Niemals in seinen kühnsten Träumen hätte sich Tan Hongfei vorstellen können, dass er eines Tages wieder eine Schwarze Eisenrüstung tragen würde. All der Kummer in seinem Herzen verflüchtigte sich; selbst wenn er in dieser bevorstehenden Schlacht sein Leben verlieren würde, dachte er, wäre es das wert.
Tan Hongfei trat vor und erklärte mit klingender Stimme: „Dieser
Untergebene ist bereit, sich der Vorhut des Marschalls anzuschließen!“
„Nun, wir können sicher nicht auf Euch verzichten.
Nebensonnenbögen und Streitwägen werden den Weg frei machen, die Leichte
Kavallerie und Schwarze Falkeneinheiten werden mir folgen, und Schwere
Rüstungen bilden das Schlusslicht.“ Gu Yun gab schnell seine Befehle weiter. „Jemand
soll mir einen Windsäbel besorgen. Welchem Dämon, Geist oder Monster wir auch
immer gegenüberstehen, wir werden es erst wissen, wenn wir es mit eigenen Augen
gesehen haben.“
Chang Geng schulterte den mit Violettem Gold betriebenen
Langbogen auf seinem Rücken. Es war dieselbe Waffe, die er von Gu Yun erhalten
hatte, als sie im Südwesten die Banditen besiegten. Der Bogen schien die letzte
vorzeigbare Erfindung des Lingshu-Instituts zu sein, bevor der Longan-Kaiser
begann, die Militärausgaben ernsthaft zu kürzen. Der unverzierte Eisenbogen war
unglaublich schwer; wer kein wahrer Meister des Bogenschießens war, konnte ihn
unmöglich spannen. Obwohl er nach weiterer Verfeinerung in der Armee weit verbreitet,
hätte eingesetzt werden können, blieb er der einzige Prototyp seiner Art im
gesamten Militär von Groß-Liang.
Chang Geng strich mit einer Hand über das eiskalte Eisen
des Bogens und fragte: „Yifu, darf ich dich begleiten?“
Gu Yun zögerte. Er wollte ihn eigentlich nicht mitnehmen ‒
aus keinem anderen Grund als dem, dass er im Laufe dieser Krise noch größere
Erwartungen an diesen jungen und unerfahrenen kleinen Prinzen entwickelt hatte.
Vielleicht konnte Gu Yun sich tatsächlich vor der Hauptstadt verschanzen und
bis zum bitteren Ende kämpfen, aber was dann? Wer würde die zerbröckelnden
Überreste der Nation aufräumen? Wer würde sich einen Weg durch das Chaos bahnen
und dem einfachen Volk helfen, sich zurechtzufinden?
Chang Geng war in seinem persönlichen Verhalten weitaus
diplomatischer, als es Gu Yun in seiner eigenen Jugend gewesen war. Vielleicht
würde er nicht so enden wie Gu Yun, der nach seinem Streit mit dem Kaiser in
einer so hoffnungslosen und unrettbaren Situation gefangen war ...
Chang Geng schien zu spüren, in welche Richtung seine
Gedanken gingen. „Kein Ei bleibt ganz, wenn das Nest
umkippt. So wie es aussieht, macht es keinen Unterschied, ob man im
Palast wartet oder mit euch an die Front geht. Wenn die Stadt fällt, wäre es
dann nicht nur eine Frage eines früheren oder späteren Todes?“
Bevor Gu Yun antworten konnte, brach Tan Hongfei in
Gelächter aus. „Gut gesagt, Eure Hoheit! Der Hof ist voll von pedantischen
Gelehrten. Eure Hoheit ist der einzige echte Mann unter ihnen!“
Gu Yun konnte nur mit der Hand winken und sagen: „Du hast
alles gesagt, was es zu sagen gibt. Wenn du kommen willst, dann komm.“
Er warf Tan Hongfei einen vernichtenden Blick zu. Als er
den geschwollenen, noch nicht verheilten Peitschenhieb auf General Tans Gesicht
sah, war er kurz davor, ihm einen weiteren Peitschenhieb auf die andere Wange
zu verpassen und es symmetrisch zu machen.
Außerhalb der Mauern der Hauptstadt bildete das Schwarze
Eisen eine dichte Masse, die sich um die Stadt schlängelte wie das schimmernde
Wasser einer Wüstenoase.
