Kapitel 60 ~ Kanonenfeuer

Chang Geng nahm den Militärbericht in die Hand. „Was ist mit den Überresten der Marine von Jiangnan?", fragte Gu Yun.

„Schwer zu sagen." Chang Geng überflog das Schriftstück. „Unsere Drachenkriegsschiffe sind nie aufs Meer hinausgefahren, ganz zu Schweigen davon, dass sie noch nie in eine Seeschlacht verwickelt wurden. Als Zhao Youfang fiel, gerieten die Truppen unter seinem Kommando in Panik und zerstreuten sich in alle Richtungen ‒ Yifu, erinnerst du dich, als Prinz Wei seinen bewaffneten Aufstand versuchte?"

Gu Yun kniff sich in den Nasenrücken und verstand sofort, worauf er hinauswollte. Damals hatte Prinz Wei den Kommanander der Armee und der Marine von Jiangnan mit der Hälfte seiner Truppen bestochen und eine Armee auf den Inseln in der Nähe von Dong Ying aufgestellt. Von dort aus hatte er die Hauptstadt gierig ins Visier genommen. Doch zu seiner Überraschung wurden seine Pläne durch die gemeinsamen Anstrengungen von Gu Yun und dem Linyuan-Pavillon zunichtegemacht, bevor er seine Vorbereitungen abschließen konnte. Oder besser gesagt, auf dem Papier war es eine gemeinsame Anstrengung von Gu Yun und dem Linyuan-Pavillon, aber in Wirklichkeit war Gu Yun nur von einer Handvoll Schwarzer Falken und ein paar halbwüchsigen Kindern begleitet worden. Auch der Linyuan-Pavillon hatte lediglich etwa dreißig Mitglieder der Jianghu entsandt, darunter diesen nutzlosen Mönch Liao Ran, der, nachdem er in eine Schwere Rüstung geklettert war, nicht einmal wusste, wie er wieder herausklettern sollte.

Gu Yun war beim Militär hoch angesehen, so dass man annehmen könnte, dass sein plötzliches Auftauchen, das die Rebellen in die Knie zwang, ein wichtiger Faktor für den Erfolg dieser Mission war. Doch dieser Fall bewies nur einmal mehr, dass die Marine von Groß-Liangs ihr größtes Handicap war ‒ sie konnte nicht einmal eine richtige Rebellion mit Leichtigkeit niederschlagen.

Hätte sich ein solcher Vorfall während der Herrschaft des verstorbenen Yuanhe-Kaisers ereignet, hätte Gu Yun vielleicht die Gelegenheit ergriffen, es dem Verteidigungskorps der nördlichen Grenze gleichzutun und sich an der Reorganisation der Seetruppen zu beteiligen. Leider war Li Feng nicht wie der sanfte, weichherzige verstorbene Kaiser, der unentschlossen war, wenn es darum ging, jemanden zu töten. Ein solch einseitiges Vorgehen war unter der Herrschaft des Longan-Kaisers nicht mehr möglich.

„Was ist mit Yao Chongze? Ist er auch tot?", fragte Gu Yun.

„Er wird nicht erwähnt", antwortete Chang Geng. „Es gab zu viele Gefallene, als dass wir eine vollständige Liste erstellen könnten.

Gu Yun seufzte. „Also, was genau ist dieses 'Seeungeheuer'?"

Chang Geng überflog den Bericht. „Offenbar sieht es aus wie ein Riesenkrake und kann sich unter Wasser verstecken. Wenn es auftaucht, überragt es den Ozean wie ein Berg und besitzt eine überwältigende Kraft. Verglichen mit dem Riesendrachen sieht Letzterer aus wie eine Taube, die auf der Schulter eines kräftigen Mannes sitzt. Es ist mit zahllosen eisernen Tentakeln ausgestattet, die mit Abertausenden von kleinen Drachenkriegsschiffen bedeckt sind, und wenn sich die Spitzen öffnen, setzen sie riesige Schwärme von Falkenrüstungen frei ..."

