Kapitel 61 ~ Bericht des Sieges

Niemals in seinen kühnsten Träumen hätte sich Tan Hongfei vorstellen können, dass er eines Tages wieder eine Schwarze Eisenrüstung tragen würde. All der Kummer in seinem Herzen verflüchtigte sich; selbst wenn er in dieser bevorstehenden Schlacht sein Leben verlieren würde, dachte er, wäre es das wert.

Tan Hongfei trat vor und erklärte mit klingender Stimme: „Dieser Untergebene ist bereit, sich der Vorhut des Marschalls anzuschließen!“

„Nun, wir können sicher nicht auf Euch verzichten. Nebensonnenbögen und Streitwägen werden den Weg frei machen, die Leichte Kavallerie und Schwarze Falkeneinheiten werden mir folgen, und Schwere Rüstungen bilden das Schlusslicht.“ Gu Yun gab schnell seine Befehle weiter. „Jemand soll mir einen Windsäbel besorgen. Welchem Dämon, Geist oder Monster wir auch immer gegenüberstehen, wir werden es erst wissen, wenn wir es mit eigenen Augen gesehen haben.“

Chang Geng schulterte den mit Violettem Gold betriebenen Langbogen auf seinem Rücken. Es war dieselbe Waffe, die er von Gu Yun erhalten hatte, als sie im Südwesten die Banditen besiegten. Der Bogen schien die letzte vorzeigbare Erfindung des Lingshu-Instituts zu sein, bevor der Longan-Kaiser begann, die Militärausgaben ernsthaft zu kürzen. Der unverzierte Eisenbogen war unglaublich schwer; wer kein wahrer Meister des Bogenschießens war, konnte ihn unmöglich spannen. Obwohl er nach weiterer Verfeinerung in der Armee weit verbreitet, hätte eingesetzt werden können, blieb er der einzige Prototyp seiner Art im gesamten Militär von Groß-Liang.

Chang Geng strich mit einer Hand über das eiskalte Eisen des Bogens und fragte: „Yifu, darf ich dich begleiten?“

Gu Yun zögerte. Er wollte ihn eigentlich nicht mitnehmen ‒ aus keinem anderen Grund als dem, dass er im Laufe dieser Krise noch größere Erwartungen an diesen jungen und unerfahrenen kleinen Prinzen entwickelt hatte. Vielleicht konnte Gu Yun sich tatsächlich vor der Hauptstadt verschanzen und bis zum bitteren Ende kämpfen, aber was dann? Wer würde die zerbröckelnden Überreste der Nation aufräumen? Wer würde sich einen Weg durch das Chaos bahnen und dem einfachen Volk helfen, sich zurechtzufinden?

Chang Geng war in seinem persönlichen Verhalten weitaus diplomatischer, als es Gu Yun in seiner eigenen Jugend gewesen war. Vielleicht würde er nicht so enden wie Gu Yun, der nach seinem Streit mit dem Kaiser in einer so hoffnungslosen und unrettbaren Situation gefangen war ...

Chang Geng schien zu spüren, in welche Richtung seine Gedanken gingen. „Kein Ei bleibt ganz, wenn das Nest umkippt. So wie es aussieht, macht es keinen Unterschied, ob man im Palast wartet oder mit euch an die Front geht. Wenn die Stadt fällt, wäre es dann nicht nur eine Frage eines früheren oder späteren Todes?“

Bevor Gu Yun antworten konnte, brach Tan Hongfei in Gelächter aus. „Gut gesagt, Eure Hoheit! Der Hof ist voll von pedantischen Gelehrten. Eure Hoheit ist der einzige echte Mann unter ihnen!“

Gu Yun konnte nur mit der Hand winken und sagen: „Du hast alles gesagt, was es zu sagen gibt. Wenn du kommen willst, dann komm.“

Er warf Tan Hongfei einen vernichtenden Blick zu. Als er den geschwollenen, noch nicht verheilten Peitschenhieb auf General Tans Gesicht sah, war er kurz davor, ihm einen weiteren Peitschenhieb auf die andere Wange zu verpassen und es symmetrisch zu machen.

Außerhalb der Mauern der Hauptstadt bildete das Schwarze Eisen eine dichte Masse, die sich um die Stadt schlängelte wie das schimmernde Wasser einer Wüstenoase.

