Staubwolken und Kriegsgeschrei drangen von allen Seiten heran. Die Luft wurde heiß und glühend von der großen Feuersbrunst im Westen der Stadt, und der Schweiß rann den Soldaten den Rücken hinunter. Aus der Ferne ertönte das Kreischen einer Falkenrüstung im Flug. Obwohl das Luftschutzgebiet noch nicht vollständig ausgefallen war, hatten die Westler die Geduld verloren ‒ sie schickten unzählige Falkenrüstungen, um die Verteidigungsanlagen mit ihrem Leben herauszufordern.
Diese Armee der Westler wurde von Gu Yun über einen Monat
lang aufgehalten, dann von den Streitkräften der Hauptstadt vor den Toren der
Stadt aufgerieben und von dem Luftschutzgebiet in die Enge getrieben. Jeden Tag
erlitten sie unvorstellbare Verluste, und jeder Tag, den sie in fruchtloser
Arbeit verbrachten, zehrte an der Geduld, die ihre Meister aus dem fernen
Westen für diese östliche Expedition aufbrachten, die über ein Jahrzehnt lang
vorbereitet worden war.
Unterhalb der Stadtmauern ergriff Chang Geng Liao Ran. „Hör
mir zu“, sagte er schnell. „Die Person, die wir suchen, ist auf keinen Fall ein
Palastdiener, und wir haben alle engen Berater von Li Feng mehr als einmal
überprüft. Die vorige Dynastie ist durch Kriecher und Schmeichler zu Fall
gekommen; unsere Dynastie hat nie zugelassen, dass Eunuchen an der Macht sind.
Ganz gleich, was Seine Majestät sonst noch getan hat, er wäre nicht so absurd,
Eunuchen die Leitung des Sonnenlichtpalastes zu überlassen ... Noch könnte
diese Person einer der Hofbeamten sein. Han Qis Abreise versetzte den ganzen
Hof in Angst und Schrecken, und alle spekulierten, dass Seine Majestät zu
fliehen gedachte, doch Li Feng blieb ruhig und sagte nichts. Er hatte die
Absicht, zu meinen Gunsten auf den Thron zu verzichten, doch er hat mir die
Information erst persönlich gegeben, als Han Qi schon fast zurück war ...“
Liao Ran starrte ihn ausdruckslos an.
„Mein kaiserlicher Bruder misstraut Generälen in
Friedenszeiten und Zivilbeamten in Kriegszeiten“, murmelte Chang Geng. „Wer
könnte das sein? Wer ist noch da?“
Liao Rans Finger erstarrten auf den Gebetsperlen, die er
unbewusst gedreht hatte, und er holte tief Luft. Dieser bedeutende Mönch, der
so sehr der Reinkarnation eines buddhistischen Lotus glich, hatte plötzlich
einen so ernsten Gesichtsausdruck, dass er wie ein Leichnam aussah.
Der schwere Blick von Chang Geng richtete sich auf ihn.
Langsam, jedes Wort aussprechend, sagte er: „Der Nationale Tempel liegt im
Westen der Stadt.“
Ein verirrter Sprengsatz landete in der Nähe der beiden, und
sowohl Chang Geng als auch Liao Ran wurden durch die Wucht der Explosion von
den Füßen geschleudert. Chang Geng taumelte aufrecht, aber die Gebetsperlen,
die der Mönch um den Hals trug, rissen bei dem Aufprall von ihrer Schnur.
Die alten Holzperlen fielen in den elenden Staub der
Sterblichen.
Chang Geng zerrte Liao Ran am Kragen hoch und half ihm, sich
aufzurichten. „Steh auf, lass uns gehen. Wenn wir den Falschen töten, rechne
ich das auf meine Kappe!“
Liao Ran schüttelte wie aus einem Reflex heraus den Kopf. Er
hatte gedacht, dass er nach seinen vielen Jahren der Kultivierung die Freuden
und Leiden der Menschenwelt bereits durchschaut hatte. Aber in diesem Moment,
als er den Dämonen am letzten Tag des Dharma begegnete,
entdeckte er schließlich, dass die Shunyata, die
er hatte, um die physische Welt zu überwinden, nur übertriebene Illusionen der
Selbstgerechtigkeit waren.
Chang Geng schubste Liao Ran und starrte dem blassen Mönch
in die verängstigten Augen. „Ich habe keine Angst vor karmischer Vergeltung.
