Kapitel 73 ~ Eröffnungsschlacht

Gu Yun hatte Probleme mit seinen Lenden- und Halswirbeln. Chang Geng brauchte keine sorgfältige Untersuchung durchzuführen ‒ nachdem Gu Yun seine Rüstung und Kleidung abgelegt hatte, konnte er es allein durch Berührung feststellen.

Er verdrängte seine fantasievollen Gedanken und runzelte die Stirn. „Zixi, wie lange ist es her, dass du dein Leichtes Fell ausgezogen hast?"

„Ich trage es, seitdem ich aus diesen Stahlplatten herausgekommen bin ..." Gu Yun hielt inne, weil er spürte, dass an seinen Worten etwas nicht stimmte, und fügte dann hastig hinzu: „Ah, natürlich ziehe ich es aus, wenn ich bade. Ich habe keine unangenehmen Hobbys wie dieser kahlköpfige Esel Liao Ran."

Chang Geng schubste ihn flach auf den Bauch. „Beweg dich nicht. Ich kann nicht glauben, dass du immer noch die Frechheit besitzt, andere zu verhöhnen."

In ihrer Jugend waren diese Männer des Militärs erschreckend beeindruckend, weil sie sich mit der Ausübung des Krieges beschäftigten. Diejenigen, die das Glück hatten, ein hohes Alter zu erreichen, hatten jedoch unweigerlich einen Körper voller alter Verletzungen. Lenden- und Halswirbelverschiebungen waren bei solchen Veteranen alles andere als selten.

Leichte Felle waren zwar praktisch, aber im Gegensatz zu Schweren Rüstungen, die von innen gestützt wurden, lagen diese Anzüge direkt auf dem Körper auf. Wenn Gu Yun in voller Kampfbereitschaft war, trug er sie sogar im Schlaf. Seine Muskeln und Knochen würden so mit der Zeit keine ausreichende Erholung mehr finden. Chang Geng brauchte nur leicht nach unten zu drücken, um zu hören, wie Gu Yuns geschundener Körper protestierte.

„Jetzt spürst du es nicht, weil die Muskeln in deinem Rücken das Gewicht noch tragen können, aber was ist, wenn du älter wirst?" Mit gleichmäßigem Druck strich Chang Geng mit beiden Händen an seinen Schulterblättern entlang und begann, seine steifen Schultern zu kneten.

Gu Yun war bekannt dafür, Shen Yi böse Blicke zuzuwerfen, wenn der Mann so nörgelte, aber als er Chang Geng mit trägen, halbgeschlossenen Augen zuhörte, war er überhaupt nicht verärgert. In der Armee war alles so einfach wie möglich gehalten; selbst der Graf von Anding hatte nicht viele besondere Privilegien. In dem Zelt gab es nur ein Feldbett und eine einsame Gaslampe, die am Kopfende des Bettes hing. Das Licht, das sie warf, war schwach und ließ die beiden in Schatten versinken.

„Tut es weh?", fragte Chang Geng.

Gu Yun schüttelte den Kopf. „Die Nachricht von deiner Versorgungslieferung wird sich inzwischen sicher herumgesprochen haben", sagte er langsam und mit gedämpfter Stimme. „Die verbündeten Armeen der westlichen Regionen sind ein ungeordneter Haufen. Sie haben alle ihre eigenen Pläne und führen ihre eigenen Berechnungen auf ihren kleinen Abakussen durch. Die Westler haben nicht mehr die Mittel, sie bedingungslos mit Dampfmaschinen und Eisenrüstungen zu versorgen. In ein paar Tagen wird es zweifellos einige geben, die ihre Sache verraten und heimlich zu uns herüberkriechen, um sich uns zu ergeben ... pfft, warte, warte ..."

Gu Yun hatte überhaupt nicht reagiert, als Chang Geng seine Schultern knetete, aber in dem Moment, als er mit den Fingern an seiner Wirbelsäule entlang zu seinen Rippen glitt, verkrampfte sich Gu Yun und begann zu lachen. „Das kitzelt."

