kommen, würde er ihn auf der
Stelle aufspießen.
„General Shen, macht Euch keine Sorgen. Ich behalte die
Dinge im Auge.“ In der Stimme von Chang Geng lag eine subtile, aber
unzweifelhafte Überzeugung.
Ein erschreckender Gedanke ging Shen Yi durch den Kopf:
Wollte Gu Yun absichtlich das böse Blut zwischen Fu Zhicheng und Kuai Lantu
entfachen, um durch die Hand eines anderen zu töten? Und bevor Shen Yi es
selbst herausgefunden hatte, hatte der vierte Prinz es bereits durchschaut?
„Wenn Fu Zhicheng heute gefangen genommen wird, wird der
Posten des Kommandanten der Südlichen Grenze frei“, sagte Chang Geng ruhig. „Seine
Majestät mag stur sein, aber er weiß, wo seine Prioritäten liegen. Eine so
wichtige Region wie die Grenze braucht einen hochrangigen Offizier, der sie
bewacht, und bei Hofe gibt es niemanden, der dafür besser geeignet wäre als
Sie, General Shen.
Seine Majestät untergräbt die militärische Macht meines
Yifu nur, weil seine Paranoia zu tief sitzt. Es besteht noch immer Zuneigung
zwischen ihnen, weil sie zusammen aufgewachsen sind, und die Sicherheit Groß-Liangs
ruht immer noch auf den Schultern meines Yifu. Sobald der Marschbefehlerlass in
Kraft getreten ist, wird der Schwarze Eisen-Tigeramulett ein leeres Symbol
sein. Ganz gleich, wer der Kommandant an der Südlichen Grenze wird, er wird nur
über administrative und nicht über echte militärische Macht verfügen. Yifu hat
seine Haltung bereits deutlich gemacht ‒ ist es da nicht nur recht und billig,
wenn Seine Majestät seinem Marschall ein Bonbon anbietet, um den Schmerz dieser
Schläge zu lindern?“
Chang Geng hielt inne, dann lächelte er. „General Shen,
bedenken Sie: Auch wenn Seine Majestät mich, seinen diskontinuierlichen
jüngsten Bruder, nicht sonderlich schätzt, wird er die jährliche Vergütung, die
er mir gewährt, nicht um eine einzige Münze kürzen. Alles in allem ist es sogar
mehr als Yifus Jahresgehalt.“
Shen Yi ließ die komplizierte Frage, wer genau der Ernährer
des Grafenanwesens war, vorerst beiseite und sah Chang Geng schockiert an.
Mehrere Gesichtsausdrücke flackerten über sein Gesicht. Schließlich seufzte er.
„Eure Hoheit, Ihr habt Euch wirklich verändert.“
Der Teenager, den sie aus der kleinen Stadt Yanhui
mitgebracht hatten, war rein und stur, er trug jede Emotion auf dem Leib. Shen
Yi hatte seiner Hartnäckigkeit innerlich oft Beifall gespendet. Jedes normale
Kind, das sich über Nacht von einem Landei in einen Prinzen verwandelt hätte,
wäre längst von der Pracht der Hauptstadt in den Bann gezogen worden.
Aber jetzt hatte dieser junge Mann, der mitten in einer
Schlacht leidenschaftlich über die Richtung der Nation zu ihm sprach, die ganze
Zärtlichkeit der Jugend abgelegt. Das Ausmaß seiner Verwandlung war
erschreckend.
Chang Geng antwortete nicht. In den letzten vier Jahren
hatte er es nicht gewagt, auch nur einen einzigen Tag lang mit dem Training
seines Körpers oder seines Geistes aufzuhören. Das lag nicht daran, dass er
große Dinge erreichen wollte. Sondern weil er so schnell wie möglich stark
werden wollte; stark genug, um eines Tages einen geistreichen Schlagabtausch
mit dem Wu'ergu zu führen ... Stark genug, um eine bestimmte Person zu
schützen.