Wenn sie von ihren Pferden aus zurückblickten, leuchteten die Lichter des Drachenflug-Pavillons wie eh und je in dem heftigen Regenguss; doch gegenüber der hoch aufragenden Kaiserstadt in der Ferne schienen sie in einen sanften Glanz gehüllt, wie der Schein von poliertem Schildpatt. Die zwanzig roten Drachen, die sonst nur an Silvester flogen, hatten heute eine Ausnahme gemacht. Sie schwebten hoch in der Luft wie die unruhigen Augen einer ängstlich wartenden Menge.

Gu Yun hob seine Hand und gab das Signal. Die Vorhut des nördlichen Lagers hatte sich bereits feierlich in Bewegung gesetzt. Es gab keine mitreißenden, klagenden Lieder und auch keine inbrünstigen Reden. Die Soldaten marschierten durch den Regen, ihre Gesichter unter den Visierhelmen verborgen, wie ein Zug teilnahmsloser Eisenpuppen.

In der schweren Sintflut sah die Hauptstadt aus, als würde sie auf dem Wasser schwimmen, die alten blauen Fliesen der Stadt reflektierten wie ein Spiegel.

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In der Nacht zuvor war die Flotte der Westler nach Norden gesegelt und hatte einen Überraschungsangriff auf den Hafen von Dagu gestartet. Lian Wei, der Oberbefehlshaber der Beihai-Armee und -Marine, führte dreihundert Drachen und eintausend kleinere Kriegsschiffe zu einer energischen Verteidigung an. Sie begannen damit, ihre Drachen aneinanderzuketten, um einen eisernen Schutzwall über der Hafenmündung zu bilden. Zur Stunde der Maus am nächsten Abend war jedes einzelne Drachenkriegsschiff unter dem Kanonenfeuer des Seeungeheuers der Westler gesunken. Es gab keine Überlebenden.

Die Beihai-Marine hatte sechsunddreißigtausend Feuerbrandpfeile und zehntausend Schuss Nebensonnen-Eisenpfeile zur Verfügung gehabt. Am Ende der Schlacht war kein einziger Pfeil mehr übrig ‒ jeder einzelne war in die wütenden Wellen der bodenlosen Tiefe gestürzt. Als die Munition zur Neige ging, befahl General Lian seinen Kapitänen, ihre Kriegsschiffe auf volle Fahrt zu bringen und ihre Schiffe mit ihren eigenen Körpern als Nebensonnen in die Reihen des Feindes zu rammen.

Ein wütendes Feuer breitete sich über das Meer aus, als sich loyale Seelen in Erfüllung ihrer Pflicht opferten.

Die Beihai-Marine bombardierte, versenkte und zerschmetterte fast dreitausend feindliche Kriegsschiffe. Schließlich zwangen sie die Seeungeheuer der Westler, dem Regen zu trotzen und die Hangars an den Spitzen ihrer eisernen Tentakel zu öffnen, um die darin versteckten Falkenrüstungen zu starten. Erst als die zerlumpten feindlichen Falken die Küste erreichten, stellten sie fest, dass im Hafen Dagu nur noch eine Handvoll aktiver Kämpfer übrig war.

Zu Beginn der Stunde des Tigers waren die Westler, die das Ufer durchbrochen hatten, zutiefst verärgert. Um die in der Schlacht erlittenen Verluste wettzumachen, beschlossen sie, nicht länger in der Gegend zu bleiben, sondern direkt auf die Hauptstadt vorzurücken. Auf dem Weg dorthin trafen sie am Rande der Stadt Dongan auf das Schwarze Eisenbataillon, das Gu Yun in einem einzigen Tag und einer einzigen Nacht zusammengeschustert hatte.

Die Seestreitkräfte der Westler hatten sich noch nicht von ihrer katastrophalen und verlustreichen Landung erholt. Sie waren völlig unvorbereitet und wurden von den achtzig Streitwägen, die den Angriff anführten, bald zurückgedrängt. Das Schwarze Eisenbataillon ließ dem ersten Angriff eine zweite Welle folgen: Leichte Kavalleristen ritten aus ihrer Umzingelung und Falken stiegen hoch über ihnen auf, ihre furchterregenden Schreie schnitten wie Schwerter durch die Luft.