Chang Geng drückte fest zu und grub seine Finger in Gu Yuns Fleisch. „Es kitzelt, wenn ich so viel Kraft aufbringe?", fragte er verärgert. „Bist du sicher, dass du den Unterschied zwischen Schmerz und Kitzel kennst?"

„Deine Technik lässt eindeutig zu wünschen übrig", schimpfte Gu Yun. „Aber selbst wenn sie sich ergeben, wären wir dumm, das für bare Münze zu nehmen. Diese Bastarde sind zu sehr an Hinterhältigkeit und Doppelzüngigkeit gewöhnt. Wenn wir sie nicht zur Unterwerfung zwingen, werden sie sich wieder erheben und unseren Hinterhof in Brand setzen. Ich habe vor, am Neujahrsabend Truppen zu entsenden. Vorher sollten wir ihnen eine ordentliche Tracht Prügel zum Neujahrsessen servieren.“

Chang Geng legte Gu Yun eine Hand auf die Schulter und drückte dann seinen anderen Ellbogen an Gu Yuns Wirbelsäule entlang, wobei er sich methodisch nach unten vorarbeitete. „Sind genügend Truppen des Schwarzen Eisenbataillons am Jiayu-Pass stationiert?"

„Selbst wenn nicht ..." Gu Yuns Rücken wölbte sich. „Ha ha ha, nicht, hör auf, hör auf ‒"

Chang Geng ignorierte ihn, drückte ihn mit den Ellbogen nieder und strich zweimal an beiden Seiten seiner Wirbelsäule entlang, bevor er seine Streicheleinheiten abbrach.

Gu Yun lachte so sehr, dass er fast weinte und ihm der Magen wehtat. Als er endlich wieder zu Atem gekommen war, machte er da weiter, wo er aufgehört hatte: „Unsere ... Unsere Truppenstärke sollte ausreichen. Als Erstes werden wir den Nationen, die versuchen, sich zu ergeben, antworten und Friedensgespräche ansetzen. Wir werden sagen, dass wir das Feuer einstellen, solange sie sich verpissen und weit von unserer Grenze entfernt bleiben. Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir einen Angriff starten und in der zweiten Angriffswelle mit Schwerer Rüstung nachziehen. Wir werden ein großes Spektakel veranstalten, um sie einzuschüchtern. Jeder, den wir abschrecken, ist einer, um den wir uns nicht kümmern müssen. Dann kümmern wir uns um den Rest, wenn sie kommen."

Chang Geng krümmte seine Finger. „Hast du keine Angst, dass die Leute sagen, du würdest dein Wort nicht halten, wenn du ihr Vertrauen missbrauchst?", fragte er mit einem Lächeln.

„Sie sind ein Haufen tributpflichtiger Vasallenstaaten, die sich auflehnen", sagte Gu Yun achtlos. „Diese unbedeutenden Herrscher sind wie ein Sohn, der seinen Vater schlägt; ich sehe nicht, dass sie sich ehrenhaft verhalten und Dankbarkeit oder Loyalität bekunden ‒ ahh! Du ... Du barfüßiger Quacksalber!"

Chang Geng bohrte auf einen Akupunkturpunkt an seiner Taille, und Gu Yun schrie auf, sprang hoch wie ein Fisch am Haken und krachte mit einem Knall zurück auf das Bett.

Chang Geng hatte keine andere Wahl, als nachzulassen. „Versuch, es auszuhalten. Hat dir noch keiner der Sanitäter im Lager eine Massage gegeben?"

„Hm, lass mich nachdenken ..."

„Hör auf, zu denken, wir wissen beide, dass niemand hier die Fähigkeit hat, dich festzunageln." Chang Geng erhob sich, setzte sein Knie neben Gu Yun auf das Bett und wechselte von seinen Fingern zu seinen Handflächen. „Ich werde versuchen, sanft zu sein."