„Die größte Schwierigkeit unseres Landes ist im Moment der
Geldmangel“, sagte Chang Geng. „Obwohl unsere Häfen offen sind, unternehmen die
Menschen der Zentralebene nur selten eine Seereise, und unsere
Küstenverteidigung ist unzureichend. Wir sind auf die Menschen aus dem Westen
angewiesen, die hin- und Herreisen und uns Handel bringen. Die Kaufleute aus
dem Westen, die diese Reise unternehmen, machen den größten Gewinn, und das
Silber, das in unsere Kassen fließt, reicht nicht einmal für Seine Majestät aus,
um heimlich das Violette Gold der Westler zu kaufen.“
„Das ist wahr“, stimmte Shen Yi zu. „Aber das ist nur eine
vorübergehende Situation. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, sie zu beheben.“
Chang Geng lachte. „Das ist richtig. In diesem Frühjahr
habe ich die Seidenstraße besucht. Der Eingang zur Seidenstraße in Loulan ist
so wohlhabend, dass es einen mit Ehrfurcht erfüllt. Und als ich daran dachte,
wie mein Yifu dieses Wachstum mit seinen eigenen Händen gefördert hat, wurde
auch ich von Stolz erfüllt. In spätestens drei Jahren wird die Seidenstraße
vollständig angeschlossen sein und sich über die gesamte Breite Groß-Liangs
erstrecken. Sobald das einfache Volk vom Handel profitiert, werden Gold und
Silber in die Staatskasse fließen. Das Lingshu-Institut wird sich nicht mehr um
die Finanzierung sorgen müssen, es wird reichlich Geld für die Besoldung des
Militärs vorhanden sein, und wer würde mit einer starken Armee eine Invasion
wagen? Bis dahin wird es meinem Yifu egal sein, wer das Sagen hat, er selbst
oder das Kriegsministerium.“
Shen Yi verstummte. Er verstand nicht, wie Chang Geng Gu
Yun nach einer vierjährigen Trennung besser verstehen konnte als zuvor. Alles,
was er sagte, war wahr.
Vor ein paar Jahren hatte Gu Yun noch vor Blutrausch
gestunken und immer davon gesprochen, wie er diesen oder jenen Menschen
verprügeln würde. Doch seit er das Kommando über die Seidenstraße übernommen
hatte, sagte er diese Dinge nicht mehr so oft. Zu einem Teil lag es daran, dass
er mit zunehmendem Alter mehr nachdachte und weniger die Beherrschung verlor
... zum anderen lag es aber auch daran, dass Gu Yun sich nie an die
militärische Macht klammern wollte ‒ was hatte es für einen Sinn, so herumzuprahlen?
Das Einzige, was er im Leben wollte, war Frieden für sein
Land.
Wenn dies im Kampf erreicht werden könnte, würde er seine
Rüstung anlegen. Aber wenn es nur um die Verteidigung ging, war er auch bereit,
ein armer und bescheidener Wächter entlang der Handelswege zu werden.
Als er Shen Yi gedankenverloren beobachtete, erinnerte sich
Chang Geng daran, dass er einmal gehört hatte, dass sich niemand zwischen einen
General und seinen Mechaniker stellen konnte ‒ so groß waren das Vertrauen und
das Verständnis zwischen ihnen. Ein Hauch von saurem Neid beschlich sein Herz.
Doch bevor er diesen Essig zu Ende brauen konnte,
flatterte ein Vogel auf der Fensterbank. Chang Geng schreckte auf, dann legte
er Pfeil und Bogen beiseite. Gehorsam flog der Vogel herbei und setzte sich auf
seine Handfläche.
Bei näherer Betrachtung war er aus Holz, aber sehr
naturgetreu gebaut. Die Bewegungen seines Halses waren niedlich und geschickt,
nicht unähnlich einem lebenden Wesen.