Die Leibgarde des Papstes wurde plötzlich von Windsäbeln in den Händen der leichten Kavallerie getroffen und fast in alle Winde zerstreut. In aller Eile zogen sie sich zu ihren Schiffen im Hafen von Dagu zurück.

Es war Jahre her, dass Groß-Liang eine so erschütternde Nacht erlebt hatte. Boten mit Militärberichten eilten im Palast ein und aus, als ob sie zum Markt rennen würden, und kamen in kürzeren Abständen als die Schläge der Nachtwache. Kein Mensch in der Hauptstadt schlief ruhig bis zum nächsten Morgen, als mit den ersten Schimmern der Morgendämmerung die Siegesmeldungen eintrafen.

Es war die erste gute Nachricht seit Tagen. Als Li Feng dies hörte, wurden ihm die Knie weich, und er schwankte zwischen Lachen und Tränen.

So wie sich der Himmel nach dem Regen aufklärte, so kam auch die Hoffnung nach der Not. Der Hai-Fluss schwoll über Nacht an, und ein unbeschreiblicher Geruch, gemischt mit dem Geruch von Schießpulver und Blut, erfüllte die Luft. Die Erde war bereits aufgetaut, und die Luftfeuchtigkeit lag schwer in der Luft. Gu Yun hatte keine Flotte, und die Westler waren in einem beklagenswerten Zustand, so dass sich beide Streitkräfte nach einer Nacht erbitterter Kämpfe in ihre jeweiligen Festungen zurückzogen.

Gu Yun saß neben einer Kanone, die noch immer Restwärme ausstrahlte, sein schwarzer Eisenhelm war zur Seite geworfen, und eine lose Locke unordentlichen Haares verdeckte sein Gesicht. Er nahm eine Schale mit Medizin von Chang Geng entgegen und schüttete den Inhalt mit einem Schluck hinunter.

„Ich habe meine Akupunkturnadeln nicht dabei, aber selbst wenn ich sie dabei hätte, würde ich es nicht wagen, dich jetzt damit zu stechen“, sagte Chang Geng.

Nachdem er den Eisenbogen die ganze Nacht hindurch benutzt hatte, waren seine Handflächen mit tiefen Furchen übersät, und seine Finger zitterten noch immer vor Müdigkeit. Gu Yun packte ihn am Handgelenk und zog ihn zu sich. Erst als er feststellte, dass Chang Geng zwar erschöpft, aber unverletzt war, entspannte er sich. Er winkte mit einer Hand und sagte: „Mach dir keine Sorgen um mich. Geh und zähle die Verletzten. Der alte Tan hat keinen Kopf für Zahlen.“

Damit lehnte er sich mit dem Rücken an die Kanone und nutzte die kleine Auszeit, um seine Augen auszuruhen.

Doch nur wenige Augenblicke später wurde Gu Yun von einem Herold aus der Kaiserstadt wachgerüttelt.

Der Herold, der herbeigeeilt war, war ein kaiserlicher Wächter mit einem recht jugendlichen Gesicht. Unter normalen Umständen hätte jemand seines Ranges kaum Gelegenheit gehabt, Gu Yun zu treffen. Als er den Grafen des Friedens in natura sah, war er so aufgeregt, dass er sich kaum zurückhalten konnte. Der junge Soldat galoppierte geradewegs auf Gu Yun zu und sprang aus dem Sattel ‒ aber sein Fuß muss irgendwo hängen geblieben sein, denn er verlor das Gleichgewicht und landete mit dem Gesicht genau vor Gu Yuns Füßen. „Mein Herr!“

Gu Yun zog hastig seine Zehen zurück. „Aiyo, Ihr müsst nicht so höflich sein.“

„Mein Herr“, antwortete der Herold eifrig, „Seine Majestät hat mich beauftragt, das nördliche Lager mit Essen und Trinken zu belohnen. Ich habe ... Ich habe ...“

Wunderbar. In seiner Aufregung hatte er seinen Text vergessen.