Diesmal benutzte er die Ballen seiner Hände und erhöhte allmählich den Druck, während er sich Gu Yuns Akupunkturpunkten näherte. Gu Yun machte überhaupt nicht mit. Je stärker Chang Geng drückte, desto mehr spannten sich die Muskeln an Gu Yuns unterem Rücken an, als ob er versuchte, es seinem Angreifer an Kraft gleichzutun. Unter seiner inneren Robe waren die klaren Linien seiner Taille deutlich zu erkennen. Chang Geng wurde kurz von dem Gedanken abgelenkt, dass er Gu Yuns Taille leicht mit seinen beiden Händen umschließen konnte. Vorher hatte er keine unreinen Gedanken gehabt, aber jetzt bebte sein Herz und begann zu rasen. Seine Hände verringerten unbewusst ihren Druck und kitzelten Gu Yun auf eine andere Weise als zuvor.

Diesmal sprang Gu Yun nicht vom Bett auf. Stattdessen schien ein unerklärliches Gefühl Chang Gengs Berührung folgend nach oben zu gleiten. Gu Yun griff unbeholfen nach hinten und ergriff Chang Gengs Hand. „Das ist genug."

Chang Geng zuckte überrascht zusammen. Das ganze Blut in seinem Körper schoss ihm ins Gesicht, und sein Hals färbte sich komplett rot.

Gu Yun hustete trocken. „Was ist mit dir? Wann kehrst du in die Hauptstadt zurück?"

Chang Geng schaute ihn unverwandt an. „Ich will nach dem Sechzehnten abreisen."

Gu Yun wusste nicht, was er sagen sollte; diese Worte waren viel zu süß. Nach einem Moment, in dem er in Gedanken versunken war, sagte Gu Yun leise: „Es wäre besser, wenn du nicht so lange bleiben würdest."

Chang Geng schaute etwas verlegen weg. „Hm, ich meinte ja nur. Die Kriegsbakenscheine haben der Staatskasse etwas Erleichterung verschafft, aber bei Hofe ist noch vieles in der Schwebe. Ich bin immer noch ..."

„Deine Anwesenheit hier ist schlecht für die Moral", unterbrach ihn Gu Yun mit ernster Miene. „Für meine Moral."

Chang Geng starrte zurück.

Gu Yun griff nach oben und zog ihn zu Boden. Chang Geng, der mit einem Knie auf dem Bett balancierte, wurde überrumpelt und fiel fast auf Gu Yuns Brust.

Gu Yun fuhr mit den Fingern durch Chang Gengs Haar und packte ihn am Hinterkopf. „Ich habe von den Kriegsbakenscheinen gehört", sagte er.

Chang Gengs Pupillen zogen sich leicht zusammen, aber nach einem Moment des Schweigens sagte Gu Yun kein weiteres Wort darüber, wie er eine große Korruptionsaffäre inszeniert hatte, um seine Gegner auszuschalten. Stattdessen sagte er nur: „Wenn du nach Hause kommst, sieh in den Türpstoppern und unter den Betten nach, ob du ein paar Tael Silber zusammenkratzen kannst, um ein paar dieser Scheine zu kaufen. Dein kaiserlicher Bruder braucht das Geld nicht zurückzugeben, solange er mich mit einem Bauernhof belohnt, von dem ich im Ruhestand leben kann."

Die Emotionen von Chang Geng stiegen und fielen in rascher Folge. Er konnte nicht anders, als zu fragen: „Wozu brauchst du einen Bauernhof?"

„Wenn wir die Ausländer vertrieben haben und die Welt in Frieden lebt, werde ich das Kämpfen aufgeben", sagte Gu Yun mit leiser Stimme, während er Chang Gengs Haarspitzen leicht um seine Finger wickelte. „Das habe ich schon vor einiger Zeit beschlossen. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich das Schwarze Eisenbataillon in drei Divisionen aufteilen. Die Falken, Panzer und Rösser werden jeweils ein Drittel des Kommandosiegels kriegen. Auf diese Weise können sie in Zukunft zusammenarbeiten und sich gegenseitig kontrollieren ... Was das Schwarze Eisen-Tigeramulett betrifft, so werde ich ihn an das Kriegsministerium zurückgeben. Wenn sich der Staub gelegt hat, werden nicht nur Groß-Liang, sondern auch alle Vasallenstaaten jenseits unserer Grenzen schwere Verluste erlitten haben und eine neue Generation von Führern willkommen heißen. Wir können mehrere Jahrzehnte des Friedens erwarten. Dein kaiserlicher Bruder hält mich für einen Schandfleck, also werde auch ich ihm nicht mehr dienen. Künftige Generationen können sich um die Zukunft kümmern; ich werde mir einen schönen Ort mit grünen Hügeln und kristallklarem Wasser als … ach, als Verlobungsgeschenk aussuchen."