Wenn sie von ihren Pferden aus zurückblickten, leuchteten
die Lichter des Drachenflug-Pavillons wie eh und je in dem heftigen Regenguss;
doch gegenüber der hoch aufragenden Kaiserstadt in der Ferne schienen sie in
einen sanften Glanz gehüllt, wie der Schein von poliertem Schildpatt. Die
zwanzig roten Drachen, die sonst nur an Silvester flogen, hatten heute eine
Ausnahme gemacht. Sie schwebten hoch in der Luft wie die unruhigen Augen einer
ängstlich wartenden Menge.
Gu Yun hob seine Hand und gab das Signal. Die Vorhut des nördlichen
Lagers hatte sich bereits feierlich in Bewegung gesetzt. Es gab keine
mitreißenden, klagenden Lieder und auch keine inbrünstigen Reden. Die Soldaten
marschierten durch den Regen, ihre Gesichter unter den Visierhelmen verborgen,
wie ein Zug teilnahmsloser Eisenpuppen.
In der schweren Sintflut sah die Hauptstadt aus, als würde
sie auf dem Wasser schwimmen, die alten blauen Fliesen der Stadt reflektierten
wie ein Spiegel.
____________________
In der Nacht zuvor war die Flotte der Westler nach Norden
gesegelt und hatte einen Überraschungsangriff auf den Hafen von Dagu gestartet.
Lian Wei, der Oberbefehlshaber der Beihai-Armee und -Marine, führte dreihundert
Drachen und eintausend kleinere Kriegsschiffe zu einer energischen Verteidigung
an. Sie begannen damit, ihre Drachen aneinanderzuketten, um einen eisernen
Schutzwall über der Hafenmündung zu bilden. Zur Stunde
der Maus am nächsten Abend war jedes einzelne Drachenkriegsschiff unter
dem Kanonenfeuer des Seeungeheuers der Westler gesunken. Es gab keine
Überlebenden.
Die Beihai-Marine hatte sechsunddreißigtausend
Feuerbrandpfeile und zehntausend Schuss Nebensonnen-Eisenpfeile zur Verfügung
gehabt. Am Ende der Schlacht war kein einziger Pfeil mehr übrig ‒ jeder
einzelne war in die wütenden Wellen der bodenlosen Tiefe gestürzt. Als die
Munition zur Neige ging, befahl General Lian seinen Kapitänen, ihre Kriegsschiffe
auf volle Fahrt zu bringen und ihre Schiffe mit ihren eigenen Körpern als
Nebensonnen in die Reihen des Feindes zu rammen.
Ein wütendes Feuer breitete sich über das Meer aus, als
sich loyale Seelen in Erfüllung ihrer Pflicht opferten.
Die Beihai-Marine bombardierte, versenkte und
zerschmetterte fast dreitausend feindliche Kriegsschiffe. Schließlich zwangen
sie die Seeungeheuer der Westler, dem Regen zu trotzen und die Hangars an den
Spitzen ihrer eisernen Tentakel zu öffnen, um die darin versteckten Falkenrüstungen
zu starten. Erst als die zerlumpten feindlichen Falken die Küste erreichten,
stellten sie fest, dass im Hafen Dagu nur noch eine Handvoll aktiver Kämpfer
übrig war.
Zu Beginn der Stunde des Tigers waren
die Westler, die das Ufer durchbrochen hatten, zutiefst verärgert. Um die in
der Schlacht erlittenen Verluste wettzumachen, beschlossen sie, nicht länger in
der Gegend zu bleiben, sondern direkt auf die Hauptstadt vorzurücken. Auf dem
Weg dorthin trafen sie am Rande der Stadt Dongan auf das Schwarze
Eisenbataillon, das Gu Yun in einem einzigen Tag und einer einzigen Nacht
zusammengeschustert hatte.
Die Seestreitkräfte der Westler hatten sich noch nicht von
ihrer katastrophalen und verlustreichen Landung erholt. Sie waren völlig
unvorbereitet und wurden von den achtzig Streitwägen, die den Angriff
anführten, bald zurückgedrängt. Das Schwarze Eisenbataillon ließ dem ersten
Angriff eine zweite Welle folgen: Leichte Kavalleristen ritten aus ihrer
Umzingelung und Falken stiegen hoch über ihnen auf, ihre furchterregenden
Schreie schnitten wie Schwerter durch die Luft.