An dieser Stelle hielt Chang Geng inne und tippte mit einem schlanken Finger leicht auf den Bericht. „Wenn das stimmt, verbrauchen sie mindestens zwei- bis dreihundert Kilogramm Violettes Gold pro Tag ..."

Gu Yun warf ihm einen Blick zu, aber Chang Geng schüttelte leicht den Kopf. Nachdem er seinen Standpunkt dargelegt hatte, ging er nicht weiter darauf ein, seine Stimme versiegte, während er den Rest überging ‒ die Tatsache, dass die Westler eine so große Menge an Violettem Gold investiert hatten, bedeutete wahrscheinlich, dass sie die Sache so schnell wie möglich beenden wollten.

„Sie haben sich um Jiangnan gekümmert, also brauchen sie sich keine Sorgen um einen Feind zu machen, der auf dem Seeweg von hinten angreift, während sie vorrücken. Die Flotte im Hafen von Dagu ist ihnen nicht gewachsen, also wird ihr nächster Schritt darin bestehen, an Land zu gehen und in Richtung der Hauptstadt vorzudringen." Gu Yun zog eine Karte von der Wand herunter. „Alter Tan, wie viele einsatzfähige Truppen gibt es in der Hauptstadt?"

Tan Hongfei leckte sich die rissigen Lippen. „Das nördliche Lager hat zweitausend Schwere Rüstungen und sechzehntausend Leichte Kavalleristen. Außerdem gibt es zweitausend Streitwagen und Lenker. Jeder Streitwagen ist mit einer Kanone an jedem Ende ausgestattet und achtzig dieser Streitwägen ist sind mit drei Nebensonnenbögen bewaffnet."

Diese Feuerkraft reichte zwar aus, um eine Kapitulation zu erzwingen, aber angesichts des von langer Hand geplanten Großangriffs der Westler war sie wie ein Becher Wasser gegen ein tobendes Feuer. Gu Yun runzelte die Stirn. „Was ist mit der kaiserlichen Garde?"

„Die kaiserliche Garde taugt nichts. Insgesamt hat sie weniger als sechstausend Mann, und mehr als die Hälfte von ihnen sind feige Adelssöhne, die nur mit ihren Waffen herumfuchteln können und sie haben noch nie ein Blutvergießen erlebt. Tan Hongfei hielt inne, als er sich an etwas erinnerte. Er zog einen Gegenstand aus seinem Revers und hielt ihn mit beiden Händen feierlich Gu Yun hin. „Richtig; Seine Majestät bat mich, dies dem Marschall zu geben."

Es war in feines Seidengewebe eingewickelt und wirkte wie ein kostbarer Edelstein von enormem Wert. Doch als das Paket aufgeklappt wurde, lag darin das bösartig aussehende Schwarze Eisen-Tigeramulett.

Gu Yun warf einen Blick auf das Tigeramulett und ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. „Was bringt es, mir das jetzt zurückzugeben? Das Schiff ist abgefahren."

Tan Hongfei wusste nicht, was er sagen sollte.

Gu Yun warf das Schwarze Eisen-Tigeramulett achtlos zu Tan Hongfei zurück. „Nun gut. Wie ich sehe, hat sich Seine Majestät entschieden; gehen Sie und schreiben Sie Mobilisierungsbefehle in Übereinstimmung mit seinen Wünschen. Rufen Sie die in Shandong und Zhili stationierten Truppen zurück, um die Hauptstadt gegen eine drohende Belagerung zu verteidigen. Benachrichtigen Sie Cai Bin und weisen Sie ihn an, Verstärkung zu schicken ... Hm. Schickt zuerst die Mobilisierungsbefehle. Wenn das scheitert, werden wir uns später etwas einfallen lassen.