Ich werde mich darum kümmern. Großer Meister, haltet mich nicht auf, gebt mir
auch nicht die Schuld.“ Als Chang Geng noch jung und unschuldig gewesen war,
hatte er bereits die ganze Palette der schrecklichen Vergeltung erlitten, die
die Welt zu bieten hatte. Es gab nichts in dieser oder der nächsten Welt, was
ihn hätte aufhalten können.
„Ich werde mir ein paar Männer von Yifu ausleihen“, sagte
Chang Geng.
Liao Ran war immer noch wie erstarrt. Der junge Prinz machte
eine merkwürdige Geste ‒ er rollte seinen Daumen ein und drückte seine
Handfläche leicht nach unten. Die weiten Ärmel seiner Robe schnitten mit seinen
Bewegungen durch die Luft, und die metallischen Stickereien blitzten auf wie
silberne Drachenfische, die über die Oberfläche eines Flusses schwimmen ‒ wenn
die Zeiten wohlhabend sind, begnügen wir uns damit, das Land zu bestellen,
unsere Bücher zu studieren und die Tiefen der Jianghu zu durchstreifen.
Liao Rans ganzer Körper zitterte. Nach einer langen Pause
hob er zitternd die Hände, presste die Handflächen aneinander und verbeugte
sich in Chang Gengs Richtung ‒ wenn das Chaos droht und der Abgrund naht,
werden wir tausend Tode sterben, um die Menschen zu retten. Dieser Weg wird ‘Linyuan‘
genannt ‒ sich dem Abgrund nähern.
Chang Geng gluckste leise. „Falscher Mönch.“ Mit diesen
Worten drehte er sich um und lief zum Stadttor.
Liao Ran liefen die Tränen über das Gesicht.
Wer kein Leid erfahren hat, glaubt weder an Gott noch an
Buddha.
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Die wenigen Schwarzen Falken, die überlebt hatten, schwebten
alle in der Luft. Gu Yun hatte jeden Rest an Feuerkraft in der Hauptstadt
zusammengetragen und ließ sie nun in einem letzten verzweifelten Kampf von den
Stadtmauern herabprasseln. Innerhalb des Stadttors standen Infanteristen in Schwerer
Rüstung bereit, und zum ersten Mal sah Chang Geng, wie Gu Yun sein Leichtes
Fell gegen eine Schwere Rüstung tauschte. Sein blutleeres Gesicht schien etwas
von der grenzenlosen, felsenfesten Farbe des schwarzen Eisens um ihn herum
anzunehmen.
Als seine Leibwache die Ankunft von Prinz Yanbei meldete,
riss Gu Yun den Kopf herum, und seine Miene war finsterer, als wenn man ihm
einen Pfeil aus der Schulter zog. Er schritt vorwärts und packte Chang Gengs
Arm in seinen eisernen Handschuhen. „Was machst du hier hinten?“
„Wie sieht's aus?“, fragte Chang Geng. „Die Leute aus dem
fernen Westen verlieren die Geduld. Was sind deine Pläne?“
Gu Yun sagte nichts, als er Chang Geng von der Stadtmauer
herunterzog. Seine Antwort war in seinem Schweigen klar: Was bleibt uns
anderes übrig, als unsere Position bis zum Ende zu verteidigen?
„Der Angriff auf Hauptmann Han Qi war kein Zufall. In der
Nähe von Li Feng gibt es einen Verräter“, sagte Chang Geng. „Yifu, stell mir
eine Schwadron Wachen zur Verfügung. Ich werde die versteckte Gefahr, die in
der Stadt lauert, beseitigen. Wenn unsere Feinde weiterhin in der Lage sind,
sich von innen und außen zu koordinieren, wird es nur eine Frage der Zeit sein,
bis die Stadt fällt ...“
„Chang Geng.“ Gu Yun wischte sich seine gewohnte
Respektlosigkeit aus dem Gesicht. „Eure Hoheit, ich werde eine Schwadron von Wachen
schicken, die dich wegbegleiten. Pass auf deiner Reise gut auf dich auf und
komm nicht wieder zurück.“
Verräter hin oder her, es war wahrscheinlich nur eine Frage
der Zeit, bis die Stadt fiel.
Chang Gengs Augenbraue hob sich. Er hatte das Gefühl, dass
Gu Yun nicht nur „wegbringen“ von den Toren der Hauptstadt und in die Stadt
selbst meinte.