Die Leibgarde des Papstes wurde plötzlich von Windsäbeln in
den Händen der leichten Kavallerie getroffen und fast in alle Winde zerstreut.
In aller Eile zogen sie sich zu ihren Schiffen im Hafen von Dagu zurück.
Es war Jahre her, dass Groß-Liang eine so erschütternde
Nacht erlebt hatte. Boten mit Militärberichten eilten im Palast ein und aus,
als ob sie zum Markt rennen würden, und kamen in kürzeren Abständen als die
Schläge der Nachtwache. Kein Mensch in der Hauptstadt schlief ruhig bis zum
nächsten Morgen, als mit den ersten Schimmern der Morgendämmerung die
Siegesmeldungen eintrafen.
Es war die erste gute Nachricht seit Tagen. Als Li Feng
dies hörte, wurden ihm die Knie weich, und er schwankte zwischen Lachen und
Tränen.
So wie sich der Himmel nach dem Regen aufklärte, so kam
auch die Hoffnung nach der Not. Der Hai-Fluss schwoll über Nacht an, und ein
unbeschreiblicher Geruch, gemischt mit dem Geruch von Schießpulver und Blut,
erfüllte die Luft. Die Erde war bereits aufgetaut, und die Luftfeuchtigkeit lag
schwer in der Luft. Gu Yun hatte keine Flotte, und die Westler waren in einem
beklagenswerten Zustand, so dass sich beide Streitkräfte nach einer Nacht
erbitterter Kämpfe in ihre jeweiligen Festungen zurückzogen.
Gu Yun saß neben einer Kanone, die noch immer Restwärme
ausstrahlte, sein schwarzer Eisenhelm war zur Seite geworfen, und eine lose
Locke unordentlichen Haares verdeckte sein Gesicht. Er nahm eine Schale mit
Medizin von Chang Geng entgegen und schüttete den Inhalt mit einem Schluck
hinunter.
„Ich habe meine Akupunkturnadeln nicht dabei, aber selbst
wenn ich sie dabei hätte, würde ich es nicht wagen, dich jetzt damit zu stechen“,
sagte Chang Geng.
Nachdem er den Eisenbogen die ganze Nacht hindurch benutzt
hatte, waren seine Handflächen mit tiefen Furchen übersät, und seine Finger
zitterten noch immer vor Müdigkeit. Gu Yun packte ihn am Handgelenk und zog ihn
zu sich. Erst als er feststellte, dass Chang Geng zwar erschöpft, aber
unverletzt war, entspannte er sich. Er winkte mit einer Hand und sagte: „Mach
dir keine Sorgen um mich. Geh und zähle die Verletzten. Der alte Tan hat keinen
Kopf für Zahlen.“
Damit lehnte er sich mit dem Rücken an die Kanone und
nutzte die kleine Auszeit, um seine Augen auszuruhen.
Doch nur wenige Augenblicke später wurde Gu Yun von einem Herold
aus der Kaiserstadt wachgerüttelt.
Der Herold, der herbeigeeilt war, war ein kaiserlicher
Wächter mit einem recht jugendlichen Gesicht. Unter normalen Umständen hätte
jemand seines Ranges kaum Gelegenheit gehabt, Gu Yun zu treffen. Als er den
Grafen des Friedens in natura sah, war er so aufgeregt, dass er sich kaum
zurückhalten konnte. Der junge Soldat galoppierte geradewegs auf Gu Yun zu und
sprang aus dem Sattel ‒ aber sein Fuß muss irgendwo hängen geblieben sein, denn
er verlor das Gleichgewicht und landete mit dem Gesicht genau vor Gu Yuns
Füßen. „Mein Herr!“
Gu Yun zog hastig seine Zehen zurück. „Aiyo, Ihr müsst
nicht so höflich sein.“
„Mein Herr“, antwortete der Herold eifrig, „Seine Majestät
hat mich beauftragt, das nördliche Lager mit Essen und Trinken zu belohnen. Ich
habe ... Ich habe ...“
Wunderbar. In seiner Aufregung hatte er seinen Text
vergessen.