Der verhutzelte alte Zhang Fenghan war keineswegs so eisern wie diese Lasttiere. Nachdem er die ganze Zeit in Todesangst verbracht hatte, erkannte er sofort die unausgesprochene Bedeutung von Gu Yuns Worten. Das Blut wich aus dem Gesicht des alten Gelehrten Lingshu, und er konnte nicht anders, als zu fragen: „Meint der Graf, dass ... die Verstärkung vielleicht nicht ankommt?"

Chang Geng meldete sich von der Seite zu Wort. „Wenn man den Informationen in diesen Militärberichten trauen kann, ist es unmöglich, dass die Westler viel Nachschub mitgebracht haben. Sie können es sich nicht leisten, diesen Krieg in die Länge zu ziehen. Wenn sie uns einen vernichtenden Schlag versetzen wollen, indem sie in Jiangnan an Land gehen müssen sie ihre Kräfte auf zwei Arten aufteilen und dabei ein Kontingent auf dem Seeweg auf die Hauptstadt vorrücken lassen, während das andere Kontingent uns blockiert und die Kommunikation zwischen der Hauptstadt und dem Rest des Landes auf dem Landweg abschneidet ... Ich fürchte, in diesem Stadium können wir froh sein, wenn wir überhaupt etwas von unseren militärischen Meldungen durch die Belagerung bekommen."

Meister Fenghan wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als er auf einem Stuhl zusammensackte und hyperventilierte. Chang Geng hatte nicht damit gerechnet, dass seine Worte den Mann so ernsthaft treffen würden. Er beeilte sich, Meister Fenghan ein Becher Wasser einzuschenken, dann klopfte er geschickt eine Handvoll Akupunkturpunkte auf seinem Rücken. „Bitte lassen Sie es ruhig angehen, General. Je älter Sie werden, desto vorsichtiger müssen Sie sein, um plötzliche extreme Gefühlsschwankungen zu vermeiden. Sonst könnten Sie leicht einen Schlaganfall erleiden ..."

Zhang Fenghan ergriff seine Hand und war den Tränen nahe. „Meine liebe Hoheit, fehlt Ihnen von Natur aus der Sinn für Krisen?"

„Meister Fenghan, bitte beruhigen Sie sich. Ich bin noch nicht fertig", fuhr Chang Geng eilig fort. „Damals, als Yifu ins Gefängnis geworfen wurde, habe ich mir Sorgen gemacht, dass so etwas an den Grenzen passieren könnte. Ich habe mich bereits mit einigen meiner Freunde in Verbindung gesetzt."

Mit diesen Worten holte er einen aus seinem Ärmel.

„Diese Holzvögel nutzen eine besondere Art von Magneten, um ihren Flug zu lenken, und können Nachrichten zwischen den Trägern dieser Magneten übermitteln. Meine Freunde haben meine früheren Nachrichten erhalten und sind zweifellos bereits zu den wichtigsten Garnisonen des Landes aufgebrochen. Hoffentlich bleibt noch Zeit ‒ sollte die Hauptstadt wirklich belagert werden, kann ich diese Holzvögel nutzen, um Nachrichten zu übermitteln und Informationen außerhalb der Militärkanäle weiterzugeben. Das Schwarze Eisen-Tigeramulett und das persönliche Siegel meines Yifu sollten unseren Briefen genügend Glaubwürdigkeit verleihen."

Chang Geng hatte erkannt, dass ohne die Schwarzen Falken die Verzögerung der Fernkommunikation die militärischen Operationen behindern würde. Daher wandte er sich an den Linyuan-Pavillon, um vorsorglich ein riesiges Kommunikationsnetz zu organisieren, in der Hoffnung, eine zukünftige Katastrophe zu vermeiden.

Tan Hongfei und Zhang Fenghan starrten Chang Geng erstaunt an.

„Das ist doch nur ein kleiner Trick. Etwas anderes konnte ich mir so kurzfristig nicht einfallen lassen", sagte Chang Geng. „Dieser Plan ist durchführbar, solange er geheim bleibt, aber auf Dauer ist er nicht tragfähig. Sobald unsere Feinde davon erfahren, sind diese Vögel kein sicheres Kommunikationsmittel mehr; sie können mit einem einfachen Kieselstein vom Himmel geholt werden."

