Kapitel 74 ~ Erster Sieg

Chen Qingxu untersuchte das Gesicht von Chang Geng. „Ich habe gehört, dass Eure Hoheit ununterbrochen auf Reisen war. Zuerst bist du in den Süden in die Region Jiangbei gegangen, um mit den betrügerischen Händlern aufzuräumen, die an den Ufern des Binnenkanals arbeiten. Dann kehrtest du in die Hauptstadt zurück, um das Finanzministerium und das Lingshu-Institut zu leiten, bevor du kurz vor Jahresende in den Nordwesten eiltest. Du warst ständig unterwegs, ohne dich auszuruhen, aber deinem Aussehen nach zu urteilen, scheint es dir gut zu gehen."

Es war merkwürdig. Als Chen Qingxu die Hauptstadt verlassen hatte, war das Wu'ergu in Chang Gengs Körper fast bis zu dem Punkt fortgeschritten, an dem es kein Zurück mehr gab. Sie war davon ausgegangen, dass es nach einem weiteren halben Jahr der Mühsal unmöglich sein würde, zu erahnen, wie weit er sich verschlechtert hatte. Als sie den Holzvogel des Linyuan-Pavillons erhielt, war Chen Qingxu etwas besorgt gewesen, weil sie befürchtete, dass sie bei ihrem Treffen dieses unheilvolle Aufflackern von Rot in seinen Augen entdecken würde.

Doch zu ihrer Überraschung sah Chang Geng viel besser aus als erwartet. Es schien, als hätte Prinz Yan seinen gewohnten Zustand wiedererlangt, in dem er in Frieden leben konnte, selbst wenn der Himmel einstürzen sollte. Er schien ganz derselbe zu sein wie in den Jahren, in denen er mit dem alten General Zhong durch die Lande gezogen war ‒ tugendhaft und aufrecht. Doch gleichzeitig war etwas anders an ihm. Er wirkte nicht mehr so ausgesprochen desinteressiert wie früher, und er schien auch nicht mehr ganz so weltfremd zu sein.

„Es war nichts Ernstes, nur eine Handvoll Besorgungen", sagte Chang Geng unbekümmert. „Die Leute sagen immer, der Anfang sei der schwierigste Teil, aber ich glaube, das ist nicht unbedingt der Fall. Das Schwierigste ist, seine Umstände zu akzeptieren. Schauen dir doch nur den kaiserlichen Hof an: Wir sind in einer derartigen Notlage, dass wir, egal wie schlecht ich meine Arbeit mache, höchstens eine zweite Belagerung durch die Ausländer erleiden werden. Schlimmer kann es nicht mehr werden. Die Aussicht, ein besiegtes Volk zu werden, ist anfangs schwer zu akzeptieren, aber beim zweiten Mal wird es leichter. Die Beamten am Hof haben sich an den Gedanken gewöhnt, also werden sie mir nicht allzu viel übel nehmen."

„Ich sehe an der Denkweise Eure Hoheit, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt; du hast einige der zentralen Lehren des Grafen übernommen." Chen Qingxu machte sich über den stets respektlosen Gu Yun lustig, doch nach reiflicher Überlegung kam sie zu dem Schluss, dass Chang Gengs Worte nicht ganz unberechtigt waren. „Es gibt in der Tat Zeiten, in denen es schwieriger ist, zu akzeptieren, dass das eigene Land seinen Höhepunkt überschritten hat und im Niedergang begriffen ist, als den Wiederaufbau der Nation.“

„Nun, das hat nichts mit mir zu tun", antwortete Chang Geng mit einer eher laissez faire Haltung. „Zixi hat seit seiner Kindheit eine schwache Konstitution und muss sich so schnell wie möglich erholen. Wenn der Krieg nicht wäre, könnte er das Schwarze Eisenbataillon ohnehin nur noch ein paar Jahre führen. Wenn er geht, gehe ich mit ihm."