Kein Wunder, dass das nördliche Lager die kaiserliche Garde
verprügelt hatte. Verärgert stand Gu Yun auf und klopfte dem jungen Soldaten
auf den Kopf. „Das braucht Ihr mir nicht zu sagen, Ihr könnt das doch General
Tan überlassen. Sagt seiner Majestät, dass es noch zu früh zum Feiern ist. Das nördliche
Lager hat nur eine begrenzte Anzahl von Truppen. Selbst ich kann nicht mehr
Soldaten herbeizaubern, wenn uns die Männer ausgehen. Wenn bis dahin keine
Verstärkung eintrifft ...“
Der Herold starrte ihn verblüfft an.
Wie es in Die Kunst des Krieges heißt: ‘Führe in der
Schlacht durch Konventionen und siege durch Einfallsreichtum.‘ Die meisten
Menschen erinnerten sich nur an ‘siege durch Einfallsreichtum‘ und dachten,
dass ein berühmter General in der Lage sein musste, sich aus jeder Sackgasse
herauszukämpfen und ein großes Gebäude, das kurz vor dem Einsturz stand, im
Alleingang zu retten ‒ aber das war nicht möglich, es sei denn, Gu Yun konnte
aus Schlamm eine Armee gottgleicher Soldaten formen, die weder aßen noch
tranken.
Jetzt, da die Nachricht von Gu Yuns Sieg in seiner ersten
Schlacht in die Hauptstadt gelangt war, waren die Hofbeamten sicher
überglücklich ‒ aber was kam als Nächstes? Ganz zu schweigen von langfristigen
Zielen wie dem Wettbewerb mit den Westlern auf der großen Skala der nationalen
Stärke, der Materialvorräte und der verfügbaren Ressourcen. Er hatte nur diesen
kleinen Teil der militärischen Macht in seinen Händen ‒ was konnte er schon
tun?
Gu Yun wusste genau, dass dieser Eröffnungskampf, so
beeindruckend er auch erscheinen mochte, in Wahrheit ein letzter Kampf war, bei
dem er mit dem Rücken an der Wand stand.
Er schenkte dem Herold des Kaisers ein grimmiges Lächeln.
Dann ließ er den jungen Mann stehen und schritt zu Tan Hongfei hinüber. Tan Hongfei
hielt einen Windsäbel in der Hand, der an einem Ende flach gedrückt worden war.
Durch die schwarzen Brandspuren an der Spitze war die Hälfte der Inschrift des
Schriftzeichens Lian noch schwach zu erkennen.
Viele Soldaten ritzten ihre Namen in ihre Windsäbel. Auf
diese Weise konnten sie, selbst wenn sie ihre Klinge zur Wartung einreichten,
mit dem Partner wiedervereint werden, der sie durch so viele Kämpfe auf Leben
und Tod begleitet hatte. Sollte der Besitzer einer solchen Waffe im Kampf
fallen und sein Körper nicht mehr zu retten sein, würden seine Waffenbrüder
seinen Windsäbel zurückbringen und einen Krug Wein als Trankopfer vor ihm
ausschütten, damit die Seele ihres Bruders in Frieden ruhen konnte.
Tan Hongfei hob den Windsäbel mit beiden Händen und reichte
ihn Gu Yun. „Marschall.“
Gu Yun nahm die dargebotene Klinge an. Plötzlich spürte er,
dass das Schwarze Eisenbataillon, das sich immer wieder zusammengefunden und
getrennt hatte, trotz seiner vielen Missgeschicke die Nation immer unterstützt
hatte und tief in ihr Fundament eingewoben war. Seine Mitglieder waren wie eine
Handvoll Samen, die in alle Richtungen verstreut waren ‒ man wusste nie, wo ein
hoch aufragender Baum unerwartet in den Himmel sprießen würde.
Chang Geng ging hinter ihm her. „Letzte Nacht haben wir
insgesamt dreizehn Streitwägen verloren. Außerdem wurden fünfhundert Leichte
Kavalleristen im Kampf getötet und fast tausend schwer verwundet. Die
Leichtverletzten wurden nicht mitgezählt, also habe ich sie in meiner
endgültigen Aufstellung nicht berücksichtigt. Außerdem haben wir zwölf Falkenrüstungen
verloren. Die meisten ihrer Goldtanks sind in der Luft explodiert, daher
fürchte ich, dass die Leichen ...“
Gu Yun nickte; diese Opferzahlen waren akzeptabel. „Das
haben wir General Lian zu verdanken.“
„Ich fürchte, es wird einige geben, die darauf drängen,
dass wir heute Morgen während der Gerichtssitzung Friedensgespräche aufnehmen“,
sagte Chang Geng leise.