In diesem Moment konnte Gu Yun nicht genau beschreiben, was er fühlte. Er hatte sich Sorgen um Chang Geng gemacht, als er im Gefängnis saß, aber selbst wenn Gu Yun auf freien Fuß gewesen wäre, um die Dinge zu regeln, hätte er es nicht viel besser machen können. Die rechtzeitige Aktion dieses Kindes hatte nicht nur die Hälfte des Schwarzen Eisenbataillons gerettet, sondern auch dafür gesorgt, dass sie etwas Spielraum hatten.

Gu Yun seufzte anerkennend. Er war überwältigt von Stolz. Aber er hatte auch das Gefühl, dass der Junge, der nur wusste, dass er die Augen schließen und fliehen musste, wenn er es mit einer Schwertübungspuppe zu tun hatte, nicht so schnell hätte erwachsen werden dürfen, und dass das alles daran lag, dass er sich nicht richtig um ihn gekümmert hatte.

Bei so vielen anderen Anwesenden war offene Sentimentalität nicht angebracht, also sagte Gu Yun nur lässig: „Die Maßnahmen Eurer Hoheit waren sicherlich gründlich und wohlüberlegt."

Gu Yun nahm einen Weinkrug, der hinter der Tür hing, und warf sich, ohne sich die Mühe zu machen, eine Rüstung anzulegen, lässig einen Strohregenmantel über die Schultern. „Kommt schon", sagte er zu Tan Hongfei. „Lasst uns zum nördlichen Lager aufbrechen."

Chang Geng erhob sich ebenfalls. „Ich werde Meister Fenghan zurück zum Lingshu-Institut begleiten. Dann werde ich im Finanzministerium vorbeischauen und sehen, wie es dort läuft."

Die beiden gingen eilig ihrer Wege. Das unaufhörliche Rollen des gedämpften Donners am Horizont änderte plötzlich seine Melodie. Ein greller, kalter Blitz spaltete das trübe Firmament in zwei Hälften, und ein sintflutartiger Regenguss, wie man ihn im Frühling nur selten erlebt, prasselte unerbittlich auf die Erde.

Der Regen fiel wie aus Eimern, während Wind und Regen über den düsteren Himmel fegten.

Gu Yun und Tan Hongfei trotzten dem Unwetter und verließen mit einer Gruppe von Wachen die Stadt in Richtung des nördlichen Lagers. Tan Hongfei schüttelte sich heftig die Wassertropfen aus dem Gesicht und erinnerte sich sofort an Huo Dan, der auf dem Grafenanwesen gesagt hatte, dass der Graf krank sei. Er konnte nicht anders, als sein Pferd anzuspornen, bis er Gu Yun erreicht hatte, und zu brüllen: „Marschall, dieser Regen ist zu stark, und Ihr müsst Euch noch von Eurer Erkältung erholen. Warum suchen wir uns nicht irgendwo einen Unterschlupf? Wenn der Sturm vorbei ist, haben wir immer noch Zeit, uns auf den Weg zu machen ..."

Gu Yun schüttelte den Kopf. Aus irgendeinem Grund, vielleicht weil dieser Sturm zu schnell aufgezogen war, hatte er eine plötzliche und unheilvolle Vorahnung.

Die Ausländer nannten das Schwarze Eisenbataillon "Schwarze Krähen", und als Anführer dieser schwarzgeflügelten Vorboten besaß Gu Yun natürlich einen unvergleichlichen Krähenschnabel. Eine erschreckende Anzahl seiner unheilvollen Vorahnungen schien sich mit unfehlbarer Genauigkeit zu bewahrheiten.

Gu Yun übernahm mit grimmiger Effizienz die Kontrolle über das nördliche Lager.