Ein gewaltiges Krachen kam von hinten. Ein schwerer
Artillerieschlag der Westler war in die Stadtmauer eingeschlagen und hatte das
Tor, das jahrhundertelang uneinnehmbar gewesen war, zum Beben gebracht. Die
gesprenkelte Außenfläche der Mauer bröckelte kläglich ab und legte die Schwarzen
Eisenbalken und die ineinandergreifenden Eisenzahnräder im Inneren frei. Das
Gesicht der Stadtmauer wurde abgetragen und enthüllte das furchterregende
Fleisch und Blut darunter.
Der kopflose Leichnam eines Schwarzen Falken stürzte in der
Nähe zu Boden. Gu Yun zog Chang Geng in die Sicherheit seiner schwer
gepanzerten Umarmung, als hinter ihm ein riesiger Steinbrocken herabstürzte,
dessen lose Trümmer mit einer unharmonischen Kakofonie auf das Schwarze Eisen
prallten. Die beiden waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und
atmeten praktisch dieselbe Luft. So nah waren sie sich nicht mehr gewesen, seit
Chang Geng begonnen hatte, absichtlich Abstand zu halten. Gu Yuns Atem ging
stechend ‒ vielleicht hatte er Fieber ‒, doch sein Blick war scharf und hell
wie immer.
„Was hat Seine Majestät noch gesagt, als er hier war?“,
fragte Gu Yun, und seine Worte drangen im Schnelldurchlauf an Chang Gengs Ohr. „Tu,
was er gesagt hat, geh!“
Als Li Feng gekommen war, war Gu Yun bewusstlos. Die beiden
hatten sich nicht einmal zu Gesicht bekommen. Der Prinz und der Untertan hatten
ständig über die Beweggründe des anderen spekuliert, immer misstrauisch und auf
der Hut unter einer Fassade der gestörten Harmonie. Aber in der extremen Zeit
der Nation verstanden beide, was der andere dachte.
Die Pupillen von Chang Geng verengten sich. Er griff in die Schwere
Rüstung, zog Gu Yun am Hals herunter und drückte ihm, alle Vorsicht in den Wind
schlagend, einen Kuss auf die vom Wind aufgewühlten Lippen.
Es war das erste Mal, dass er Gu Yun gekostet hatte, während
sie beide nüchtern waren. Der Kuss brannte, als stünde er kurz vor der
Selbstverbrennung, und er hatte den schwachen Geruch von Blut an sich. Chang
Gengs Herz pochte so stark in seiner Brust, dass er das Gefühl hatte, es würde
zerspringen ‒ und das nicht wegen eines falschen Gefühls von honigsüßer Freude,
wie es in Liebesgeschichten beschrieben wird. Stattdessen brauste in seinem
Herzen ein Flächenbrand auf, der Himmel und Erde verschlingen konnte, ein
wütendes Inferno, das in sterblichem Fleisch gefangen war und kurz davor stand,
aus seiner Umklammerung auszubrechen und die Gegenwart und Zukunft dieser
Nation zu verschlingen, die am Rande der Zerstörung stand.
Der Moment fühlte sich so lang an wie Hunderte von
Jahrhunderten, aber kürzer als ein Wimpernschlag.
Gu Yun zerrte Chang Geng von sich weg. Die menschliche Kraft
war der Macht der Schweren Rüstung aus Schwarzem Eisen nicht gewachsen. Aber er
verlor weder die Beherrschung noch warf er Chang Geng wahllos zur Seite.
Behutsam öffnete er seine eisernen Handschuhe und behandelte Chang Geng wie
etwas Kostbares, als er ihn ein paar Schritte entfernt absetzte.
Könnte brennende Hingabe in verzweifelter Lage ohne tausend
verschiedene Fesseln und Barrieren der Etikette selbst Gu Yuns eisernes Herz
schmelzen? Wenn er bereit war, auf diesen Stadtmauern zu sterben, würde die
letzte Person, deren Lippen er in diesem Leben auf den seinen spürte, ihm das
Gefühl ersparen, dass er absolut nichts Wertvolles zurückgelassen hatte, als er
sich auf den Weg zu den Gelben Quellen machte?
Würde sie ihm Trost spenden?
Oder würde es ... einfach nur absurd erscheinen?
In diesem Moment gab es niemanden auf der Welt, der auch nur
einen einzigen von Gu Yuns Gedanken aus seinem hübschen Gesicht lesen konnte.