Chang Geng hörte eine Weile zu, ohne ein Wort zu sagen. Im Licht der Gaslampe schienen seine Augen vor Tränen zu schimmern. „Das ist nicht das, was du letztes Mal gesagt hast."

„Hm?"

„Letztes Mal hast du mir gesagt, ich solle keine Angst haben, du würdest mich gut behandeln, wenn ich bei dir bliebe ... Gilt dieses Versprechen noch?", fragte Chang Geng.

Gu Yun leugnete es rundheraus. „Wann habe ich jemals etwas so Schändliches gesagt?"

Chang Geng gab kein Pardon, als er diese alten Konten umdrehte: „Letztes Jahr, während des ersten Monats auf dem Grafenanwesen. Das hast du gesagt, als du versucht hast, mir in deinem Zimmer die Kleider auszuziehen."

Gu Yun war gedemütigt. „Das war ...  Ich ..."

Chang Geng konnte es nicht länger ertragen. Er senkte den Kopf und verschloss Gu Yuns Mund mit seinem eigenen.

Mein lieber Marschall, dachte er mit einer Mischung aus Süße und Kummer. Wie viele berühmte Generäle in der Geschichte haben es geschafft, ihre Rüstung abzulegen und sich zur Ruhe zu setzen? Deine Worte sind wie eine Klinge in meinem Herzen.

Chang Geng hatte sich tatsächlich zu sehr aufgeregt. Unfähig, sich zu entspannen, wirkte er zurückhaltend und ungeduldig, und im Handumdrehen wurden ihm die Zügel von Gu Yun entrissen, der seine Sinne wiedererlangt hatte.

Gu Yun drehte sich um und drückte Chang Geng unter sich fest. Plötzlich dachte er: Kein Wunder, dass die Alten sagten, in der Umarmung der Geliebten würden die Helden sterben. Was brauchte er schon das Grafenanwesen oder eine kaiserliche Residenz auf dem Lande; ein gewöhnliches Haus mit einem kleinen Hof und einem winzigen Schlafzimmer würde genügen, mit einer Fußbodenheizung, die gerade ausreichte, um etwas Wein zu erwärmen. Jemanden, der so fürsorglich und liebevoll war, in seinen Armen zu halten, obwohl es tiefster Winter war, gab ihm das Gefühl, als würden seine Knochen schmelzen. Von einem Krieg ganz zu schweigen; er wollte nicht einmal zum Hof gehen.

Diesmal war es anders als bei dem Abschiedskuss, den sie sich auf den Festungsmauern der Hauptstadt gegeben hatten; ihm fehlte die Intensität der Verzweiflung. Gu Yun hatte das Gefühl, dass ein Teil seines Herzens zusammengebrochen war und die weichste Stelle in seiner Brust freigab. Von nun an gehört dieser Mensch mir.

Lange Zeit später, als beide etwas unruhig atmeten, griff Gu Yun nach oben und drehte die Gaslampe herunter. Er streichelte das Gesicht von Chang Geng. „Du musst erschöpft sein von der langen Reise. Hör auf, mich zu provozieren, und schlaf dich richtig aus, ja?"

Chang Geng ergriff seine Hand. Gu Yun küsste ihn auf die Wange und sagte neckend: „Ich werde in Zukunft noch viele Gelegenheiten haben, mich mit dir anzulegen. Also los, schlaf."