Chen Qingxu war sprachlos. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie begriff, wen Chang Geng mit “Zixi“ meinte. Als ihr das klar wurde, versank ihr ganzes Wesen im Chaos. Es stellte sich heraus, dass die Emotion, die den Staub der langen Reise auf Prinz Yans Gesicht überlagert hatte, nicht das Strahlen guter Gesundheit war, sondern die Frühlingsröte der Romantik!

Einen Moment lang wusste Fräulein Chen nicht, was sie sagen sollte. Wenn solche unvorstellbaren Gefühle reifen und aufblühen konnten, warum wagte es dann niemand, einer erwachsenen Frau wie ihr nachzustellen obwohl sie recht gut aussah und ständig von Männern umgeben war? Lag es daran, dass ihr natürliches kühles Auftreten zu stark abschreckend wirkte? Oder lag es daran, dass zwar der obere Balken, der Marschall Gu war, verbogen war, die unteren Balken, die seine Untergebenen waren, aber so gerade wie immer blieben ‒ eine beeindruckende Folge der strengen Disziplin, mit der er seine Truppen führte?

Doch obwohl Chang Gengs beiläufige Bemerkung in Fräulein Chen ein unsagbar mulmiges Gefühl auslöste, beruhigte sie sie auch.

Der Nordwesten lag weit außerhalb der Kontrolle des Kaisers, und doch hatte sie von Prinz Yans politischen Manövern am kaiserlichen Hof gehört. Chen Qingxu schätzte seine Fähigkeiten sehr, doch gleichzeitig konnte sie nicht umhin, sich Sorgen zu machen, dass dieser Mann eines Tages von seinem Streben nach Macht umgarnt werden könnte. Es war nicht so, dass sie Chang Gengs moralischem Charakter misstraute ... Aber das Wu'ergu blieb eine schwarze Wolke, die sich nicht vertreiben ließ. Drei oder fünf Jahre lang konnte er vielleicht an seinen Prinzipien festhalten, aber was ist mit acht oder zehn Jahren? Würde Macht, vermischt mit Gift, die Erosion seines Geistes beschleunigen? Und wenn ja, wer könnte ihn mit der Linyuan-Tafel in der Hand und der unermesslichen Macht, die ihm zur Verfügung stand, aufhalten? Erst als sie diese Worte hörte, entspannte sie sich ‒ egal was passierte, solange der Graf von Anding in Sicherheit war, würde es immer eine Person geben, die Chang Geng aufhalten und ihn zurückholen konnte.

Chen Qingxu spürte eine Welle der Erleichterung. Gott sei Dank hatte ihre Stimme keinen Einfluss auf die Übergabe der Linyuan-Tafel in Chang Gengs Hände. Andernfalls wäre die Nation von Groß-Liang wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen, in nur einem halben Jahr wieder zu Atem zu kommen.

Dieser langsame Atem hatte an Schwung gewonnen, und nun, am Neujahrsabend, hatte er endlich genug Kraft gesammelt, um Berge zu stürzen und Flüsse zu verschlingen.

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In dieser Nacht teilte das Schwarze Eisenbataillon seine Streitkräfte in drei Teile und startete einen Überraschungsangriff auf das Lager der verbündeten Armeen der westlichen Regionen.

Die verbündeten Truppen befanden sich seit Langem in einer Patt-Situation mit den Truppen am Jiayu-Pass. Es war auch schon eine Ewigkeit her, dass sie das letzte Mal Nachschub von den Westlern erhalten hatten. Es fehlte ihnen an technischem Fachwissen, und wenn ihre Rüstungen und Kriegswagen kaputt gingen, wussten sie nicht, wie sie sie reparieren sollten. Ihre Verbündeten waren zum Teil zutiefst inkompetente Idioten. Auf keinen von ihnen war wirklich Verlass, und viele einzelne Völker dachten bereits an Kapitulation.