Chang Geng hatte die Rüstungen und Maschinen, die das Ling Shu Institut durch Verschrottung angesammelt hatte, herbeigeschafft.

Währenddessen eilte Chang Geng mit den wertvollen Eisenrüstungen und Dampfmaschinen herbei, die er über Nacht aus dem Lingshu-Institut ausgegraben hatte, die sich durch Verschrottung angesammelt hatten. Unter seiner Beute befanden sich sogar zahlreiche Schwere Rüstungen und Falkenrüstungen.

Tan Hongfei hatte damit gerechnet, dass die Westler erst in wenigen Tagen ihren Marsch nach Norden antreten würden. Er war zu optimistisch.

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In dieser Nacht lugte von einem Wachturm über dem Hafen von Dagu ein langes, zylindrisches Fernrohr über das Wasser. Es war mit zwei handtellergroßen Linsenwischern ausgestattet, die sich hin und her bewegten ‒ eine vergebliche Mühe, denn ein Windstoß zwang die kleinen Dinger bald dazu, ihre Köpfe zu senken. Der Soldat, der im Turm Wache hielt, griff aus dem Fenster und tastete nach einem rostigen Griff an der Seite des Zielfernrohrs ‒ die Dampfmaschine im Inneren war vor langer Zeit ausgefallen und nie repariert worden, weswegen das Gerät von Hand gedreht werden musste. Der Soldat schnippte eine Handvoll Regentropfen weg und begann, den langen Arm der Kurbel zu drehen, wobei er die ganze Zeit fluchte. Das ausgefranste Getriebe gab ein erschöpftes Kreischen von sich, als sich ein winziger Metallschirm unsicher aufspannte und das Zielfernrohr vor dem rauen Wind und dem eisigen Regen schützte.

Der Soldat wischte den Wasserfilm weg, der die Linse des Zielfernrohrs bedeckte, und murrte zu seinem Kameraden: „Wir dienen alle in der Armee, aber andere fliegen durch den Himmel und erschüttern Himmel und Erde, während wir hier in diesem Turm unsere Tage mit Bodenwischen und Pai Gow spielen verbringen. Wir bekommen nicht einmal irgendwelche Vergünstigungen. Es passiert nie etwas, und doch verschwenden wir hier das ganze Jahr über unsere Zeit. Meine Frau erkennt mich kaum noch ... Im Ernst, was zum Teufel ist mit diesem Regen los? Gab es irgendwo einen Justizirrtum oder was?

Sein Begleiter hob den Kopf nicht von der Stelle, an der er den Boden wischte. „Beten Sie lieber weiter, dass nichts passiert. Habt Ihr nicht gehört, dass der Truppführer gesagt hat, dass die Westler kommen werden?"

„Der Truppenführer redet alle paar Tage im Monat von den Westlern", antwortete der Soldat. „Hat der Graf von Anding nicht immer noch ein Auge auf die Dinge in der Hauptstadt nebenan?"

„Der Graf von Anding wurde ins Gefängnis gesteckt."

„Aber sie haben ihn wieder freigelassen, nicht wahr?" Hier schien der Soldat etwas zu begreifen. „Moment, hieß es nicht, dass der Graf von Anding versucht hat, den Kaiser zur Abdankung zu zwingen? Warum sollten sie ihn so schnell wieder freilassen? Es sei denn ..."

„Pst!" Der Kopf seines Begleiters schnappte hoch. „Hörst du das?"

Ein leises Grollen, wie das Rollen eines Donners, erschütterte die Luft. Der Wachturm begann zu zittern, als ob auch er spürte, dass etwas kam.

War es der Sturm?

Nein, der Donner kam in Abständen. Er würde nicht so lange andauern und dabei immer näher und näher rücken.

Der alte Soldat taumelte zum Zielfernrohr hinüber und schwang den Lauf hoch. Durch den tintenschwarzen Regenvorhang hindurch trafen die suchenden Augen des Soldaten auf einen riesigen Schatten auf dem Wasser.