Chang Geng richtete seinen Blick auf ihn und sprach in einem
Ton, der so ruhig war wie stilles Wasser. „Zixi, ich muss den Verräter in der
Stadt abfangen, deshalb kann ich dir hier nicht länger Gesellschaft leisten.
Wenn dir heute etwas zustößt ...“ Ein schwaches Lächeln erschien auf seinem
Gesicht. Er schüttelte den Kopf und beschloss, dass Worte wie ‚schwöre ich,
dass ich nicht allein weiterleben werde‘ ihn zu schwach erscheinen lassen
würden. Gu Yun würde ihn auslachen. Aber es wäre kein leeres Versprechen
gewesen ‒ oder sollte er mit dem Wu'ergu als seinem engsten Gefährten ein
sinnloses Dasein fristen?
So sehr hasste er sich selbst nicht.
Gu Yun holte tief Luft. „Alter Tan!“ Ein Schwarzer Falke kreischte
von oben herab ‒ Tan Hongfei. Gu Yun gab seine Befehle: „Stellt eine Schwadron Leichte
Fell-Kavalleristen zusammen. Sie werden Seine Hoheit persönlich eskortieren.“
Ohne einen Blick zurückzuwerfen, kletterte er die Stadtmauer hinauf.
Feuerbrandpfeile, die auf Nebensonnenbögen geladen waren,
sausten in sauberen Bögen durch die Luft und trafen die angreifenden westlichen
Falken mitten in der Luft in einem heftigen Zusammenstoß ‒ dies war die letzte
Ladung Feuerbrandpfeile, die das Lingshu-Institut geliefert hatte.
Ihr Feind baute eine Leiter aus Menschenfleisch, eine Brücke
aus versunkenen Leichen, und warf sich in endlosen Wellen vorwärts, ein
rücksichtsloser Angriff. Ein Falke der Westler nutzte die verstümmelten
Überreste eines Kameraden als Deckung, um an der Reihe der Nebensonnenbögen auf
der Mauer vorbeizuschießen und eine Kanonenexplosion in Richtung Stadtzentrum
abzufeuern, die den Drachenflug-Pavillon traf. Ein Schwarzer Falke kollidierte
mit dem Angreifer. Einer der eisernen Flügel des Schwarzen Falken war defekt,
und dicker, dunkler Rauch quoll aus der Rückseite seiner Rüstung. Er hatte
keine einzige Waffe mehr und konnte seinen Feind nur noch an den Schultern
festhalten, sodass sie beide vom Himmel stürzten. Bevor sie auf dem Boden
aufschlugen, explodierte der überladene Goldtank des Falken, und das kurze
Aufblitzen der entstehenden Flammen verschlang sowohl den Schwarzen Falken als
auch seinen Feind, den Westler.
Gegenseitige Zerstörung.
Nach dem Kanonentreffer schwankte die Mondschein-Plattform
des Drachenflug-Pavillons hin und her, bevor sie mit einem lauten Krachen
zusammenbrach. Jetzt waren vom großen Yunmeng-Ausblick nur noch seine
zerbröckelnden Ruinen zu sehen. Die große Hauptstadt, die hundert Jahre
Wohlstand erlebt hatte, die glorreichen Träume von der Ewigkeit, die über den
roten Wänden und goldenen Kacheln schwebten, stürzte nun unter dem Zerspringen
von farbigem Glas zu Boden und wurde zu Staub.
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In der großen Audienzhalle herrschte ein heilloses
Durcheinander. Zhu Xiaojiao stolperte und warf sich Li Feng zu Füßen, wobei er
seine Worte schluchzend herauswürgte. „Eure Majestät, die neun Tore stehen kurz
vor dem Einsturz; bitte verlegt den Ort! Dieser Diener hat seinem Yizi bereits befohlen, eine Kutsche und bürgerliche
Kleidung vorzubereiten und am Nordtor zu warten. Hundertdreißig kaiserliche
Wachen bleiben im Palast. Sie würden ihr Leben geben, damit Eure Majestät die
Belagerung durchbrechen kann ...“
Li Feng hob einen Fuß und warf ihn mit einem Fußtritt zu
Boden. „Wie kann ein Diener es wagen, Entscheidungen im Namen seines Herrn zu
treffen! Raus hier!“ Er wandte sich wieder dem Rest des Raumes zu. „Bringt uns
das Schwert Shangfang!“
Als Wang Guo dies hörte, sank er in einer Verbeugung auf den
Boden. „Eure Majestät, Ihr müsst Euch das gut überlegen! Solange es unserem
Herrn und Herrscher gut geht, bleiben die Grundlagen des Staates erhalten. In
der Zukunft wird es ...“
Während er sprach, reichte eine kaiserliche Wache dem Kaiser
mit beiden Händen das Schwert Shangfang. Li Feng zog es und schlug dem
kaiserlichen Onkel Wang mit einem Stoß den schwarzen Jinxian-Hut vom Kopf, dann schritt er zur
Tür.