Kein Wunder, dass das nördliche Lager die kaiserliche Garde verprügelt hatte. Verärgert stand Gu Yun auf und klopfte dem jungen Soldaten auf den Kopf. „Das braucht Ihr mir nicht zu sagen, Ihr könnt das doch General Tan überlassen. Sagt seiner Majestät, dass es noch zu früh zum Feiern ist. Das nördliche Lager hat nur eine begrenzte Anzahl von Truppen. Selbst ich kann nicht mehr Soldaten herbeizaubern, wenn uns die Männer ausgehen. Wenn bis dahin keine Verstärkung eintrifft ...“

Der Herold starrte ihn verblüfft an.

Wie es in Die Kunst des Krieges heißt: ‘Führe in der Schlacht durch Konventionen und siege durch Einfallsreichtum.‘ Die meisten Menschen erinnerten sich nur an ‘siege durch Einfallsreichtum‘ und dachten, dass ein berühmter General in der Lage sein musste, sich aus jeder Sackgasse herauszukämpfen und ein großes Gebäude, das kurz vor dem Einsturz stand, im Alleingang zu retten ‒ aber das war nicht möglich, es sei denn, Gu Yun konnte aus Schlamm eine Armee gottgleicher Soldaten formen, die weder aßen noch tranken.

Jetzt, da die Nachricht von Gu Yuns Sieg in seiner ersten Schlacht in die Hauptstadt gelangt war, waren die Hofbeamten sicher überglücklich ‒ aber was kam als Nächstes? Ganz zu schweigen von langfristigen Zielen wie dem Wettbewerb mit den Westlern auf der großen Skala der nationalen Stärke, der Materialvorräte und der verfügbaren Ressourcen. Er hatte nur diesen kleinen Teil der militärischen Macht in seinen Händen ‒ was konnte er schon tun?

Gu Yun wusste genau, dass dieser Eröffnungskampf, so beeindruckend er auch erscheinen mochte, in Wahrheit ein letzter Kampf war, bei dem er mit dem Rücken an der Wand stand.

Er schenkte dem Herold des Kaisers ein grimmiges Lächeln. Dann ließ er den jungen Mann stehen und schritt zu Tan Hongfei hinüber. Tan Hongfei hielt einen Windsäbel in der Hand, der an einem Ende flach gedrückt worden war. Durch die schwarzen Brandspuren an der Spitze war die Hälfte der Inschrift des Schriftzeichens Lian noch schwach zu erkennen.

Viele Soldaten ritzten ihre Namen in ihre Windsäbel. Auf diese Weise konnten sie, selbst wenn sie ihre Klinge zur Wartung einreichten, mit dem Partner wiedervereint werden, der sie durch so viele Kämpfe auf Leben und Tod begleitet hatte. Sollte der Besitzer einer solchen Waffe im Kampf fallen und sein Körper nicht mehr zu retten sein, würden seine Waffenbrüder seinen Windsäbel zurückbringen und einen Krug Wein als Trankopfer vor ihm ausschütten, damit die Seele ihres Bruders in Frieden ruhen konnte.

Tan Hongfei hob den Windsäbel mit beiden Händen und reichte ihn Gu Yun. „Marschall.“

Gu Yun nahm die dargebotene Klinge an. Plötzlich spürte er, dass das Schwarze Eisenbataillon, das sich immer wieder zusammengefunden und getrennt hatte, trotz seiner vielen Missgeschicke die Nation immer unterstützt hatte und tief in ihr Fundament eingewoben war. Seine Mitglieder waren wie eine Handvoll Samen, die in alle Richtungen verstreut waren ‒ man wusste nie, wo ein hoch aufragender Baum unerwartet in den Himmel sprießen würde.

Chang Geng ging hinter ihm her. „Letzte Nacht haben wir insgesamt dreizehn Streitwägen verloren. Außerdem wurden fünfhundert Leichte Kavalleristen im Kampf getötet und fast tausend schwer verwundet. Die Leichtverletzten wurden nicht mitgezählt, also habe ich sie in meiner endgültigen Aufstellung nicht berücksichtigt. Außerdem haben wir zwölf Falkenrüstungen verloren. Die meisten ihrer Goldtanks sind in der Luft explodiert, daher fürchte ich, dass die Leichen ...“

Gu Yun nickte; diese Opferzahlen waren akzeptabel. „Das haben wir General Lian zu verdanken.“

„Ich fürchte, es wird einige geben, die darauf drängen, dass wir heute Morgen während der Gerichtssitzung Friedensgespräche aufnehmen“, sagte Chang Geng leise.

