Kapitel 63 ~ Das Ende der Stadt; Akt 8; Kampfhymne

Ein Gesandter von den Westlern war mit einem Friedensangebot gekommen.

Dieser eine Gesandte führte dazu, dass sich die kaiserliche Morgenaudienz des Hofes in einen kopfzerbrechenden Streit verwandelte. Kaum war die Audienz beendet, nahm Chang Geng den Arm von Meister Fenghan und machte sich auf den Weg zum Palasttor, ohne auf die Menge der Beamten zu achten, die ihn um seine Meinung bitten wollten und die alle von ihren eigenen Sorgen geplagt waren. In der Hauptstadt herrschte große Besorgnis; die Straßen waren fast menschenleer. Normalerweise wies Gu Yun Huo Dan an, mit seinem Pferd vor dem Palast auf Chang Geng zu warten, aber heute schien Huo Dan aufgehalten worden zu sein und war nirgends zu sehen.

Chang Geng dachte sich nicht viel dabei. Schulter an Schulter mit dem alten Direktor des Lingshu-Instituts schlenderte er zurück zum Grafenanwesen.

In diesen Tagen verließ Meister Fenghan das Lingshu-Institut vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung kaum noch einen Augenblick. Seine Augen waren eingefallen, und seine ganze Person glich nur noch einem vertrockneten Rettich. Nur seine Augen leuchteten mit einem verschlagenen Schimmer ‒ so, als würde man sich die Zähne ausbeißen, wenn man versuchte, in ihn hineinzubeißen.

„Ich danke Euch, Hoheit, für Eure Geduld, einen alten Knacker wie mich mit meinen schwachen Beinen zu begleiten“, seufzte Meister Fenghan. „Gibt es irgendwelche Neuigkeiten über unsere Verstärkung? Wann werden sie eintreffen?“

„Das Chaos an allen vier Grenzen behindert die Bewegungen der fünf Militärregionen“, sagte Chang Geng. „Ihr kennt den derzeitigen Zustand der Regionalgarnisonen. Die Militärbudgets und die Zuteilungen von Violettem Gold sind in jeder Region immer weiter geschrumpft. Die meisten können kaum ein paar Anzüge mit Schwerer Rüstung tragen, daher bestehen sie fast einheitlich aus Leichten Fell-Kavalleristen. Die Leichte Fell-Kavallerie ist schnell auf dem Marsch, flexibel und leicht einzusetzen ‒ aber sie ist auch leicht aufzuhalten. Der Feind braucht nur eine Blockade aus Infanteristen in Schwerer Rüstung oder mit Kriegswagen zu errichten, und jeder weniger erfahrene Befehlshaber wird seine Truppen schnell umzingelt finden. Die Westler können unsere Truppen mit nur wenigen ihrer eigenen Truppen aufhalten.“

„Eure Hoheit, ich schäme mich zu sehr, um mein Gesicht zu zeigen. Das Lingshu-Institut hat seit Jahren nichts Vorzeigbares mehr hervorgebracht.“ Zhang Fenghan schüttelte in Selbstironie den Kopf. „Und hier bin ich nun, ein nutzloser Alter, der sich weigert zu sterben, der die Privilegien seines Amtes genießt, ohne auch nur einen Hauch von Arbeit zu leisten. Ich hatte vor, Seine Majestät nach dem Jahreswechsel von meinem Rücktritt zu unterrichten, doch dann gerät die Nation in diese Krise. Bei diesem Tempo werde ich nicht friedlich in meinem Bett einschlafen können.“

„Meister Fenghan legt das Fundament, auf dem wir tausend Jahre Wohlstand aufbauen werden“, sagte Chang Geng herzlich. „Ihr dürft Euch nicht selbst herabsetzen.“

„Tausend Jahre ... Wird es in tausend Jahren noch ein Groß-Liang geben?“ Zhang Fenghan presste die Lippen aufeinander. „Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ich, nachdem ich dem Lingshu-Institut beigetreten bin, mich von den Angelegenheiten außerhalb meines Fensters abwenden und den Rest meines Lebens umgeben von dampfgetriebenen Maschinen und Eisenrüstungen verbringen könnte, wobei ich mich auf nichts anderes als auf hervorragende Leistungen in meinem Beruf konzentrieren würde. Aber diese Welt ist ein Bienenstock von Aktivitäten. Selbst wenn Gentlemen und Schurken ihre eigenen Wege gehen, kreuzen sich ihre Pfade irgendwann. Je weniger du dich unter die Leute mischen willst ‒ je mehr man sich von der Masse abhebt und ein wenig Größe erreichen will ‒ desto mehr wird man feststellen, dass man überhaupt nichts erreichen kann, selbst wenn das Ziel nur darin bestünde, ein niederer Mechaniker mit ölverschmierten Händen zu sein.“

Chang Geng verstand, dass Meister Fenghan seinem inneren Aufruhr Luft machte, und hatte kein wirkliches Interesse an seiner Antwort. Er lächelte leise, sagte aber nichts weiter.