„Das wird nicht funktionieren“, sagte Gu Yun seufzend. „Die
Ausländer haben gestern eine große Demütigung erlitten. Sie werden jetzt kein
Gesicht für Friedensgespräche haben, und solange sie die Hauptstadt nicht so
gründlich belagert haben, dass wir nicht entkommen könnten, selbst wenn uns
Flügel wachsen würden, werden sie nicht bereit sein, sie zu führen.“
Und das war wahrscheinlich nur noch eine Frage der Zeit.
Chang Geng verstummte für einen Moment. „Ich habe gehört,
dass der letzte Kaiser einer früheren Dynastie eine ähnliche Krise, in der die
Barbaren aus dem Norden angriffen, dadurch bewältigte, dass er sich durch einen
Geheimgang aus der Stadt schlich. Wenn wir die Hauptstadt wirklich nicht
verteidigen können ...“
„Wir verteidigen sie auf jeden Fall bis zum Ende“,
antwortete Gu Yun. „Kennst du den Sonnenlichtpalast westlich der Hauptstadt?“
Chang Geng erschrak.
Gu Yun hob einen Finger an seine Lippen und sprach nicht
weiter. Der Sonnenlichtpalast im Westen der Hauptstadt wurde während der
Herrschaft des Yuanhe-Kaisers erbaut. Der verstorbene Kaiser ertrug kein heißes
Wetter und verbrachte jeden Sommer im Sonnenlichtpalast, um der Hitze zu
entkommen.
Nachdem Li Feng aufgestiegen war, achtete er auf
Einfachheit in allen Bereichen, von Essen und Trinken bis hin zu den täglichen
Ausgaben. Sogar das Kosmetikbudget der Kaiserin und des kaiserlichen Harems
wurde halbiert. Er gönnte sich keine Extravaganzen wie die Jagd oder
Vergnügungsausflüge. Doch obwohl er ein so sparsamer Mensch war, das genaue
Gegenteil seines Vaters, hatte Li Feng dessen Gewohnheit geerbt, jeden Sommer
in die vorübergehende kaiserliche Residenz zu ziehen. Nicht, dass er sich dort
vergnügte ‒ wegen der Schnelligkeit, mit der sich die Regierungsarbeit
auftürmte, eilte er gewöhnlich so früh am Morgen in die Kaiserstadt, dass der
Mond und die Sterne noch am Himmel hingen, nur um noch vor Einbruch der
Dunkelheit zum Sommerpalast zurückzukehren, die Hauptstadt zu erkunden, als ginge
er mit einem Hund spazieren, und gerade rechtzeitig zum Morgenappell
zurückzukehren. Vergiss den Versuch, dem heißen Wetter zu entkommen ‒ bei all
dem Herumlaufen konnte er von Glück sagen, wenn er keinen Hitzschlag bekam.
Wenn man bedenkt, wie sehr sich Li Feng darüber aufregte,
konnte das nur bedeuten, dass ... im Sonnenlichtpalast irgendetwas gelagert
wurde, das eine häufige und persönliche Überwachung erforderte, wenn nicht,
dann müsste etwas mit seinem Kopf nicht stimmen.
Chang Gengs Verstand war scharf wie eh und je, und ihm kam
sofort eine Idee: Die Verteidigungsgeneräle an allen vier Grenzen der Nation
hatten irgendwann einmal privat Violettes Gold gehortet ‒ was war dann mit dem
Kaiser? Chang Geng war erst vor Kurzem an den kaiserlichen Hof gekommen und
hatte die Prüfung der Konten des Finanz- und des Kriegsministeriums noch nicht
abgeschlossen. Aber bei Li Fengs kontrollsüchtiger Persönlichkeit wäre es nicht
verwunderlich, wenn er einen privaten Vorrat an Violettem hätte.