Zhu Xiaojiao rannte ihm hinterher. Wie eine Schafherde, die
einen Leithammel gefunden hatte, der sie führte, folgten die verängstigten
Minister und Beamten Li Feng im Gänsemarsch. Vor dem Nordtor hatten die
kaiserlichen Wachen Zhu Xiaojiaos puderzuckergesichtige Patensöhne zur Seite
gedrängt und riefen Zhu Xiaojiao in Panik zu.
„Unverschämtheit!“, schrie Zhu Xiaojiao mit seiner hohen
Stimme. „Wie kannst du es wagen!“ Immerhin war dieser Eunuch ein Liebling des
Kaisers. Die kaiserlichen Wachen zögerten und ließen versehentlich die beiden Lustknaben an sich vorbeilaufen, um hineinzustürmen.
Zur gleichen Zeit kam ihnen der große Meister Liao Chi vom Nationalen Tempel
entgegen, der eine Schar von Mönchen in Kriegerkleidung anführte. Er blieb vor
Li Feng stehen.
Li Fengs strenge Gesichtszüge entspannten sich, doch gerade
als er den großen Meister Liao Chi begrüßen wollte, hob plötzlich einer von Zhu
Xiaojiaos puderzuckergesichtigen Patensöhnen den Kopf, eine Maske der Blutgier
war auf seinem zuvor unterwürfigen Gesicht zusehen. Aus seiner Position an den
Fersen von Zhu Xiaojiao, fünf Schritte vom Longan-Kaiser entfernt, stieß er
einen Blaspfeil aus seinem geöffneten Mund.
Einen Moment lang waren alle zu geschockt, um zu reagieren.
Im kritischsten Moment stürzte sich Zhu Xiaojiao mit einem
Schrei nach vorne. Seine breite Gestalt krachte in Li Fengs Rücken, als er den
tödlichen Angriff mit seinem eigenen Körper abwehrte. Li Feng taumelte und fiel
fast in Liao Chis Arme. Er drehte sich um, eine Mischung aus Schock und Wut
durchströmte ihn. Zhu Xiaojiaos Augen waren weit aufgerissen, als ob er immer
noch nicht glauben würde, dass sich sein gutmütiger Patensohn in einen Mörder
verwandelt hatte. Der Körper des alten Eunuchen zuckte wie eine hölzerne
Marionette an Fäden, und er hauchte sein Leben aus, ohne ein einziges Wort mehr
zu sagen.
Li Feng blieb der Atem in der Kehle stecken. Doch im selben
Moment hörte er hinter sich ein „Amitabha Buddha“. Bevor der Longan-Kaiser zu
trauern beginnen konnte, wurde eine eisige Hand an seine Kehle gedrückt.
Versteckt in seinem Ärmel trug der große Meister Liao Chi eine
Eisenklaue. Diese monströse Hand, die mit Leichtigkeit Stein zertrümmern
konnte, packte den zerbrechlichen Hals des Longan-Kaisers, während das Schwert Shangfang
klappernd auf den Boden fiel.
Die Beamten und die kaiserliche Garde waren alle sprachlos.
Jiang Chong, ein gebrechlicher Gelehrter, der nicht einmal die Kraft hatte, ein
Huhn zu binden, fand irgendwie den Mut, vorzutreten und Liao Chi zu
konfrontieren. „Abt seid Ihr verrückt geworden?“
Liao Chi hob den Kopf und sah ihn an, immer noch mit dem
melancholischen Ausdruck, der sein Gesicht nie verließ. Er gluckste. „Amitabha
Buddha, dieser bescheidene Mönch ist nicht verrückt geworden. Meister Jiang, du
warst vielleicht noch nicht einmal geboren, als der Wu-Kaiser rücksichtslos die
Kraft seines Militärs erschöpfte, um sein Schwarzes Eisenschwert im Krieg gegen
seine Nachbarn an allen vier Grenzen zu wetzen.“
„Was ...“
Einer von Liao Chis „Krieger-Mönchen“ trat vor und sprach
eine Reihe von Silben zu Liao Chi in einer Sprache, die Jiang Chong nicht
verstand. Augenblicke später tauchten aus allen Richtungen mehrere
Infanteristen in Schwerer Rüstung auf und formierten sich hinter den Mönchen.