Der seit zwei Generationen andauernde Konflikt zwischen der kaiserlichen und der militärischen Macht war der Katalysator, der Groß-Liangs Abrutschen in die gegenwärtige prekäre Lage ausgelöst hatte, doch er war nicht der Hauptgrund für seinen Niedergang. Die chronischen Krankheiten der Nation hatten ihr tragisches Schicksal in dem Moment besiegelt, als der Inhalt der Staatskasse von Jahr zu Jahr zu schrumpfen begann.

„Die versteckten Mechanismen des Luftschutzgebietes, die vom Drachenflug-Pavillon aus gesteuert werden, werden jeden Tag angepasst“, sagte Zhang Fenghan. „Die Westler haben Angst, große Formationen von Falkenrüstungen einzusetzen, und wagen es nur, mit Streitwagen auf die Stadt zuzugehen. Trotzdem gibt es eine Grenze für das, was das Luftschutzgebiet leisten kann. Ich habe gehört, dass die Bewohner des Westens jenseits der Stadtmauern hölzerne Drachen an Schnüren steigen lassen ‒ ich fürchte, dass die Vorräte an Eisenpfeilen in den versteckten Mechanismen nach ein paar weiteren Tagen zur Neige gehen werden. Was werden wir dann tun? Hat Marschall Gu einen Plan?“

Selbst wenn man diejenigen mitzählte, denen ein Arm oder ein Bein fehlte, zählte die Zahl der Schwarzen Falkenrüstungen im Nordlager weniger als hundert. Der Ausfall des Luftverteidigungsfeldes würde wahrscheinlich das Ende der Stadt bedeuten.

Chang Geng brummte gelassen als Antwort. „Er weiß es. Er denkt nach.“

Zhang Fenghan, der mit einem Herzen voller Sorgen belastet war, schwankte zwischen Lachen und Tränen. Er wusste nicht, ob er diesen Prinzen Yanbei dafür loben sollte, dass er in seinem jungen Alter einen so heldenhaften Charakter an den Tag legte, oder ob er sich Sorgen machen sollte, dass mit seinem Kopf etwas nicht stimmte. Meister Fenghan dachte, selbst wenn der Himmel vor seiner Nase einstürzen würde, würde der junge Prinz nur ein distanziertes „Verstanden“ von sich geben.

Zhang Fenghan senkte seine Stimme und sagte: „Eure Hoheit, habt Ihr bemerkt, dass Hauptmann Han heute am Hof fehlt? Es geht das Gerücht um, dass Seine Majestät, obwohl er dem Gesandten aus dem Westen seine Wut gezeigt hat, jetzt schon Pläne für eine Verlegung der Hauptstadt schmiedet.“

Chang Geng kicherte, scheinbar nicht überrascht. „Seine Majestät hat nichts dergleichen vor. Wir sind noch nicht in eine Ecke manövriert worden. Ich sehe gerade die Kutsche des Lingshu-Instituts; erlauben Sie, dass ich Ihnen aufhelfe ‒ oh, Onkel Huo ist hier?“

Huo Dan eilte in ihre Richtung. Unbehagen stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Dieser Diener ist zu spät gekommen. Bitte verzeiht mir, Eure Hoheit“, sagte er und schritt auf Chang Geng zu.

„Das macht nichts.“ Chang Geng winkte seine Entschuldigung ab. „Onkel Huo, wurden Sie durch eine Angelegenheit aufgehalten?“

Huo Dan beäugte Chang Geng misstrauisch, während er sprach. „Letzte Nacht wurde der Graf durch einen Pfeil der Westler verwundet. Ich habe es erst heute Morgen erfahren und war gerade auf dem Weg zu Eurer Hoheit!“

Unter den offenen Blicken von Huo Dan und Zhang Fenghan veränderte sich das Gesicht von Chang Geng. Der Prinz, der noch vor wenigen Sekunden lässig spazieren gegangen war, sprang auf sein Pferd und verschwand wie ein Windstoß.