„Das wird nicht funktionieren“, sagte Gu Yun seufzend. „Die Ausländer haben gestern eine große Demütigung erlitten. Sie werden jetzt kein Gesicht für Friedensgespräche haben, und solange sie die Hauptstadt nicht so gründlich belagert haben, dass wir nicht entkommen könnten, selbst wenn uns Flügel wachsen würden, werden sie nicht bereit sein, sie zu führen.“

Und das war wahrscheinlich nur noch eine Frage der Zeit.

Chang Geng verstummte für einen Moment. „Ich habe gehört, dass der letzte Kaiser einer früheren Dynastie eine ähnliche Krise, in der die Barbaren aus dem Norden angriffen, dadurch bewältigte, dass er sich durch einen Geheimgang aus der Stadt schlich. Wenn wir die Hauptstadt wirklich nicht verteidigen können ...“

„Wir verteidigen sie auf jeden Fall bis zum Ende“, antwortete Gu Yun. „Kennst du den Sonnenlichtpalast westlich der Hauptstadt?“

Chang Geng erschrak.

Gu Yun hob einen Finger an seine Lippen und sprach nicht weiter. Der Sonnenlichtpalast im Westen der Hauptstadt wurde während der Herrschaft des Yuanhe-Kaisers erbaut. Der verstorbene Kaiser ertrug kein heißes Wetter und verbrachte jeden Sommer im Sonnenlichtpalast, um der Hitze zu entkommen.

Nachdem Li Feng aufgestiegen war, achtete er auf Einfachheit in allen Bereichen, von Essen und Trinken bis hin zu den täglichen Ausgaben. Sogar das Kosmetikbudget der Kaiserin und des kaiserlichen Harems wurde halbiert. Er gönnte sich keine Extravaganzen wie die Jagd oder Vergnügungsausflüge. Doch obwohl er ein so sparsamer Mensch war, das genaue Gegenteil seines Vaters, hatte Li Feng dessen Gewohnheit geerbt, jeden Sommer in die vorübergehende kaiserliche Residenz zu ziehen. Nicht, dass er sich dort vergnügte ‒ wegen der Schnelligkeit, mit der sich die Regierungsarbeit auftürmte, eilte er gewöhnlich so früh am Morgen in die Kaiserstadt, dass der Mond und die Sterne noch am Himmel hingen, nur um noch vor Einbruch der Dunkelheit zum Sommerpalast zurückzukehren, die Hauptstadt zu erkunden, als ginge er mit einem Hund spazieren, und gerade rechtzeitig zum Morgenappell zurückzukehren. Vergiss den Versuch, dem heißen Wetter zu entkommen ‒ bei all dem Herumlaufen konnte er von Glück sagen, wenn er keinen Hitzschlag bekam.

Wenn man bedenkt, wie sehr sich Li Feng darüber aufregte, konnte das nur bedeuten, dass ... im Sonnenlichtpalast irgendetwas gelagert wurde, das eine häufige und persönliche Überwachung erforderte, wenn nicht, dann müsste etwas mit seinem Kopf nicht stimmen.

Chang Gengs Verstand war scharf wie eh und je, und ihm kam sofort eine Idee: Die Verteidigungsgeneräle an allen vier Grenzen der Nation hatten irgendwann einmal privat Violettes Gold gehortet ‒ was war dann mit dem Kaiser? Chang Geng war erst vor Kurzem an den kaiserlichen Hof gekommen und hatte die Prüfung der Konten des Finanz- und des Kriegsministeriums noch nicht abgeschlossen. Aber bei Li Fengs kontrollsüchtiger Persönlichkeit wäre es nicht verwunderlich, wenn er einen privaten Vorrat an Violettem hätte.