„Dein großer Bruder traut niemandem“, sagte Gu Yun leise, „also
ist das nur meine eigene Vermutung; erzähle es niemandem sonst.“
Chang Geng runzelte die Stirn. „Nun, das wird ein wenig problematisch
... Glaubst du, Li Feng wird um Frieden bitten, wenn die Zeit gekommen ist?“
Gu Yun konnte nicht anders, er brach in Gelächter aus. Er
schüttelte den Kopf und sagte: „Vielleicht, wenn die andere Partei zu ihm kommt
und ihn um Friedensverhandlungen bittet. Aber es ist auch unwahrscheinlich,
dass er davonläuft.“
Chang Geng verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. Er
war von Kopf bis Fuß mit Dreck bedeckt. Das schlammige Wasser, mit dem er in
der Nacht zuvor bespritzt worden war, war getrocknet und hatte ihn in einer
spektakulären Reihe von bunten Farben befleckt. Doch der junge Komturprinz
Yanbei trug die Farben mit gemächlicher Gelassenheit und schritt durch das
Lager, als ob er lediglich einen Nachmittagsspaziergang durch die kaiserlichen
Gärten machen würde. Nach kurzem Überlegen sagte er: „Li Feng fürchtet den Tod
nicht. Er fürchtet etwas anderes.“
Gu Yun konnte nicht anders, als ihm einen Blick zuzuwerfen.
Er erkannte, dass Meister Fenghan recht hatte: Chang Geng schien wirklich immer
völlig unbeirrt zu sein. Plötzlich fragte er: „Seit wann bist du so kühl und
gelassen?“
„Inwiefern bin ich kühl und gelassen? Ehrlich gesagt, bin ich
furchtbar ungestüm“, sagte Chang Geng lachend. „Eigentlich habe ich das von dir
gelernt. Mir ist aufgefallen, dass Yifu immer so tut, als seist du furchtbar
glücklich, wenn du verärgert bist. Wenn du so tust, als ob du fröhlich wärst,
wird der Kummer in deinem Herzen leichter zu ertragen sein. Wenn ich mich also
besonders unruhig fühle, versuche ich, etwas langsamer zu werden, und dabei
merke ich tatsächlich, dass ich ruhiger werde. Oh, und außerdem ist ein Übermaß
an innerer Hitze in der Leber schädlich für die Aufrechterhaltung einer guten
Gesundheit und macht es schwierig ...“
„...einzuschlafen.“ Gu Yun hatte sich mehr als einmal über
diesen Satz geärgert und konnte nun seinen Satz zu Ende bringen. „Wie sehr
liegt dir der Schlaf am Herzen? Außerdem, wann zwinge ich jemals ein Lächeln
auf, wenn ich unglücklich bin?“
Chang Geng hob eine Augenbraue, das Abbild der Ruhe
inmitten des Chaos, als er ihn ansah. Die Worte ‘Was immer du sagst‘ standen
ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Versammle die Truppen für einen taktischen Rückzug.“
Schwach wechselte Gu Yun das Thema. „Schick zuerst die Verwundeten zurück. Es
wird nicht lange dauern, bis die Westler wieder zu sich kommen. Wir werden
einen Hinterhalt legen.“
Nachdem er ein paar Schritte gegangen war, überkam Gu Yun
plötzlich eine starke Erschöpfung. Er musste an das Geschwätz von Chang Geng
von vorhin denken ‒ wer weiß, welcher Betrüger von einem Arzt ihm solche
Quacksalberei beigebracht hatte. Er löste den Weinkrug von seiner Hüfte und
nahm einen Schluck, dann schnallte er sich General Lians Windsäbel auf den
Rücken und pfiff scharf. Ein Schlachtross trabte daraufhin an, und das Trillern
seiner Pfiffe wurde leiser und verwandelte sich launisch in ein
selbstgedichtetes Liedchen. Er bückte sich, um eine winzige gelbe Wildblume aus
dem Gras zu pflücken, dann sprang er auf sein Pferd und rief: „Meine Brüder der
Leichten Kavallerie, steigt auf eure Pferde und folgt mir!“
Die Wildblume in seiner Hand wollte Gu Yun beiläufig in
Chang Gengs Haar stecken, der ihm am nächsten stand. Doch gerade, als er die
Hand hob, wurde er von Chang Gengs Blick gefangen genommen. Zu seiner
Überraschung stellte er fest, dass Chang Gengs Augen ihn die ganze Zeit über
aufmerksam verfolgt hatten. Sein Gesichtsausdruck schien zu verkünden: Selbst
wenn du mir einen roten Schleier auf den Kopf
legen würdest, hätte ich nichts dagegen.