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Außerhalb der neun Tore hatte sich der Schießpulverrauch noch nicht verzogen. Die Truppen der Westler hatten sich kurz nach Tagesanbruch niedergeschlagen zurückgezogen, sodass Gu Yun endlich einen Moment Zeit hatte um durchatmen. Eine Beule zierte einen Teil seiner Schwarzen Eisenrüstung. Die Pfeilspitze war bereits entfernt worden, aber zwei Sanitäter umkreisten ihn noch immer mit Zangen und Scheren und zogen ihm vorsichtig die deformierte Rüstung von der Schulter. Darunter lag ein Wirrwarr aus Stoff, der mit blutigem Fleisch verklebt war.

Chang Geng stürmte hinein, doch kaum hatte er Gu Yun erblickt, musste er den Blick abwenden. Sein Gesichtsausdruck war noch düsterer als der des Verletzten.

„Könnt ihr beiden das nicht endlich hinter euch bringen?“ Gu Yun zischte vor Schmerz. „Strickst hier etwa?“ Er wandte sich an Chang Geng. „Worum geht es?“

Chang Geng antwortete nicht sofort. Er holte tief Luft, trat zu Gu Yun und winkte die beiden Sanitäter weg. Er bückte sich und untersuchte sorgfältig das Stück Rüstung, das in Gu Yuns Schulter steckte. Dann zog er eine fingerlange Schere hervor, legte einen Arm um Gu Yuns Schulter und begann, von der anderen Seite her zu schneiden. Chang Geng arbeitete mit schnellen Bewegungen, und die scharfen Klingen der Schere schnitten durch das Eisen, als ob sie den Schlamm wegkratzten, und lösten dadurch die Splitter des Panzers. Blut strömte heraus und benetzte seine Hand. Chang Gengs ganzes Gesicht war verkniffen, und einen Moment lang konnte er kaum atmen. „Du bist so schwer verletzt ‒ warum hast du mir das nicht gesagt?“

Gu Yun hatte eine Grimasse des Schmerzes gezogen, während die Sanitäter arbeiteten, aber jetzt verdrängte er jede Spur davon aus seinen Zügen. „Das ist gar nichts“, sagte er mit zusammengepresstem Kiefer. „Was hat der Abgesandte der Westler vor dem Hof gesagt?“

„Was erwartest du denn? Er war natürlich nur da, um vor dem Thron heiße Luft zu verbreiten.“ Chang Geng schüttelte seine leicht zitternden Hände aus, bevor er damit fortfuhr, die zersplitterten Stücke der Rüstung zu entfernen, die mit dem trocknenden Blut an Gu Yuns Körper klebten. „Er verlangte, dass wir die 'Verfolgung und Ausbeutung' der Nationen in den westlichen Regionen einstellen, das gesamte Gebiet jenseits des Jiayu-Passes als internationale Handelszone anerkennen, in der die Gesetze ihrer eigenen Nation gelten, und ...“

Endlich wurde die gesamte deformierte Rüstung entfernt. Chang Geng holte beim Anblick von Gu Yuns Verletzung tief Luft, dann rappelte er sich auf und versuchte, sich zu sammeln.

„Was noch?“ Gu Yun zitterte; kalter Schweiß hatte seinen Körper durchnässt. „Mein verehrter Doktor, sag mir nicht, dass du beim Anblick von Blut in Ohnmacht fällst.“

Chang Geng war so steif wie eine Eisenstange. „Ich werde beim Anblick deines Blutes ohnmächtig.“ Er schnappte sich Gu Yuns Weinflasche und nahm zwei große Schlucke, wobei sich sein Kopf so heftig drehte, dass er glaubte, sich übergeben zu müssen. Er zwang sich, zwei weitere Atemzüge zur Beruhigung zu nehmen, dann nahm er eine Schere zur Hand und begann, Gu Yuns Kleidung aufzuschneiden, die so blutverschmiert war, dass er ihre ursprüngliche Farbe nicht mehr erkennen konnte.