Ein solch furchterregendes Ungeheuer war jenseits des Stoffs von Albträumen. Es streckte seine Tentakel in den Himmel und stieß ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus. Der alte Soldat zweifelte an seiner eigenen Sehkraft; er rieb sich heftig die Augen. Doch dieses "Seeungeheuer" bewegte sich so schnell, dass es zu fliegen schien. Als der Soldat wieder hinschaute, war es nicht mehr der verschwommene Schatten von vorhin. In einem Wimpernschlag hatte es unzählige Kilometer zurückgelegt und war nun durch das Fernrohr deutlich zu erkennen. Dichte Massen von Seedrachen schlüpften mit einer kalten und mörderischen Aura durch die Dunkelheit, und Kampffahnen wehten im Wind und Regen und enthüllten bösartig ihre rasiermesserscharfen Klauen und Reißzähne.

„Feindlicher Angriff ...", stieß der alte Soldat hervor. „Was?"

„Feindlicher Angriff! Die Westler sind hier ‒ schlagt Alarm! Was steht ihr da rum? Beeilt ‒"

Ein dringender Trommelschlag durchbrach den wütenden Regenschauer, als das gleichmäßige, rotierende Licht des Wachturms wie verrückt zu schwenken begann. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer von zwei Männern auf zehn und von zehn auf hundert. Innerhalb weniger Atemzüge hallte von jedem Wachturm im Hafen Dagu der Klang von Kriegstrommeln wider. Lian Wei, der Oberbefehlshaber der Beihai-Armee und -Marine, hatte kein Auge zugetan, seit er von der Niederlage in Jiangnan erfahren hatte. Sein Herz klopfte so heftig, dass es ihm fast die Brust zertrümmerte, als er seiner Leibwache das Zielfernrohr aus den Händen riss.

Ein einziger Blick, und ein Schauer lief ihm von der Brust bis in den Rücken. Der Himmel stehe uns bei.

„General!"

„Einsendet ..." Lian Wei leckte sich über die Lippen. „Entsendet alle Drachenkriegsschiffe zur Vorhut. Keine Warnschüsse notwendig. Bombardiert den Feind mit Kanonenfeuer ... nein, wartet ‒ Eisenketten. Zurrt die Drachen mit Eisenketten zusammen und bildet eine Sperre über der Hafenmündung."

„Bereitet die Nebensonnen ‒“

„Benachrichtigt alle Fischer- und Handelsboote im Hafen, dass sie sofort evakuiert werden müssen!"

Lian Wei warf einen Blick auf seinen Schreibtisch und den Kriegsfeuererlass, den er noch nicht weggelegt hatte. Dies war die höchste Alarmstufe für das Militär von Groß-Liang. In dem Moment, in dem ein Kriegsfeuererlass erging, bedeutete dies, dass die gesamte Nation in den Zustand eines drohenden Krieges eingetreten war.

Der Kriegsfeuererlass war mit dem Zeichen Gu beschriftet und vom Grafen von Anding persönlich unterzeichnet worden.

Vor Jahren, als das Schwarze Eisenbataillon den Selbstmordanschlag an der nördlichen Grenze erlitten hatte, waren mehr als ein Dutzend zu Unrecht beschuldigter jüngerer und älterer Offiziere gezwungen worden, ihre Schwarzen Eisenrüstungen abzulegen, ihre Windsäbel niederzulegen und sich in die Weiten des Landes zu verstreuen. Inzwischen hatten sich viele von ihnen entweder in die Dunkelheit zurückgezogen oder waren in den Ruhestand getreten. Lian Wei hatte sich vorgestellt, dass er den Rest seines Lebens in diesem winzigen Hafen festsitzen würde. Jeden Tag schlenderte er mit seinen Männern an den Docks entlang und kümmerte sich gelegentlich um einen Fall von Glücksspiel oder eine Schlägerei zwischen Fischern ...