Das war nicht ganz das, was Chang Geng erwartet hatte, aber er war wirklich hundemüde. Die wilden Schwankungen seiner Emotionen hatten ihm viel Energie geraubt, und er fiel bald in einen unruhigen Schlaf. Gu Yun hingegen schloss nur für ein kurzes Nickerchen seine Augen. Kurz nach der vierten Nachtwache hüllte er sich in eine Robe und machte sich auf den Weg. Wäre Chang Gengs Besuch nicht gewesen, hätte er in dieser Zeit rund um die Uhr gearbeitet.

Er überprüfte den Stand der Vorräte aus der Hauptstadt, verteilte den Sold der Soldaten, überprüfte den Stand der Violetten Goldvorräte, legte die Organisation der Truppen fest und entwarf Kampfstrategien ... All das musste vom Oberbefehlshaber geprüft und genehmigt werden. Sein Vorschlag, einen Keil zwischen ihre Feinde zu treiben, war kurz und bündig, aber der Teufel steckte im Detail. Je besser sie sich vor der Schlacht vorbereiten, desto größer sind ihre Chancen auf einen Sieg. Es stimmte zwar, dass Marschall Gus Flöte eine tödliche Waffe war, die eine Armee von Tausenden belagern konnte, aber es würde nicht ausreichen, sich allein auf die Angst zu verlassen, die das Gesicht der Blume des Nordwestens und die durchdringenden Klänge seiner unheiligen Dämonenmusik auslösten.

Gu Yun senkte seinen Kopf und betrachtete Chang Geng, der immer noch fest schlief. Genau wie Fräulein Chen gesagt hatte, war sein Schlaf keineswegs friedlich. Andere Menschen träumten von den Dingen, an die sie tagsüber dachten, aber in Chang Gengs Fall, egal wie glücklich er vor dem Einschlafen war, wenn er die Augen schloss, erwarteten ihn nur Albträume. Seine Stirn war zu einem festen Knoten verzogen, sein Teint im Licht des Mondes, der auf dem Schnee jenseits des Passes glitzerte, totenblass. Unbewusst ballte er die Finger und klammerte sich an den Zipfel von Gu Yuns Robe, als wäre er seine letzte Hoffnung.

Wu'ergu war ein Gift, das den Geist erschöpfte. Im Wachzustand konnte man es durch bloße Willenskraft etwas unterdrücken, aber im Schlaf verstärkte sich der Einfluss des Giftes. Als jemand, der immer unter Schlafmangel litt, standen Gu Yun allein bei dem Gedanken daran die Haare zu Berge. Er versuchte, den Zipfel seiner Robe freizuziehen, aber er rührte sich nicht. Stattdessen zog Chang Geng, scheinbar erschrocken über die Bewegung, seinen Griff noch fester an, und eine unbeschreibliche Bösartigkeit flackerte über sein Gesicht.

Sie befanden sich mitten in einem Militärlager; Gu Yun würde nicht mit einem zerschnittenen Ärmel hinausgehen, um militärische Angelegenheiten mit seinen Untergebenen zu besprechen. Er seufzte und griff nach dem Beutel, der an Chang Gengs äußerer Robe befestigt war. Er holte eine nahe gelegene Tasse, schüttete etwas beruhigenden Duft in den Boden, stopfte das Pulver hinein und zündete es an.

Der satte Duft erfüllte das Zelt fast sofort. Gu Yun stellte die Tasse neben Chang Gengs Kopfkissen, dann beugte er sich hinunter und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. Chang Geng regte sich, wachte aber nicht vollständig auf. In seinem schläfrigen Halbschlaf schien er den Mann neben sich zu erkennen. Seine Stirn glättete sich, als er endlich seinen Griff lockerte.

Gu Yun warf einen letzten besorgten Blick zurück, bevor er sich in die Nacht hüllte.

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Das Ende des Jahres war furchtbar düster. In der Neujahrsnacht waren nur ein paar einsame Knallgeräusche von Feuerwerkskörpern auf dem Pass zu hören. Kalte Winde peitschten über den Sand und wehten rote Papierfetzen wie tanzende Schmetterlinge in die Luft, aber es gab keine schelmischen Kinder, die mit Wunderkerzen in den Straßen winkten. In der Hauptstadt war die Hälfte des Drachenflug-Pavillons eingestürzt. Die Rotkopfdrachen, um die hohe Beamte und Adlige einst mit exorbitanten Summen kämpften, waren ebenfalls verschwunden.