„... Und die sechsunddreißig Komtureien entlang der nördlichen Grenze an die achtzehn Stämme abtreten“, fuhr er schließlich fort. „Alles nördlich der Grenze, die sich von der alten westlichen Hauptstadt bis nach Zhili und zur Präfektur You erstreckt. Darüber hinaus verlangen sie, dass Groß-Liang seinen Regierungssitz in die alte östliche Hauptstadt in der Zentralebene verlegt und Prinzessin Hening den achtzehn Stämmen als Geisel übergeben wird. Von nun an soll unsere Regierung den achtzehn Stämmen die Treue halten und einen jährlichen Tribut entrichten ...“

Hening war die einzige Tochter von Li Feng. Sie war erst sieben Jahre alt.

„Blödsinn!“ Gu Yun spuckte vor Wut. Blut begann aus seiner Schulter zu fließen.

„Beweg dich nicht!“, schnauzte Chang Geng, der den blutigen Anblick nicht mehr ertragen konnte.

Die beiden starrten sich an, und Gu Yun hatte einen unruhigen Ausdruck in den Augen. Einen langen Moment später brach er endlich das Schweigen. „Fahre fort.“

„Sie verlangen auch, dass Li Feng Shen Yis Armee an der südlichen Grenze befiehlt, sich von den Inseln im Südmeer zurückzuziehen. Sie verlangen, dass sich die Marine von Jiangnan hinter den Kanal zurückzieht und dass das Land jenseits des Kanals bis zum Ostmeer als 'Fernöstlicher Bezirk' unter der Kontrolle der Westler an sie abgetreten wird.“ Chang Gengs Augen blickten düster, aber seine Hände waren ungemein sanft, als er das Blut von Gu Yuns Wunden abwischte. Er hielt einen Moment inne, dann fuhr er fort. „Dann ist da noch die Wiedergutmachung ...“

Gu Yuns Körper spannte sich an.

„Am Morgen wollte Li Feng den Gesandten auf der Stelle hinrichten, aber die Beamten konnten ihn überreden, den Mann am Leben zu lassen.“ Chang Geng legte eine Hand auf die unverletzte Schulter von Gu Yun. „Ich muss die Wunde säubern. Yifu, darf ich dir etwas geben, um dich zu betäuben?“

Gu Yun schüttelte den Kopf, nein.

„Nur ein kleines bisschen Medizin“, beschwichtigte Chang Geng. „Du hast eine hohe Toleranz, also wirst du nicht lange schlafen. Wenn außerhalb der Stadttore etwas passiert, werde ich sie für dich bewachen ...“

„Mach sie einfach sauber“, unterbrach Gu Yun. „Genug mit dem Geschwätz.“

Chang Geng warf ihm einen langen Blick zu. Es war sinnlos, mit dieser Person zu diskutieren.

In diesem Moment rannte Tan Hongfei herein. „Marschall ...“

Gu Yun hatte sich gerade zu ihm umgedreht, als er einen seltsamen Duft in der Luft wahrnahm. Überrumpelt atmete er ihn ein und wurde sofort schwach. Der weise und mächtige Graf des Friedens hätte nie erwartet, dass Seine Hoheit, der Komturprinz, einen Jianghu-Trick wie das Verstecken geheimer Drogen in seinen Ärmeln kannte ‒ geschweige denn, dass er sie bei ihm anwenden würde!

„Du ...“

Chang Geng blinzelte nicht einmal, als er schnell dünne Nadeln in Gu Yuns Akupunkturpunkte steckte und dann den schlaffen Körper seines Patenonkels festhielt. Tan Hongfei, der mit ansehen musste, wie sein eigener Marschall vor seinen Augen zu Boden ging, erstarrte in der Tür und starrte den Komturprinzen ausdruckslos an.

Chang Geng bedeutete ihm mit einer Geste, den Mund zu halten, dann hob er Gu Yun hoch und legte ihn auf den Rücken, um die Pfeilwunde vorsichtig zu reinigen.

Tan Hongfei traten fast die Augen aus dem Kopf. „Das ... Äh ...“

„Macht euch keine Sorgen ‒ lasst ihn etwas schlafen, dann leidet er weniger.“

Tan Hongfei blinzelte. Vor einiger Zeit hatte er Prinz Yanbei noch als freundlichen Gelehrten gesehen. Später hatte er entdeckt, dass dieser Prinz sowohl auf dem Schlachtfeld als auch abseits davon fähig war, und er begann, ihn zu respektieren, weil er das Gefühl hatte, dass er ein verwandter Geist war ... Erst jetzt spürte Kommandant Tan den ersten Funken einer brennenden Ehrfurcht vor diesem Mann. Tan Hongfei berührte mit seiner Hand seine eigene Wange, wo die Narbe von Gu Yuns Peitsche noch nicht verblasst war. Seine Hoheit hat wirklich Mumm, dachte er.