Der Minister für Staatszeremoniell rief schockiert aus: „Ein Mann aus Dong Ying!“
Liao Chi lachte wieder. „Nach dem Gold-Konsolidierungserlass
vom Wu-Kaiser starben alle sechzehn Mitglieder meiner Familie durch die Hand
seiner schwarzen Krähen, und ich wurde allein gelassen, um ein sinnloses Dasein
zu fristen. Ich fand mich in Eurem geschätzten Staat wieder, und dank der
allgemeinen Begnadigung, die zur Zeit der Heirat des ehemaligen Grafen Gu mit
der ältesten Prinzessin gewährt wurde, wurde ich ein freier Mann. Ich brach
alle Verbindungen mit der säkularen Welt ab und machte das endlose Studium bei
Lampenlicht zu meinem ständigen Begleiter. Nach sechsundvierzig Jahren mühsamer
Arbeit ist dieser Tag nun endlich gekommen.“
Li Feng sprach stockend durch den kalten Griff um seine
Kehle. „Du ... bist ein Nachkomme dieser verdammenswerten Violetten Goldschmuggler!“
„Schmuggler“, wiederholte Liao Chi mit einem Lächeln, das
seine Augen nicht erreichte. „Das ist richtig. Das Violette Gold ist an allem
schuld. Eure Majestät, Eure Zunge ist scharf und Euer Herz ist aus Stein, aber
sind Eure Knochen noch dieselben? Bitte begleiten Sie mich zum Rotkopfdrachen.“
„Wir ...“, begann Li Feng.
„Eure Majestät glaubt an meinen Buddha“, sagte Liao Chi. „Wenn
Ihr an den Buddha glaubt, dann glaubt Ihr auch an diesen bescheidenen Mönch. Es
gibt kaum einen Unterschied.“
___________________________
Liao Chi schob Li Feng auf einen Rotkopfdrachen und befahl
seinen Untergebenen, das aufgerollte Drachenbanner von der kaiserlichen Kutsche
zu nehmen und es am Heck des Schiffes aufzuhängen.
„Schneidet die Seile durch und lasst den Drachen los“, sagte
Liao Chi. „Verbreitet die Nachricht, dass Seine Majestät die Stadt verlassen
und auf dem Luftweg fliehen will!“
„Wie kannst du es wagen, du Schurke!“, brüllte Jiang Chong.
Liao Chi lachte laut auf. „Jeder, der einen Kaisermord
begehen möchte, möge bitte vortreten!“
In diesem Moment ertönte ein lautes Brüllen aus der Kehle
eines Mannes in einiger Entfernung. Liao Chi schreckte auf und drehte sich um.
Auf den Trümmern der Mondschein-Plattform stand Liao Ran. Die Kehle des stummen
Mönchs war seit seiner Geburt missgebildet. Selbst wenn er all seine Kraft
aufbrachte, konnte er nur einen wortlosen Schrei hervorbringen. Es war ein
ziemlich unelegantes Geräusch, und dementsprechend hatte niemand, der den großen
Meister Liao Ran kannte, ihn jemals einen Laut von sich geben hören. Sein Bild
vor allen war anmutig wie eine kühle Brise, ein Ausdruck des Mitgefühls immer
auf seinem Gesicht.
Der frühere Abt des Nationalen Tempels hatte ihn als
ausgesetzten Säugling aufgenommen, aber es war sein Shixiong Liao Chi, der ihn
aufzog. Er war ein widerspenstiges Kind, das nicht gerade wie ein richtiger
Mönch aussah, und hatte sich mit kaum mehr als zehn Jahren aus dem Tempel geschlichen,
um in der Jianghu umherzuwandern und sich sogar dem Linyuan-Pavillon
anzuschließen. Und doch ... Seine jugendliche Zuneigung zu seinem Shixiong
mochte mit der Zeit verblasst sein, aber sie hatte ihn nie ganz verlassen.