Eine große Zahl von Flüchtlingen hatte den Jangtse nach Norden in die Region Jiangbei überquert. Einige waren erfroren, andere waren verhungert. Der Tausch von Kindern gegen Lebensmittel war weit verbreitet, und sogar Fälle von Kannibalismus waren nicht unbekannt.

Die regionalen Regierungen hatten sich zunächst geweigert, die öffentlichen Kornkammern zu öffnen. Chang Geng hatte gegen Ende des Jahres persönlich das Amt des kaiserlichen Gesandten übernommen und bereiste das Land, um die regionalen Handelskammern zu besuchen und für den Kauf von Kriegsbakenscheinen zu werben. Er brachte ein Kontingent von Soldaten mit, die er sich vom alten General Zhong ausgeliehen hatte, und legte sich mit jedem betrügerischen Händler und korrupten Beamten an, der sich weigerte, Lebensmittel zu verteilen, auf die er unterwegs traf. So tötete er mit rücksichtsloser Effizienz das Huhn, um den Affen zu warnen, und statuierte an kleinen Übeltätern ein Exempel, um ihre mächtigeren Mitstreiter abzuschrecken. Endlich konnten die Flüchtlinge, die die Straßen überschwemmten, ihre Bäuche mit etwas verdünntem Reisbrei füllen.

Innerhalb eines Jahres wurden sowohl bei wohlhabenden Familien als auch bei verarmten Bauern die über Jahrhunderte mühsam angehäuften Vermögen, die von Generationen von Menschen gehortet wurden, die weder für Nahrung noch für Kleidung aufkommen konnten, über Nacht vernichtet. Die Wechselfälle des Lebens waren wie heftige Stürme und sintflutartige Regenfälle. So wie Menschen ohne weltliche Besitztümer geboren werden, kann man materielle Errungenschaften im Tod nicht behalten. Selbst wenn man all seine Kraft und seinen Einfallsreichtum aufbrachte, konnte man am Ende nur auf das unbegründete Sprichwort "Der Mensch schlägt vor, der Himmel verfügt" vertrauen.

Das Schwarze Eisenbataillon, das am Jiayu-Pass lagerte, bereitete wie üblich drei Wagenladungen Feuerwerkskörper vor, in der Hoffnung, das kommende achte Jahr von Longan mit Glück zu erfüllen. In der Neujahrsnacht hängten sie Laternen an den Tortürmen auf. Selbst die Wachen schienen untypisch abwesend zu sein.

Ein Späher aus den westlichen Regionen, gekleidet in einen Anzug aus trockenem und verdorrtem Gras, schlich sich heimlich zum Jiayu-Pass hinauf. Durch den Lauf seines Zielfernrohrs spähte er die Festung vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung aus. Alle Wachen des Schwarzen Eisenbataillons, die das Tor bewachten, schienen ungewöhnlich lax zu sein. Die Zahl der Wachen, die normalerweise wie ein Speer standen, hatte sich halbiert, und von denjenigen, die Dienst taten, zupften einige an den Ohren und kratzten sich an den Wangen, während andere in die eine oder andere Richtung schauten. Einige blickten sogar immer wieder hinter sich, wie in Erwartung ... Bald gab es eine Erklärung für ihre Ablenkung ‒ wie sich herausstellte, sollte an diesem Tag ein Stapel Briefe aus der Heimat von der nächstgelegenen Relaisstation eintreffen. Der Späher der westlichen Regionen blinzelte hinter der Linse, als die Boten zum Tor der Festung hinaufkamen. Viele der Soldaten, die Briefe erhielten, öffneten sie auf der Stelle.

Die Leichten Kavallerieeinheiten, die die regelmäßigen Patrouillen durchführten, tauchten an diesem Tag nur einmal auf und umkreisten oberflächlich das Gebiet, bevor sie zum Lager zurückkehrten. Die Mitglieder des Schwarzen Eisenbataillons waren schließlich auch noch Menschen. Sie waren nicht immun gegen die Anziehungskraft dieser Handvoll besonderer Tage im Jahr.