Chang Geng drehte sich zu ihm um. „Ah, was wolltet Ihr sagen?“

Tan Hongfei fasste sich wieder und sagte eilig: „Eure Hoheit, Seine Majestät ist hier. Seine Kutsche steht vor der Tür. Was sollen wir ...“

Li Feng kam an, während sie noch sprachen, sein Gesicht war verhärmt. Er war lässig gekleidet und wurde nur von Zhu Xiaojiao begleitet. Der Kaiser blickte auf den bewusstlosen Gu Yun hinunter und berührte seine Stirn. „Geht es Onkel gut?“

„Nur eine Fleischwunde.“ Chang Geng verband die Verletzung, wickelte dann eine dünne Robe aus Seide um Gu Yuns Körper und räumte seine Akupunkturnadeln weg. „Ich habe ihm ein Betäubungsmittel verabreicht, sodass er für einige Zeit nicht mehr aufwachen wird. Ich hoffe, Bruder nimmt es mir nicht übel.“ Damit erhob sich Chang Geng, hob Gu Yuns Windsäbel auf und drehte sich um, um aus der Tür zu gehen, ohne ein einziges Stück Rüstung anzulegen.

„Wohin gehst du?“, rief Li Feng ihm hinterher.

„Ich werde die Stadttore an Yifus Stelle bewachen“, sagte Chang Geng. „Selbst wenn ihr Gesandter in der Hauptstadt ist, kann man den Westlern nicht trauen. Sie könnten angreifen, während wir unachtsam sind; man kann nie vorsichtig genug sein.“

Li Feng blieb einen Moment lang steif auf seinem Platz stehen. Dann ergriff er ein Schwert und machte sich auf, Chang Geng zu folgen. Zhu Xiaojiao war schockiert. „Eure Majestät!“

Li Feng ignorierte ihn und kletterte allein auf die Spitze der Stadtmauer. Der Longan-Kaiser hob sein Fernrohr und sah die Zelte der Armee der Westler nicht weit entfernt aufgereiht. Der fruchtbare Boden in der Umgebung der Hauptstadt war mit Narben übersät. Die Straßen jenseits der Stadttore, auf denen noch vor Kurzem Ströme von Pferden und Kutschen geflossen waren, waren nun menschenleer. Eine eingestürzte Ecke der Stadtmauer wurde von zerbrochenen Stücken einer Schwarzen Eisenrüstung gestützt; als er sie betrachtete, wackelte sie bedenklich, blieb aber hartnäckig stehen.

Die einfachen Soldaten des Nordlagers kannten alle Chang Geng und traten vor, um ihn zu begrüßen, aber keiner erkannte Li Feng. Als sie seine elegante Kleidung und seine vornehme Haltung sahen, hielten sie ihn für einen Zivilbeamten und murmelten im Chor den Gruß „Mein Herr“. Die Li-Brüder, deren harmonische Beziehung bestenfalls oberflächlich war, standen Schulter an Schulter auf der Stadtmauer. Von ihren Gesichtern bis zu ihren Figuren glichen sie sich in keinem einzigen Aspekt; ihr familiäres Band war so dünn wie ein Papierfenster, das mit einem Finger zerrissen werden konnte.

„Han Qi sollte bis zum Nachmittag zurück sein“, sagte Li Feng plötzlich.

„Geb die Nachricht an Onkel weiter; sag ihm, er soll jemanden schicken, dem er vertraut, um ihn zu empfangen.“

Chang Geng erkundigte sich nicht nach seinen Absichten, als ob er nicht im Geringsten neugierig wäre. Er stimmte der Bitte kurz zu.

„Warum fragst du nicht, wohin wir Han Qi geschickt haben?“

Chang Geng ließ seinen Blick auf die steinernen Ziegelsteine der Stadtmauer fallen. Nach einem Moment des Schweigens sagte er: „In letzter Zeit habe ich Violettes Gold und andere Militärgüter mit dem Finanzministerium neu aufgeteilt. Ich habe ein paar Unstimmigkeiten bei den Zahlen für das vom Hof erworbene und ausgegebene Violette Gold entdeckt ... Aber vielleicht hat Bruder seine eigenen Vorkehrungen getroffen.“

Als der Longan-Kaiser dies hörte, wusste er, dass Chang Geng das Violette Gold, das er im Geheimen gehortet hatte, längst bemerkt hatte.