Shen Yi war ein ehemaliges Mitglied des Lingshu-Instituts,
und das Jucken seiner Hände beim Anblick von Maschinen war ein chronischer
Zustand. Als er den Vogel sah, traten ihm fast die Augen aus dem Kopf. Er
zappelte fast vor Gier, hatte aber keinen guten Grund, Chang Geng um die kleine
Maschine zu bitten. Chang Geng klopfte leicht in einem bestimmten Rhythmus auf
den Bauch des Vogels, woraufhin sich die Platte öffnete und eine Papierrolle
zum Vorschein kam.
Als Chang Geng den Inhalt las, veränderte sich die
unbewegliche Ruhe auf seinem Gesicht.
„Was ist das?“
Unten bemerkte Gu Yun aus dem Augenwinkel einen Lichtblitz.
Er hob seinen Arm und legte seine Hand, schlank und schön wie die eines edlen
Sohnes, auf das Schwert, das an seiner Taille hing.
Ein kleiner Soldat der südlichen Grenzarmee war
aufgesprungen und stürzte sich auf Kuai Lantu. Gu Yuns Schwarze Eisenwächter
eilte ihm zu Hilfe, doch bevor Kuai Lantu reagieren konnte, öffnete der Soldat
seinen Mund und spuckte etwas aus. Der Generalinspekteur drehte sich um, um
auszuweichen, und sein Instinkt schlug Alarm ‒ aber es war zu spät. Ein Pfeil
von der Größe eines Fingers bohrte sich in seinen Hals. Gleichzeitig schlug das
Schwert des Schwarzen Eisenwächters auf den Kopf des südlichen Grenzsoldaten
ein, als hätte der Mann den Pfeil, der auf Generalinspektor Kuai zuflog, gar
nicht gesehen.
Kuai Lantus Kehle zuckte, und er hob die Hände, als wolle
er nach etwas greifen ‒ doch im Bruchteil einer Sekunde hatten sowohl der
Attentäter als auch das Ziel ihr Leben verloren.
Sun Jiao hatte mit diesem Missgeschick nicht gerechnet. Er
wich zurück und prallte wie versteinert gegen die Wand hinter ihm.
Dann brach mit einem himmelweiten Schrei die halbe Decke
des Banditennestes auf. Unzählige Schwarze Falken stürzten sich auf die Szene.
Kuai Lantu und Sun Jiao hatten den Plan gefasst, Gu Yun zu
benutzen, um Fu Zhicheng zu einer Rebellion zu zwingen, aber Gu Yun hatte sich
geweigert, ihren Plänen zu folgen. Er hatte den Konflikt verschärft, bevor sie
ihren Zug machen konnten, Fu Zhicheng dazu gebracht, Kuai Lantu zu töten, und
das Schwarze Eisenbataillon aufgestellt, das irgendwie die Südliche Grenze
infiltriert hatte, um mit Fu Zhicheng fertig zu werden. Er hatte seine Truppen
aus gutem Grund eingesetzt und zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen ...
Aber irgendetwas stimmte nicht!
Chang Geng stürzte vom Dachboden herunter. Die Sache war
noch nicht vorbei!
Jetzt, wo er darüber nachdachte ‒ derjenige, der das alles
ausgelöst hatte, war nicht Kuai Lantu, das Kriegsministerium, Sun Jiao oder gar
Gu Yun ...
Erklärungen:
Essig zu Ende brauen konnte: Essig zu trinken wird als Slangausdruck für Eifersucht verwendet, meist im Zusammenhang mit romantischen Beziehungen.
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Ein guter Punkt um auf das nächste Kapitel zu warten. Chang Geng und Gu Yun sind mir ehrlich ans Herz gewachsen
AntwortenLöschenWie gut, dass das nächste Kapitel schon da ist. Es freut mich, dass dir die Charaktere schon an Herz gewachsen sind, ich finde diese Charakterzusammenstellung harmoniert sehr gut und macht sehr viel aus.
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