„Dein großer Bruder traut niemandem“, sagte Gu Yun leise, „also ist das nur meine eigene Vermutung; erzähle es niemandem sonst.“

Chang Geng runzelte die Stirn. „Nun, das wird ein wenig problematisch ... Glaubst du, Li Feng wird um Frieden bitten, wenn die Zeit gekommen ist?“

Gu Yun konnte nicht anders, er brach in Gelächter aus. Er schüttelte den Kopf und sagte: „Vielleicht, wenn die andere Partei zu ihm kommt und ihn um Friedensverhandlungen bittet. Aber es ist auch unwahrscheinlich, dass er davonläuft.“

Chang Geng verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. Er war von Kopf bis Fuß mit Dreck bedeckt. Das schlammige Wasser, mit dem er in der Nacht zuvor bespritzt worden war, war getrocknet und hatte ihn in einer spektakulären Reihe von bunten Farben befleckt. Doch der junge Komturprinz Yanbei trug die Farben mit gemächlicher Gelassenheit und schritt durch das Lager, als ob er lediglich einen Nachmittagsspaziergang durch die kaiserlichen Gärten machen würde. Nach kurzem Überlegen sagte er: „Li Feng fürchtet den Tod nicht. Er fürchtet etwas anderes.“

Gu Yun konnte nicht anders, als ihm einen Blick zuzuwerfen. Er erkannte, dass Meister Fenghan recht hatte: Chang Geng schien wirklich immer völlig unbeirrt zu sein. Plötzlich fragte er: „Seit wann bist du so kühl und gelassen?“

„Inwiefern bin ich kühl und gelassen? Ehrlich gesagt, bin ich furchtbar ungestüm“, sagte Chang Geng lachend. „Eigentlich habe ich das von dir gelernt. Mir ist aufgefallen, dass Yifu immer so tut, als seist du furchtbar glücklich, wenn du verärgert bist. Wenn du so tust, als ob du fröhlich wärst, wird der Kummer in deinem Herzen leichter zu ertragen sein. Wenn ich mich also besonders unruhig fühle, versuche ich, etwas langsamer zu werden, und dabei merke ich tatsächlich, dass ich ruhiger werde. Oh, und außerdem ist ein Übermaß an innerer Hitze in der Leber schädlich für die Aufrechterhaltung einer guten Gesundheit und macht es schwierig ...“

„...einzuschlafen.“ Gu Yun hatte sich mehr als einmal über diesen Satz geärgert und konnte nun seinen Satz zu Ende bringen. „Wie sehr liegt dir der Schlaf am Herzen? Außerdem, wann zwinge ich jemals ein Lächeln auf, wenn ich unglücklich bin?“

Chang Geng hob eine Augenbraue, das Abbild der Ruhe inmitten des Chaos, als er ihn ansah. Die Worte ‘Was immer du sagst‘ standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Versammle die Truppen für einen taktischen Rückzug.“ Schwach wechselte Gu Yun das Thema. „Schick zuerst die Verwundeten zurück. Es wird nicht lange dauern, bis die Westler wieder zu sich kommen. Wir werden einen Hinterhalt legen.“

Nachdem er ein paar Schritte gegangen war, überkam Gu Yun plötzlich eine starke Erschöpfung. Er musste an das Geschwätz von Chang Geng von vorhin denken ‒ wer weiß, welcher Betrüger von einem Arzt ihm solche Quacksalberei beigebracht hatte. Er löste den Weinkrug von seiner Hüfte und nahm einen Schluck, dann schnallte er sich General Lians Windsäbel auf den Rücken und pfiff scharf. Ein Schlachtross trabte daraufhin an, und das Trillern seiner Pfiffe wurde leiser und verwandelte sich launisch in ein selbstgedichtetes Liedchen. Er bückte sich, um eine winzige gelbe Wildblume aus dem Gras zu pflücken, dann sprang er auf sein Pferd und rief: „Meine Brüder der Leichten Kavallerie, steigt auf eure Pferde und folgt mir!“

Die Wildblume in seiner Hand wollte Gu Yun beiläufig in Chang Gengs Haar stecken, der ihm am nächsten stand. Doch gerade, als er die Hand hob, wurde er von Chang Gengs Blick gefangen genommen. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass Chang Gengs Augen ihn die ganze Zeit über aufmerksam verfolgt hatten. Sein Gesichtsausdruck schien zu verkünden: Selbst wenn du mir einen roten Schleier auf den Kopf legen würdest, hätte ich nichts dagegen.