„Ah“, begann Li Feng ein wenig unbeholfen. „Im Tor des tugendhaften Triumphs gibt es einen Geheimgang, der zum Sonnenlichtpalast führt. Wir haben Han Qi befohlen, mit einigen Truppen die Stadt durch diesen Durchgang zu verlassen und das geheime Lager im Sonnenlichtpalast zu öffnen, in dem sich ...“ Er hustete, dann fuhr er fort: „Achtzigtausend Kilogramm Violettes Gold befinden, die wir noch nicht verteilt haben. Behalte das für dich.  Der Hof verliert seine Entschlossenheit, und wir fürchten, wenn sie von dem Geheimgang erfahren, werden sie ins Wanken geraten.“

Chang Geng nickte, zeigte aber keine Anzeichen von Überraschung. Li Feng war dabei, seine Kassen zu leeren. Jemand, der so eigensinnig ist wie der Longan-Kaiser, würde niemals Schande über seine Nation bringen, indem er einem anderen Land die Treue schwört. Lieber würde er unter diesen neun Toren begraben werden.

Als Chang Geng verstummte, kam das Gespräch ins Stocken. Eigentlich war das bei den beiden immer so. Abgesehen von politischen Debatten bei Hofe und hohlen Nettigkeiten, die ausgetauscht wurden, wenn Chang Geng kam, um seine Aufwartung zu machen, hatten sich die Li-Brüder wirklich nichts zu sagen.

Schließlich kam Li Feng auf ein Thema zu sprechen: „Wie alt warst du, als du Onkel Shiliu kennengelernt hast?“

Eine Pause. „Zwölf.“

Li Feng brummte anerkennend. „Er hat noch nicht geheiratet und verbringt viel Zeit als Truppenführer im Nordwesten. Er muss ziemlich nachlässig gewesen sein, wenn es um deine Pflege ging?“

Chang Gengs Augen blitzten auf. „Nein, er ist sehr gut darin, sich um Menschen zu kümmern.“

Li Feng blinzelte in die schwachen Lichtspuren am Horizont und erinnerte sich daran, wie auch er mit Gu Yun aufgewachsen war. In seiner Jugend hatte er gelegentlich einen Anflug von Eifersucht verspürt, weil sein kaiserlicher Vater Gu Yun so gut behandelt hatte; er war besser zu ihm, sanfter zu ihm. Aber im Großen und Ganzen hatte Li Feng immer noch eine gute Meinung von seinem jungen kaiserlichen Onkel, auch wenn der Junge nicht oft mit den anderen spielte.

Einst hatte er gedacht, diese jugendlichen Gefühle könnten ein Leben lang anhalten. Doch innerhalb weniger Jahrzehnte hatte sich ihre Beziehung bis zu diesem Punkt verschlechtert.

„A-Min“, sagte Li Feng, „wenn die Stadt fällt, werden wir zu deinen Gunsten auf den Thron verzichten. Nimm den Harem und die Beamten mit, verlasse die Stadt durch die geheimen Tunnel und gründe eine neue Hauptstadt in Luoyang ... Den Rest können wir Schritt für Schritt erledigen. Es wird der Tag kommen, an dem wir unsere Kräfte wieder sammeln können.“

Chang Geng schenkte ihm schließlich einen Blick.

„Und wenn es so weit ist“, sagte Li Feng und starrte mit ruhigen Augen in die Ferne, „musst du den Thron nicht an den Kronprinzen zurückgeben, solange du deinen Nichten und Neffen einen Zufluchtsort bietest.“

Chang Geng schwieg. Nach einer Weile sagte er ruhig und unbeeindruckt: „Bruder, du greifst dir selbst voraus. Unsere Lage ist noch nicht so schlimm.“