Gu Yun zitterte leicht. Schließlich wagte er es nicht,
diesen Streich zu Ende zu führen, und steckte die Blume stattdessen in Tan Hongfeis
Helm, der die Größe eines Suppentopfes hatte, was eine lebendige Umsetzung des
Ausdrucks ‘eine frische Blume in einem Haufen von du-weißt-schon-was‘ darstellte.
Während die schlauen alten Veteranen des nördlichen Lagers vor Lachen brüllten,
folgte die Leichte Kavallerie in ihren Schwarzen Rüstungen Gu Yuns Fußstapfen
und stürmte, begleitet von einem Chor schriller Pfiffe, davon, um seinem
Beispiel zu folgen. Melodien aller Art, die aus allen Regionen des Landes
stammten, erklangen in rascher Folge. Von seiner Position an der Spitze brüllte
Gu Yun wütend: „Warum kopiert ihr mich? Ihr bringt mich noch dazu, mir in die
Hose zu machen!“
Es war schon seltsam ‒ nach all dem Krawall fühlte er sich
tatsächlich ziemlich erfrischt.
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Anderswo, an Bord des Seeungeheuers der Westler ...
Ein angeschlagener und erschöpfter Herr Ja stieß die
Kabinentür auf und lief direkt in den Hauptmann der Leibwache des Papstes.
„Wie geht es ihm?“, fragte Herr Ja.
„Er ist wach“, antwortete der Kapitän. „Seine Heiligkeit
wollte gerade nach Euch rufen.“
Während der hektischen Seeschlacht wurde die Position des
Papstes von einem Brandpfeil gestreift, und eine Artilleriebatterie an Bord
detonierte mit solcher Wucht, dass der ehrwürdige Befehlshaber auf der Stelle
das Bewusstsein verlor. Die Handlungsunfähigkeit des Papstes war ein
verheerender Schlag für die Marine der Westler, die seither bei jeder Begegnung
mit dem Schwarzen Eisenbataillon eine Tracht Prügel einstecken musste.
Herr Ja stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und
betrat die Kabine. Die Stirn des Papstes war mit einem medizinischen Umschlag
eingerieben, und sein schlaffes, weißes Haar lag verstreut auf dem Kissen, so
dass in den Augenwinkeln feine Leberflecken zu sehen waren.
Herr Ja fiel auf die Knie. „Eure Heiligkeit“, sagte er mit
bestürztem Gesicht, „es tut mir so furchtbar leid ...“.
Der ältere Mann auf dem Bett murmelte, ohne seine Augen zu
öffnen: „Es ist Gu Yun.“
„Ja, es ist Gu Yun. Wir wollten ihn hier festsetzen und
haben sogar Vorbereitungen getroffen, um ihn in der Region Beihai anzugreifen,
aber gestern tauchten die Schwarzen Krähen wie aus dem Nichts auf.“ Herr Ja
hielt inne, offensichtlich frustriert. „Da das Schwarze Eisenbataillon von den
verbündeten Armeen der westlichen Regionen am Jiayu-Pass festgehalten wurde,
war ich zuversichtlich, dass wir Erfolg haben würden, und doch ...“
„Sie haben die Kontrolle über die Frontlinien verloren.“
Herr Ja konnte nicht antworten.
Der Papst lächelte. „Im Laufe unseres Lebens begegnen wir
alle, Feinden, die unbesiegbar zu sein scheinen. Manche sind große
Katastrophen, während andere lediglich eine Charakterprüfung sind. Kennt Ihr
den Unterschied zwischen einer Katastrophe und einer Prüfung?“
Herr Ja starrte ihn verständnislos an.