„Gebt dem nördlichen Lager Bescheid." Lian Wei zog die Schnallen seiner Rüstung fest, holte tief Luft und zog seinen dicken Bauch ein. „Sagt ihnen, der Hafen von Dagu wird von der westlichen Marine angegriffen. Geht, sofort!"

Als er hinausging, schien er sich an etwas zu erinnern. Er machte auf dem Absatz kehrt und hob einen Windsäbel auf, der all die Jahre in der Ecke gestanden und Staub angesetzt hatte. Er hängte sie sich über den Rücken. Die Klinge, einst ein erfahrener Veteran auf den Schlachtfeldern der Wüste, war nun so stark verrostet, dass sich sogar die winzige Mulde, in der das Violette Gold aufbewahrt wurde, nicht mehr öffnen ließ. Er war zu einer schweren Stange aus Schwarzem Eisen verkommen, der wahrscheinlich nur noch dazu diente, mitten in der Nacht Leute zu überfallen.

Doch als Lian Wei sie sich wieder auf den Rücken schnallte, schien er das Gefühl wiederzuerlangen, das er hatte, als er die Schwarze Eisenrüstung anlegte und verächtlich auf den Rest der Welt herabblickte.

Nach so vielen Jahren des Müßiggangs und unter so vielen Fettschichten war das Brandmal, das die kalte Klinge und die Eisenrüstung auf seinem Blut und seinen Knochen hinterlassen hatten, nicht im Geringsten verblasst.

Das eiserne Dröhnen der Drachenschiffe traf frontal auf das wütende Seeungeheuer, als sich die beiden Streitkräfte einander näherten. Die Kriegsschiffe der Westler schnitten durch den Wind und den Regen wie dämonische böse Geister, schneller noch als der peitschende Sturm, der sich über dem Wasser zusammenbraute. Die stürmische See erhob Flutwellen, die so schrecklich waren, dass sie das ganze Festland zu verschlingen schienen, und der ununterbrochene Kanonendonner erfüllte den Himmel. Unzählige Kriegsschiffe zerbarsten im Nu und versanken in den aufgewühlten Wellenkämmen des Ozeans.

„General, der Eisenzaun wird nicht halten!"

„General, wir haben zu viele Schiffe auf unserer linken Flanke verloren. Die Eisenketten ..."

„Der Wachturm ‒ passt auf!"

Eine Kanonenkugel schoss hervor wie ein feuriger Drache. Selbst der dichte Regenvorhang konnte die wütende Flamme nicht trüben, als sie mit einem erderschütternden Knall direkt in einen Wachturm einschlug. Der Turm taumelte für einen atemlosen Moment, bevor er sich langsam in der Taille krümmte.

Die Laterne, die von der Spitze des Turms aus Licht durch den Regen warf, erlosch.

Lian Wei schob seine Leibwache zur Seite, sprang auf das Deck eines Kriegsschiffes und brüllte: „Kanonen, Sperrfeuer aufrechterhalten! Nebensonnen- und Feuerbrandpfeile laden!"

„General Lian, es ist unmöglich, dass der Hafen ... Dagu ..."

„Aus dem Weg!" Lian Wei schob den Fußsoldaten, der bei den Nebensonnenpfeilen stand, zur Seite. Mit einem großen Schrei hob er den etwa fünfzig Kilogramm schweren Feuerbrandpfeil und ließ ihn auf den Nebensonnenbogen fallen. Er schrubbte sich das Regenwasser aus dem Gesicht und griff nach dem Nebensonnenkalibrator.

Der erste Feuerbrandpfeil löste sich vom Nebensonnenbogen und schoss unbarmherzig in den Himmel, wobei er mitten im Flug die eiserne Hülle abwarf, die seinen Schwanz umgab. Violettes Gold schimmerte wie undurchdringliches Höllenfeuer, das ihn anspornte, und er nahm an Geschwindigkeit zu, streifte wie ein Meteor die auf dem Seeungeheuer wehende Schlachtfahne und krachte in die Wellen.