Li Feng starrte seinen jüngsten Bruder an. Eine schwache Erinnerung stieg in ihm auf, etwas, das seine Kaiserinmutter ihm gesagt hatte, als er jung war: Alle Frauen der Nördlichen Barbaren sind Schamaninnen, die es verstanden, Gift zu benutzen und die Herzen der Menschen zu verzaubern. Ihre abscheulichen Ausgeburten waren Bestien, die die kaiserliche Blutlinie von Groß-Liang beschmutzten. Später, nachdem der Graf von Anding diesen vierten Prinzen, der sich unter das gemeine Volk verirrt hatte, wiedergefunden und in den Palast zurückgebracht hatte, erlaubte Li Feng dem Jungen zu bleiben, als Zugeständnis an den letzten Wunsch des verstorbenen Kaisers und als Beweis für seinen eigenen Ruf der wohlwollenden Tugendhaftigkeit. Es kostete ihn nichts, außer einer zusätzlichen Zuwendung aus der Abteilung des kaiserlichen Haushaltes, und der kleine Prinz blieb normalerweise aus den Augen und aus dem Sinn.

Erst in diesem Moment entdeckte der Longan-Kaiser, dass er diesen jungen Mann überhaupt nicht einschätzen konnte. Im Angesicht der nationalen Gefahr und einer großen feindlichen Armee blieb er gelassen. Selbst die Aussicht, auf dem Kaisersthron zu sitzen, rührte ihn nicht. Er schien die Kleidung vom letzten Jahr zu tragen ‒ die Säume seiner Ärmel waren durch die Abnutzung dünn geworden ‒, doch er tauschte sie nicht gegen eine frische Garnitur aus. Er war noch rätselhafter als der große Meister Liao Chi vom Nationalen Tempel; er zeigte keine Vorliebe für irgendetwas, als ob ihn nichts auf der Welt bewegen könnte.

Li Feng hatte gerade den Mund geöffnet, um mehr zu sagen, als Zhu Xiaojiao ihn von der Seite her leise daran erinnerte: „Eure Majestät, es ist Zeit, in den Palast zurückzukehren.“ Der Kaiser kam wieder zu sich und übergab sein Schwert an einen Soldaten in der Nähe. Ohne ein Wort zu sagen, klopfte er Chang Geng auf die Schulter. Mit einem letzten Blick auf den herrschsüchtigen Rücken des jungen Mannes wandte er sich zum Gehen.

Nachdem Li Feng gegangen war, erklomm ein reiseerfahrener Mönch die Stadtmauer. Liao Ran.

Alle Mönche des Nationalen Tempels hatten sich ins Innere der Stadt zurückgezogen. Tagsüber rezitierte Liao Ran zusammen mit dem Abt Schriften und betete für die Nation. Nachts unterhielt er Kontakte zu seinen Informanten, die Li Fengs Dienerschaft untersuchten.

Chang Geng warf ihm einen fragenden Blick zu.

Liao Ran schüttelte den Kopf. „Ich bin die ganze Liste durchgegangen, aber alle Diener Seiner Majestät sind sauber. Keiner hatte mit der Schamanin der achtzehn Stämme oder ihrem Gefolge zu tun.“

Chang Geng überlegte einen Moment lang. „Seine Majestät ist von Natur aus paranoid und nicht unfähig, seine eigenen Geheimnisse zu hüten. Die undichte Stelle auf unserer Seite ist kontinuierlich, also muss der Verräter einer seiner engsten Vertrauten sein. Hast du Zhu-Gonggong überprüft?“

Liao Ran schüttelte erneut den Kopf, mit grimmiger Miene ‒ er hatte es getan, aber nichts Ungewöhnliches gefunden.

Chang Geng runzelte die Stirn.

In diesem Moment wachte Gu Yun endlich auf, nachdem er durch Medizin und Akupunktur betäubt worden war. War er so tief eingeschlafen, dass er kaum wusste, welcher Tag es war, als er die Augen öffnete. Erst als er den Schmerz in seiner Schulter spürte, erinnerte er sich mit Verspätung daran, was geschehen war.

Gu Yun kroch aus dem Bett und zog sich an, bereit, sich an Chang Geng zu rächen. Doch kaum war er nach draußen getreten, hörte er einen lauten Knall, der die ganze Hauptstadt erschütterte. Gu Yun stützte sich mit einer Hand an der Stadtmauer ab. Ein Erdbeben?

Oben auf der Mauer drehte Chang Geng den Kopf herum, und ein bösartiger Blick huschte über sein Gesicht. Er hatte immer gedacht, dass der Verräter in der Hauptstadt zu Li Fengs Dienern gehörte. Aber Li Feng war vorsichtig und paranoid ‒ wie konnte er einem einfachen Diener das Geheimnis des Sonnenlichtpalastes verraten?