„Der Unterschied ist folgender: Katastrophen sind
unüberwindbar, während Prüfungen überwunden werden können. Ich glaube, es ist
ganz einfach, die beiden zu unterscheiden. Wir haben die Kommunikationslinien
der Zentralebenen bereits gekappt. Wenn ihre winzige Hauptstadt wirklich über
so viel Kampfkraft verfügen würde, wären die Ereignisse dann so schnell außer
Kontrolle geraten, als wir das Nördliche Lager zur Meuterei anstifteten?“
„Ihr meint ...“
„Gu mag jung sein, aber er hat den größten Teil seines
Lebens auf dem Schlachtfeld verbracht. Lasst Euch nicht von ihm an der Nase
herumführen. Auch wenn er ein unerträglich arroganter Wolfskönig ist, so wurde
er doch aufgehalten und entmannt. Geht; verliert nicht so leicht das Vertrauen.“
An diesem Tag sammelte die Flotte der Westler erneut ihre
Truppen und schickte einen Landungstrupp in den Hafen von Dagu. Bei der Landung
wurden sie erneut einem heftigen Angriff ausgesetzt. Dieses Mal, als sie bei
Tageslicht kämpften, fühlte sich Herr Ja viel sicherer. Unter seinem stetigen
und methodischen Kommando machten die westlichen Soldaten mit ihren belagerten
Gegnern kurzen Prozess und nahmen jede einzelne der verteidigenden Schweren Rüstungseinheiten
gefangen. Es war ein leichter Sieg ‒ doch bevor Herr Ja sich darüber freuen
konnte, klappte er das Visier eines dieser frisch gefangenen „Kriegsgefangenen“
hoch und stellte fest, dass diese Soldaten gar nicht zu Groß-Liangs Rüstungskavallerie
gehörten, sondern ein Haufen Eisenpupen waren!
Die Puppen waren offensichtlich in letzter Minute aus den
Haushalten hoher Beamter und bedeutender Persönlichkeiten der Hauptstadt
rekrutiert worden. Unter dem Visier einer Puppe befand sich sogar eine
totenbleiche Kindermaske: Sie hatte ein großes, rundes Gesicht und grinste sie
mit einem blutigen Schlund aus unsäglichem Spott an.
Ein Soldat der Westler, der seine Wut nicht zügeln konnte,
streckte die Hand aus, um sie herunterzureißen. Herr Ja schrie alarmiert: „Warten
Sie, nicht ...!“
Doch seine Worte kamen zu spät. Die Maske war an einer
dünnen Zündschnur befestigt; beim geringsten Ruck explodierte die Eisenpuppe
mit einem donnernden Knall und sprengte nicht wenige der Soldaten der Westler in
die Luft.
Die Hälfte der zerbrochenen Maske krachte zu Herrn Jas
Füßen, der Mund noch immer zu einem spöttischen Lächeln verzogen.
Als diese Lockvögel ihren Auftrag erfüllt hatten, hatte das
nördliche Lager seinen allgemeinen Rückzug aus dem Hafen längst beendet. Die Flotte
der Westler stürmte wütend in die Stadt, bereit, ihren Zorn mit Blut zu
stillen, fand aber nichts als eine leere Festung vor.
Als die Nachricht vom feindlichen Angriff in Jiangnan die
Hauptstadt erreichte, hatte Fürst Yanbei seinen Männern befohlen, die
Zivilbevölkerung unverzüglich aus den Frontlinien zu evakuieren. Natürlich gab
es einige, die sich standhaft weigerten, ihre Häuser zu verlassen, aber nachdem
ihnen in der ersten Nacht das ohrenbetäubende Dröhnen des Artilleriefeuers in
den Ohren lag, hatten auch sie sich aufgerafft und waren geflohen und nun
längst verschwunden.
In Vorbereitung auf die Ankunft der Westler hatte Gu Yun
nichts als verbrannte Erde zurückgelassen.
Erklärungen:
Kein Ei bleibt unversehrt, wenn das Nest umkippt, 覆巢之下無完卵. Dieses Sprichwort drückt eine tiefe Wahrheit aus: Der Einzelne kann den Folgen einer kollektiven Katastrophe nicht entkommen. So wie Eier zerbrechen, wenn ihr Nest umkippt, bleibt kein Mitglied einer Gruppe während einer familiären Katastrophe oder Krise unversehrt. Es erinnert uns daran, dass unsere Schicksale oft miteinander verwoben sind und dass die Handlungen eines Einzelnen Auswirkungen auf das Ganze haben.
Die Stunde der Maus geht von
12:00 bis 12:30.
Mit der Stunde des Tigers ist 3:00 gemeint.
Mit dem roten Schleier ist ein Brautschleier gemeint. In China heiratet man traditionellerweise in Rot.
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Es geht spannend weiter, sowohl was den Kampf wie auch die Beziehung der zwei Jungs betrifft.
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