Gu Yun zitterte leicht. Schließlich wagte er es nicht, diesen Streich zu Ende zu führen, und steckte die Blume stattdessen in Tan Hongfeis Helm, der die Größe eines Suppentopfes hatte, was eine lebendige Umsetzung des Ausdrucks ‘eine frische Blume in einem Haufen von du-weißt-schon-was‘ darstellte. Während die schlauen alten Veteranen des nördlichen Lagers vor Lachen brüllten, folgte die Leichte Kavallerie in ihren Schwarzen Rüstungen Gu Yuns Fußstapfen und stürmte, begleitet von einem Chor schriller Pfiffe, davon, um seinem Beispiel zu folgen. Melodien aller Art, die aus allen Regionen des Landes stammten, erklangen in rascher Folge. Von seiner Position an der Spitze brüllte Gu Yun wütend: „Warum kopiert ihr mich? Ihr bringt mich noch dazu, mir in die Hose zu machen!“

Es war schon seltsam ‒ nach all dem Krawall fühlte er sich tatsächlich ziemlich erfrischt.

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Anderswo, an Bord des Seeungeheuers der Westler ...

Ein angeschlagener und erschöpfter Herr Ja stieß die Kabinentür auf und lief direkt in den Hauptmann der Leibwache des Papstes.

„Wie geht es ihm?“, fragte Herr Ja.

„Er ist wach“, antwortete der Kapitän. „Seine Heiligkeit wollte gerade nach Euch rufen.“

Während der hektischen Seeschlacht wurde die Position des Papstes von einem Brandpfeil gestreift, und eine Artilleriebatterie an Bord detonierte mit solcher Wucht, dass der ehrwürdige Befehlshaber auf der Stelle das Bewusstsein verlor. Die Handlungsunfähigkeit des Papstes war ein verheerender Schlag für die Marine der Westler, die seither bei jeder Begegnung mit dem Schwarzen Eisenbataillon eine Tracht Prügel einstecken musste.

Herr Ja stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und betrat die Kabine. Die Stirn des Papstes war mit einem medizinischen Umschlag eingerieben, und sein schlaffes, weißes Haar lag verstreut auf dem Kissen, so dass in den Augenwinkeln feine Leberflecken zu sehen waren.

Herr Ja fiel auf die Knie. „Eure Heiligkeit“, sagte er mit bestürztem Gesicht, „es tut mir so furchtbar leid ...“.

Der ältere Mann auf dem Bett murmelte, ohne seine Augen zu öffnen: „Es ist Gu Yun.“

„Ja, es ist Gu Yun. Wir wollten ihn hier festsetzen und haben sogar Vorbereitungen getroffen, um ihn in der Region Beihai anzugreifen, aber gestern tauchten die Schwarzen Krähen wie aus dem Nichts auf.“ Herr Ja hielt inne, offensichtlich frustriert. „Da das Schwarze Eisenbataillon von den verbündeten Armeen der westlichen Regionen am Jiayu-Pass festgehalten wurde, war ich zuversichtlich, dass wir Erfolg haben würden, und doch ...“

„Sie haben die Kontrolle über die Frontlinien verloren.“

Herr Ja konnte nicht antworten.

Der Papst lächelte. „Im Laufe unseres Lebens begegnen wir alle, Feinden, die unbesiegbar zu sein scheinen. Manche sind große Katastrophen, während andere lediglich eine Charakterprüfung sind. Kennt Ihr den Unterschied zwischen einer Katastrophe und einer Prüfung?“

Herr Ja starrte ihn verständnislos an.

„Der Unterschied ist folgender: Katastrophen sind unüberwindbar, während Prüfungen überwunden werden können. Ich glaube, es ist ganz einfach, die beiden zu unterscheiden. Wir haben die Kommunikationslinien der Zentralebenen bereits gekappt. Wenn ihre winzige Hauptstadt wirklich über so viel Kampfkraft verfügen würde, wären die Ereignisse dann so schnell außer Kontrolle geraten, als wir das Nördliche Lager zur Meuterei anstifteten?“