Die Wucht des Aufpralls zerfetzte die flatternde Fahne des Heiligen Stuhls in Windelstoff, und die zerrissenen Fetzen verstreuten sich im Wind in alle Richtungen ‒ doch der Feuerbrandpfeil hatte noch nicht das Ende seines Fluges erreicht. Er traf einen wütenden Seedrachen der Westler und explodierte über dem Meer in einem schillernden Feuerwerk.

Ohne den Befehl ihres Kommandanten wagten die Mitglieder des Schwarzen Eisenbataillons keinen Zentimeter zurückzuweichen.

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Die Meldung über den Angriff auf den Hafen von Dagu erreichte die Hauptstadt mitten in der Nacht. Gu Yun saß im Zelt des Kommandanten und war gerade dabei, zusammen mit Tan Hongfei und Han Qi, dem Hauptmann der kaiserlichen Garde, die Verteidigungsmaßnahmen der Hauptstadt zu besprechen. Han Qi war schockiert und sprang praktisch auf die Füße. „Wie konnte der Angriff nur so schnell kommen?"

Gu Yuns Miene verdüsterte sich. „Wer ist der Oberbefehlshaber der Armee und der Marine von Beihai?"

„Lian Wei." Die Ränder von Tan Hongfeis Augen röteten sich leicht. Nach einer Pause fügte er hinzu: „Er war einst der Stellvertreter dieses bescheidenen Generals im Schwarzen Eisenbataillon."

Gu Yuns Augen zuckten leicht. „Hauptmann Han."

Han Qi verstand sofort. „Dieser bescheidene General wird sofort in die Hauptstadt zurückkehren. Seien Sie versichert, Marschall. Auch wenn die kaiserliche Garde nur eine Ansammlung edler junger Herren ist, liegt ihre letzte Ruhestätte vor den Stadtmauern der Hauptstadt."

Gu Yun warf ihm einen prüfenden Blick zu, bevor er die Klappe des Zeltes des Kommandanten öffnete. „Können die alten Knacker vom Lingshu-Institut bitte etwas mehr in die Puschen kommen?"

Kaum hatte er sein Gemecker beendet, eilte ein Bote herbei. „Marschall, Prinz Yanbei ist angekommen!"

Gu Yun riss den Kopf hoch, aber das Pferd von Chang Geng war bereits herangaloppiert. Chang Geng zog die Zügel an und sagte: „Marschall, das Lingshu-Institut hat die Reparaturen an den tausend Schweren Rüstungen aus Schwarzem Eisen und den fünfhundert Falkenrüstungen, die sie vorrätig haben, abgeschlossen. Sie haben uns auch die Leichten Felle stückchenweise rübergeschickt, so dass wir insgesamt dreitausend Sätze Eisenstulpen und Beinschienen, viertausend Paar Poleyns und Beinschienen und eine ganze Reihe von Schulterplatten und Visieren haben. Sie werden in Kürze alles herüberschicken."

 

 

 

Erklärungen:

Pai Gow ist ein Domino Spiel.

Gab es irgendwo einen Justizirrtum oder was?: In Anlehnung an 六月飞雪,必有冤情, "Wenn es im Juni schneit, dann ist definitiv ein großes Unrecht geschehen". Die Redewendung knüpft an den traditionellen chinesischen Glauben an, dass anormale Naturphänomene mit einer gegenwärtigen oder zukünftigen Katastrophe verbunden sind.

Der Poleyn oder Genouillere war ein Bestandteil der Rüstung des Mittelalters und der Renaissance, der das Knie schützte.




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2 Kommentare:

  1. Der Angriff nimmt ganz schön Fahrt auf, ich bin gespannt, ob sie es schaffen die Hauptstadt zu halten.

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    1. Das werde ich natürlich dir natürlich nicht verraten, aber eines kann ich dir sagen, dass Kampfgeschehen wird noch lange anhalten.

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