„Shixiong“, winkte Liao Ran ihn zu sich, „es ist noch nicht
zu spät, um ans Ufer zurückzukehren.“
Liao Chi starrte den Shidi, den er seit seiner Kindheit
aufgezogen hatte, mit einem komplizierten Gesichtsausdruck an; auch er konnte
dem Sog der Nostalgie nicht widerstehen. Nach einem kurzen Moment der Ablenkung
murmelte er zur Antwort: „Der Fluss ist bereits ausgetrocknet, wo ist das ...“
Bevor das Wort Ufer seinen Mund verlassen konnte, flog in
dem kurzen Augenblick, in dem Liao Chi seine Deckung senkte, ein
handtellergroßer Bolzen aus einem unmöglichen Winkel heraus und vergrub sich
sauber in seiner Kehle.
Alle schrien vor Schreck auf. Ein Schwarzer Falke flog im
Tiefflug durch die Luft auf sie zu. Auf dem Rücken des Falken stehend, hielt
Chang Geng eine Armbrust, deren Sehne noch immer vibrierte. Mit seinem
Windsäbel in der Hand wehrte der Schwarze Falke ‒ Tan Hongfei ‒ zwei weitere
Angriffe der Dong Ying-Kriegermönche mit einer Bewegung seines eisernen Arms
ab.
„Worauf wartet ihr denn noch?“, brüllte Jiang Chong. „Beschützt
Seine Majestät!“
Die kaiserliche Garde schwärmte aus, und eine Schwadron Leichter
Fell-Kavalleristen in ihren Schwarzen Eisenrüstungen stürmte durch eine enge
Gasse herein. Li Feng stieß Liao Chi weg, und der Körper des bedeutendsten
Mönchs seiner Generation purzelte vom Deck des Rotkopfdrachen.
Liao Ran kniete am Boden zerstört in den Trümmern.
Nirgendwo in diesem Land, nirgendwo auf dieser Welt, die im
Osten und Westen von Ozeanen begrenzt war und sich im Norden und Süden endlos
ausdehnte, gab es Platz für einen einzigen winzigen Schrein, weit weg vom Staub
der Sterblichen.
Die Dong Ying-Kriegermönche und die kaiserliche Garde waren
bald in einen chaotischen Kampf verwickelt. Ein Infanterist in Schwerer
Rüstung, der mit Liao Chi gekommen war, feuerte seine Kanone in den Himmel, wodurch
Tan Hongfei senkrecht in die Tiefe stürzte. Chang Geng sprang flink von seinem
Rücken und landete auf einem Knie, die beiden trennten sich, während Trümmer
durch die Luft flogen.
Chang Geng begegnete kurz Li Fengs Blick, als er seinen
Nebensonnen-Langbogen spannte, sich mit dem Rücken an eine Wand presste und die
eiserne Bogensehne bis zum Anschlag spannte, wobei sich der Bogen wie der
Vollmond krümmte.
Mit einem scharfen Kreischen, das durch die Zähne aller
Anwesenden vibrierte, durchschlug sein Pfeil den Goldtank der Schweren Rüstung.
Er sprang aus der Reichweite des explodierenden Goldtanks. Der Rotkopfdrachen wurde
von dem heißen Luftstoß in die Höhe geschleudert.
Li Feng hielt sich an der Reling fest. „Tan Hongfei, starte
dieses verdammte Ding und bring uns zu den Stadttoren!“
Erschrocken blickte Tan Hongfei zögernd zu Chang Geng. Chang
Gengs Blick war finster, aber sein Schweigen bedeutete eine stillschweigende
Erlaubnis.
Der Rotkopfdrachen brachte den Kaiser zu den Stadttoren,
während über hundert kaiserliche Wachen und alle wichtigen Beamten in einer
kurvenreichen Prozession zu Fuß folgten. Zwischen dem Drachenflug-Pavillon und
den Stadttoren lagen sechs Kilometer Blausteinstraße. Während sie vorrückten,
strömten immer mehr Bürger und Flüchtlinge, die in die Hauptstadt geflohen
waren, von beiden Seiten der Straße herbei, um sich ihnen anzuschließen, wie
Flüsse, die auf das Meer treffen.