„Was war das?“, fragte Gu Yun.

„Ich weiß es nicht.“ Chang Geng nahm die Treppe in schnellen Schritten hinunter. „Li Feng war gerade hier. Er sagte, er habe Han Qi befohlen, die Stadt durch einen Geheimgang zu verlassen und Violettes Gold aus dem Sonnenlichtpalast zu transportieren ... Klang das, als käme es aus dem Westen?“

Gu Yun schreckte auf und stellte fest, dass er nun vollkommen wach war.

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Am neunten Tag des fünften Monats wurde das Geheimnis, das im Sonnenlichtpalast verborgen lag, in die Luft gesprengt. Das Friedensangebot der Menschen aus dem fernen Westen war in der Tat eine List, aber sie hatten nicht vor, die Gelegenheit zu nutzen, um die Stadt direkt anzugreifen. Stattdessen schickten sie Truppen aus, um Han Qi im Westen abzufangen.

Nach einem erbitterten Kampf mit den Truppen der Westler hatte sich das Blatt gegen Han Qi gewendet. Er fasste einen schnellen Entschluss und zündete die Zehntausende Kilogramm Violettes Gold an, sprengte den Geheimgang und sorgte dafür, dass kein Tropfen Treibstoff zurückblieb.

Die große Feuersbrunst wütete wie ein Präriefeuer und verschlang den gesamten westlichen Stadtrand. Li Fengs bodenlose Quelle des Violetten Goldes brannte wie ein karmisches Feuer, das aus den Tiefen der Erde heraufbeschworen wurde, und setzte die kaiserlichen Wachen, die zur Eskorte des Violetten Goldes geschickt worden waren, die überraschten Westler und sogar die exquisite Landschaft und die elegante Architektur des Sonnenlichtpalastes in Flammen. Die verräterischen violetten Dämpfe leuchteten über den halben Himmel wie ein verheißungsvolles Omen, als ob eine lebendig gemalte Morgendämmerung am Horizont aufstieg.

Das Herz der Erde brannte, die Hauptstadt zitterte in ihrem Gefolge.

Eine Hitzewand dehnte sich Dutzende von Kilometern in alle Richtungen aus, bis sie allmählich sogar durch die felsenfesten Tore der Hauptstadt im Westen drang. Der milde Frühsommer der Hauptstadt wich einer Hitze, die es mit den Öfen der südlichen Grenze aufnehmen konnte. Der normalerweise nicht wahrnehmbare Duft von Violettem Gold wehte mit dem Westwind heran, und die Bürger der Hauptstadt kamen endlich in den Genuss dieses einzigartigen Geruchs. Es war in der Tat ein sauberer Duft, der schwer zu beschreiben ist. Wie scharfes Kiefernharz, gemischt mit einem Hauch von grasiger Rundheit.

Gu Yun setzte jede ihm verbliebene Schwere Rüstung ein und spannte die Sehne eines jeden Nebensonnenbogens. Doch wie er erwartet hatte, setzte der Hauptteil der Westler-Armee zum Gegenangriff an. Gu Yun wusste nicht, wie viele Männer der Westler-Armee im Feuer verbrannt waren, und er wusste auch nicht, wie lange der Papst bei dieser hohen Zermürbungsrate durchhalten konnte. Die Belagerung hatte lange gedauert, und beide Seiten waren an ihrer Grenze angelangt.

Die erste wilde Angriffswelle kam in der Mitte des Nachmittags. Schwere Rüstungen und Kriegswagen rückten abwechselnd vor, und ein Schuss nach dem anderen dröhnte aus Kanonen und Nebensonnenbögen in einer nahtlosen, heftigen Kakofonie.

 

 

 

Erklärungen:

Der Grund, warum ich das Südchinesische Meer hier als Südmeer bezeichne, ist derselbe wie beim Ostmeer.

Das Südchinesische Meer ist ein Teil des chinesischen Meeres und ein Randmeer des Pazifischen Ozeans in Asien. Im Südwesten grenzt es an den Golf von Thailand. Im Nordwesten liegt der Golf von Tonkin. Es ist damit Teil des Meeresgebietes, das neuerdings mit dem primär politischen Begriff Indopazifik bezeichnet wird.




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