Die verbündeten Armeen der westlichen Regionen waren seit der Ankunft des Gesandten und des Nachschubs aus der Hauptstadt von Groß-Liang in heller Aufregung. Seit sie davon erfahren hatten, schickten sie Späher aus, um die am Jiayu-Pass gelagerten Soldaten rund um die Uhr im Auge zu behalten. Der Späher, der an diesem Tag Dienst hatte, wartete, bis die Feuerwerkskörper über den Tortürmen des Jiayu-Passes explodierten und die Feuerwerkskörper der Leute aus der Zentralebene in der Ferne leise knallten. Es sah so aus, als ob das neue Jahr in Ruhe verlaufen würde; schließlich stellte er vorsichtig fest, dass das Schwarze Eisenbataillon keine plötzlichen Bewegungen machen würde, und zog sich mit seinen Untergebenen zurück.

In dem Moment, in dem sie sich zurückzogen, begann sich auf einem kleinen Hügel in der Nähe ein riesiger Felsbrocken zu bewegen, der sich in der Mitte teilte und an den Seiten zurückklappte ‒ es war tatsächlich eine Schwarze Falke.

Die Flügel und der Rücken des Schwarzen Falken waren in demselben Grau bemalt wie der umgebende Stein, und mit feinen Pinselstrichen waren sogar sorgfältig naturalistische Muster nachgezeichnet worden. Auf den ersten Blick konnte man ihn leicht für einen echten Falken halten. Der Schwarze Falke wartete, bis der Späher aus den westlichen Regionen ein gutes Stück entfernt war, bevor er sich mit lautlosen Flügeln in die Luft erhob. Eine dünne weiße Dampfwolke schnitt wie eine Klinge durch den Nachthimmel und verflüchtigte sich im Handumdrehen.

In dieser Nacht teilten sich die Truppen des Schwarzen Eisenbataillons, die am Jiayu-Pass stationiert waren, im Schein des brillanten Feuerwerks in drei verschiedene Gruppen auf und verschwanden in der Dunkelheit.

Die Laternen, die über der Festung hingen, schwangen in der Nacht. Sie schienen vor pulsierendem Wohlstand zu strotzen, doch die langen Schatten, die sie auf die alten Festungsmauern warfen, zeugten von einer unbeschreiblichen Überheblichkeit und Trostlosigkeit.

Da in der Hauptstadt ein Berg von Arbeit auf ihn wartete, hatte Chang Geng nur Zeit für ein kurzes Wiedersehen mit Gu Yun. Er hatte keine andere Wahl, als noch vor Jahresende die Rückreise anzutreten, und als der Neujahrsabend anbrach, hatte er gerade das Feldlazarett am Pass erreicht. Chen Qingxu, der längst von seinen Plänen erfahren hatte, wartete am Eingang des Krankenhauses mit einem Holzvogel in der Hand auf ihn.

Es war schon ein halbes Jahr her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten, aber die beiden waren sich keineswegs unangenehm. Es war, als hätte Chen Qingxu nie Einspruch dagegen erhoben, dass Chang Geng die Linyuan-Tafel anvertraut wurde, und als hätte Chang Geng nie heimlich ihren Brief ausgetauscht. Die Tafel war ihm bereits geschenkt worden. Unabhängig davon, welche Vorbehalte sie gegenüber der Entscheidung ihrer Mitstreiter haben mochte, war sie verpflichtet, allen Befehlen, die durch die Tafel erteilt wurden, Folge zu leisten.

„Bitte gehen Sie nicht weiter hinein, Eure Hoheit", sagte einer seiner Leibwächter leise. „Es gibt hier nicht viele, die noch alle ihre Gliedmaßen haben. Der Anblick könnte verstörend sein."

„Wenn Euch schon der Anblick dieser Menschen beunruhigt, was meint Ihr, wie es denen geht, denen Arme und Beine fehlen?" Chang Geng warf dem Wächter einen Blick zu, und der Mann errötete vor Verlegenheit. „Ich bin hier, um meinen Brüdern ein gutes neues Jahr zu wünschen. Chang Geng wandte sich wieder an Chen Qingxu. „Ich verteile auch Belohnungen und Entschädigungen vom kaiserlichen Hof als Neujahrsgeschenk ... während ich warte."