Gleichzeitig geriet die Verteidigung der Stadtmauern
endgültig ins Wanken. Das Luftschutzgebiet war stumm geworden, und die
Streitkräfte der Hauptstadt hatten die letzten ihrer Feuerbrandpfeile
abgefeuert.
Von der Stadtmauer aus rief Gu Yun den Befehl, die Tore zu
öffnen.
Reihen von Infanteristen in ihren Schweren Rüstungen aus
Schwarzem Eisen, die schon lange auf diesen Moment gewartet hatten,
marschierten durch. Gu Yun, der an der Spitze stand, gab den verletzten
Soldaten, die die Mechanismen auf der Mauer bedienten, ein Handzeichen, und das
Tor schloss sich langsam hinter der Formation der Schweren Rüstung.
Gu Yun klappte sein eisernes Visier herunter. Einer nach dem
anderen folgten die Infanteristen in Schwerer Rüstung hinter ihm.
Erklärungen:
… am letzten Tag des Dharma: Der letzte Tag des Dharma ist im ostasiatischen
buddhistischen Glauben das letzte der drei Zeitalter des Buddhismus, eine
zehntausendjährige Periode, in der die Gesellschaft im Chaos versinkt und die
Lehren des Shakyamuni Buddha ihre Wirkung verlieren.
Das Shunyata, 四大皆空,
ist auch übersetzbar mit Leerheit. Es bedeutet das alles leer und ist und ist
damit eine zentrale Lehre des Buddhismus.
Die Gelben Quellen, 黄泉,
huangquan, bilden in der traditionellen chinesischen Mythologie die Unterwelt.
Yizi, 义子,
heißt übersetzt „Patenkind/Patensohn“.
Jinxian-Hut:
(Ich habe leider keine Ahnung, wie ich diesen Hut beschreiben
soll, deshalb habe ich ein Bild eingefügt, damit ihr ihn euch vorstellen
könnt.)
Ein Lustknabe (im chinesichen 娈宠, Luan Chong) ist ein junger Mann, der eine sexuelle Beziehung mit einem (meist homosexuellen) Mann hat und dann auch oft von ihm gehalten wird.
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Okay, den Maulwurf haben sie gefunden und vernichtet. Und die Hauptstadt ist so gut wie gefallen und die beiden haben sich mitten in dem Chaos geküsst. Wie romantisch...
AntwortenLöschenAlles auf eine Karte setzen bevor man eventuell stirbt um kurz vor seinem Tod nicht bereuen zu müssen, ist doch auch sehr schön. Aber warum braucht es manchmal so was extremes wie ein gefühlter Vernichtungskrieg bis es dazu kommt?
LöschenEin gutes Kapite🥰l! Danke für deine Arbeit 🫂
AntwortenLöschenVielen lieben Dank für deinen Kommentar und dass du meine Fanübersetzung liest, hoffen wir mal sie darf noch etwas bestehen bevor Bramble, Tokyopop oder so daherkommt.
LöschenLiao Chi war also der Verräter. Die Verluste sind mehr als groß, aber zumindest konnte der Verräter ausgeschalten werden. Für Liao Ran war es ein schwerer Schlag. Allein das laute Brüllen von ihm, sagt schon alles. Und dann beschützte Zhu Xiaojiao Li Feng mit seinem Leben. Er kam nicht oft vor, aber ich mochte ihn.
AntwortenLöschenUnd vor allem mochte ich die Kussszene *hust* Bitte mehr davon *huust~scheiß Erkältung*
Diesen Verrat habe ich nicht kommen sehen, aber es war gut, das er hier und einen Auftritt hatte, so dass man sich was zu dieser Person vorstellen konnte. Denn ich hasse es, wenn man sagt „er war der Verräter oder Drahtzieher hinter alldem“ und am Ende weiß man nichts über die Person. Dann fühlt sich das Ganze so unwirklich an und gar nicht dramatisch.
LöschenBis zur nächsten Kussszene dauert es leider noch und bis zu dem ersten intimen Kontakt im Bett auch. Aber leider muss ich dir auch erzählen, dass Stars of Chaos keine detaillierten Beschreibungen des Koitus zwischen Gu Yun und Chang Geng hat. Diese Handlungen werden definitiv stattfinden, aber wenn es richtig zur Sache kommt, gibt es immer einen Zeitsprung und die Handlung verläuft danach normal weiter. Dasselbe gilt auch für Thousand Autumns. Ich war enttäuscht und “am Boden zerstört“ als ich das Erfahren habe.