„Ihr meint ...“

„Gu mag jung sein, aber er hat den größten Teil seines Lebens auf dem Schlachtfeld verbracht. Lasst Euch nicht von ihm an der Nase herumführen. Auch wenn er ein unerträglich arroganter Wolfskönig ist, so wurde er doch aufgehalten und entmannt. Geht; verliert nicht so leicht das Vertrauen.“

An diesem Tag sammelte die Flotte der Westler erneut ihre Truppen und schickte einen Landungstrupp in den Hafen von Dagu. Bei der Landung wurden sie erneut einem heftigen Angriff ausgesetzt. Dieses Mal, als sie bei Tageslicht kämpften, fühlte sich Herr Ja viel sicherer. Unter seinem stetigen und methodischen Kommando machten die westlichen Soldaten mit ihren belagerten Gegnern kurzen Prozess und nahmen jede einzelne der verteidigenden Schweren Rüstungseinheiten gefangen. Es war ein leichter Sieg ‒ doch bevor Herr Ja sich darüber freuen konnte, klappte er das Visier eines dieser frisch gefangenen „Kriegsgefangenen“ hoch und stellte fest, dass diese Soldaten gar nicht zu Groß-Liangs Rüstungskavallerie gehörten, sondern ein Haufen Eisenpupen waren!

Die Puppen waren offensichtlich in letzter Minute aus den Haushalten hoher Beamter und bedeutender Persönlichkeiten der Hauptstadt rekrutiert worden. Unter dem Visier einer Puppe befand sich sogar eine totenbleiche Kindermaske: Sie hatte ein großes, rundes Gesicht und grinste sie mit einem blutigen Schlund aus unsäglichem Spott an.

Ein Soldat der Westler, der seine Wut nicht zügeln konnte, streckte die Hand aus, um sie herunterzureißen. Herr Ja schrie alarmiert: „Warten Sie, nicht ...!“

Doch seine Worte kamen zu spät. Die Maske war an einer dünnen Zündschnur befestigt; beim geringsten Ruck explodierte die Eisenpuppe mit einem donnernden Knall und sprengte nicht wenige der Soldaten der Westler in die Luft.

Die Hälfte der zerbrochenen Maske krachte zu Herrn Jas Füßen, der Mund noch immer zu einem spöttischen Lächeln verzogen.

Als diese Lockvögel ihren Auftrag erfüllt hatten, hatte das nördliche Lager seinen allgemeinen Rückzug aus dem Hafen längst beendet. Die Flotte der Westler stürmte wütend in die Stadt, bereit, ihren Zorn mit Blut zu stillen, fand aber nichts als eine leere Festung vor.

Als die Nachricht vom feindlichen Angriff in Jiangnan die Hauptstadt erreichte, hatte Fürst Yanbei seinen Männern befohlen, die Zivilbevölkerung unverzüglich aus den Frontlinien zu evakuieren. Natürlich gab es einige, die sich standhaft weigerten, ihre Häuser zu verlassen, aber nachdem ihnen in der ersten Nacht das ohrenbetäubende Dröhnen des Artilleriefeuers in den Ohren lag, hatten auch sie sich aufgerafft und waren geflohen und nun längst verschwunden.

In Vorbereitung auf die Ankunft der Westler hatte Gu Yun nichts als verbrannte Erde zurückgelassen.

 

 

 

Erklärungen:

Kein Ei bleibt unversehrt, wenn das Nest umkippt覆巢之下無完卵Dieses Sprichwort drückt eine tiefe Wahrheit aus: Der Einzelne kann den Folgen einer kollektiven Katastrophe nicht entkommen. So wie Eier zerbrechen, wenn ihr Nest umkippt, bleibt kein Mitglied einer Gruppe während einer familiären Katastrophe oder Krise unversehrt. Es erinnert uns daran, dass unsere Schicksale oft miteinander verwoben sind und dass die Handlungen eines Einzelnen Auswirkungen auf das Ganze haben.

Die Stunde der Maus geht von 12:00 bis 12:30.

Mit der Stunde des Tigers ist 3:00 gemeint.

Mit dem roten Schleier ist ein Brautschleier gemeint. In China heiratet man traditionellerweise in Rot.





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GLOSSAR und die Welt von Stars of Chaos

1 Kommentar:

  1. Es geht spannend weiter, sowohl was den Kampf wie auch die Beziehung der zwei Jungs betrifft.

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