„Worauf wartest du?", fragte Chen Qingxu.

„Eine Siegesmeldung", sagte Chang Geng fest. „Die erste Meldung über den Sieg. Ich werde sie in die Hauptstadt zurückbringen und mit dem Großen Rat unsere nächsten Schritte bei der Aufteilung und Eroberung der Völker der westlichen Regionen besprechen."

 

 

 

Erklärungen:

zerschnittenen Ärmel: Hier spielt Gu Yun auf die Bezeichnung Schnittärmel an. Hinter diesem Wort steckt eine Geschichte und tiefere Bedeutung. Bei Fragen schaue im Glossar unter dem Begriff “Schnittärmel“ nach.

… tötete er mit rücksichtsloser Effizienz das Huhn, um den Affen zu warnen: Der Satz umschreibt eine alte chinesische Redewendung „Töte das Huhn, um den Affen zu erschrecken“ (杀鸡儆猴), die sich darauf bezieht, an jemandem ein Exempel zu statuieren, um andere zu bedrohen. Die Geschichte dahinter handelt von einem Straßenkünstler, der mit seinem tanzenden Affen Geld verdiente. Als der Affe sich weigerte zu tanzen, tötete der Straßenkünstler ein lebendes Huhn vor ihm, woraufhin der Affe wieder anfing zu tanzen.

Der Mensch schlägt vor, der Himmel verfügt, 成事在天, 谋事在人. Wörtlich bedeutet es: „Die menschliche Berechnung ist der himmlischen Berechnung nicht gewachsen.“ Diese Redewendung drückt aus, dass, egal wie gut wir planen oder kalkulieren, unvorhergesehene Umstände oder das Schicksal das Ergebnis verändern können.




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4 Kommentare:

  1. Wie schön, die zwei sind so süß miteinander

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    1. Find ich auch, wie schön, dass sie endlich zueinander gefunden haben.

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  2. Mit Verspätung komme ich auch mal zum lesen. Gu Yun ist ja ganz schön kitzelig XDD Wie soll man da die verspannten und verkrampften Muskeln lösen XD Chang Geng hat es da in diesem Moment nicht leicht mit ihm XD Aber dann dieser kurze Moment den sie gemeinsam hatten, und wo sie sich für einen kurzen Moment haben ausruhen konnten. Wäre da nicht das Wu´ergu, dass den Schlaf bei Chang Geng wieder weniger erholsam werden lässt. Wie er sich dann an der Robe von Gu Yun festhält, als wäre es wirklich sein letzter Anker. Es muss sehr schwer für Gu Yun sein, das zu sehen und man nicht wirklich helfen kann.
    Der andere Teil vom Kapitel, war sehr bedrückend. Bei diesem Krieg kann die Neujahrsnacht nicht großartig gefeiert werden. Und das bisschen Knallfrösche und Co. macht es irgendwie nur bedrückender und trauriger. Man kann wirklich nur auf eine Siegesmeldung hoffen.

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    1. Ist doch in Ordnung, wenn du erst später zum Lesen kommst, ich freue mich, dass du die Geschichte überhaupt liest.
      Chang Geng ist doch eh schon vorsichtig im Umgang mit Gu Yuns Körper, aber seine Kitzeligkeit hilft ihm da nicht wirklich.
      Die einfachen und schönen Momente werden Chang Geng bestimmt sehr helfen, wenn das Wu'ergu mal wieder zuschlägt. Gu Yuns Hilflosigkeit kann man nur zu gut verstehen.
      Selbst in Kriegszeiten muss man sich was Gutes gönnen, denn es hilft einem die Schrecken des Krieges, für eine kurze Zeit zu vergessen.
      Aber jede Nacht Albträume zu haben, ist echt schon grausam. Vor allem, wenn die Ereignisse und glücklichen Momente davor, keinen Einfluss auf das Schlafverhalten haben.

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