An diesem Tag seufzten die verbündeten Armeen der sechzehn Nationen erleichtert auf, nachdem sie den Bericht eines Spähers erhalten hatten, dass sich das Schwarze Eisenbataillon nicht bewegte. Die Wachen der Patrouillen liefen untätig hin und her, während die schlecht vorbereiteten Befehlshaber der einzelnen Nationen ihre Aufmerksamkeit darauf richteten, sich untereinander zu streiten. Das gesamte Lager war in eine dicke Decke der Dunkelheit gehüllt.

Als die schwarzen Krähen kamen, war es wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Viele Soldaten hatten kaum Zeit, ihre Hosen anzuziehen, bevor sie in einem chaotischen Durcheinander auf den Angriff trafen. Sie wurden von dem bedrohlichen Schwarzen Eisenbataillon wie ein Haufen gefallener Blätter weggepustet.

Eines der kleineren Königreiche, das weiter entfernt lagerte, erkannte, dass die Situation nicht mehr zu retten war. Der König und der Oberbefehlshaber wägten schnell die geringe Macht ihres Landes gegen die des Schwarzen Eisenbataillons ab, trafen eine schnelle Entscheidung und zogen sich als Erste mit ihren Truppen zurück.

Ihre Flucht wirkte wie ein Signal, und unter den verbündeten Truppen brach das Chaos aus. Gerade als die Dinge völlig aus dem Ruder zu laufen drohten, ließ das Schwarze Eisenbataillon einen Stapel kopierter Briefe vom Himmel fallen, die sich wie Papiergeld über das Feld verteilten. In den letzten Wochen hatten sich mehrere Staatsoberhäupter der westlichen Regionen heimlich an Gu Yun gewandt und ihm persönliche Briefe geschrieben, in denen sie sich unklar ausdrückten. Jetzt machte der Graf von Anding eine Kehrtwende und wandte sich von diesen Partnern ab, indem er Kopien vom Himmel regnen ließ. Zusammen mit der ersten Gruppe von Deserteuren, die von dort abgehauen waren, bot das Ganze ein beeindruckendes Spektakel.

Doch bevor eine der kleinen, verräterischen Nationen der westlichen Regionen sich verlegen umdrehen und ihre Loyalität erneut schwören konnte, hallte der dröhnende Klang eines Kupferschreis von Groß-Liang über den Himmel.

Mit schallender Stimme rief ein wortgewandter Schwarzer Falke ‒ zunächst in der Standardsprache der Beamten Groß-Liangs und dann noch einmal in der gewöhnlichen Sprache der westlichen Regionen ‒ die Namen jedes kleinen Volkes, das zum Verräter geworden war. Dann erklärte er dreist: „Da ihr euch bereits zu Groß-Liang bekannt habt, legt bitte eure Waffen nieder und tretet zur Seite. Klingen haben keine Augen; das Schwarze Eisenbataillon kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wenn wir versehentlich unsere Verbündeten verwundet haben!"

Prompt brachen die verbündeten Armeen der westlichen Regionen in einen Aufruhr aus. Wer könnte sich jetzt noch die Zeit nehmen, die Echtheit dieser Briefe sorgfältig zu prüfen? Die meisten hätten nur Zeit für einen kurzen Blick von Anfang bis Ende und würden die Korrespondenz, nachdem sie die ekelerregenden herzlichen Anreden und die demütige Pose, die über die Seiten verteilt waren, zur Kenntnis genommen hatten, als endgültigen Beweis für den Verrat ihrer Verbündeten ansehen. Angesichts der ungerechten Verräter im Inneren und der mächtigen Feinde im Äußeren gerieten die Streitkräfte aller Nationen in Aufruhr. Egal, wohin sie sich wandten, jeder sah wie ein Schurke aus. Sie prallten in einer ungeordneten Schlacht aufeinander, unfähig, Freund und Feind zu unterscheiden.

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Es war der erste Tag des achten Jahres von Longan. Die Uhr hatte Mitternacht geschlagen, und das Volk von Groß-Liang verabschiedete sich vom Alten und läutete das Neue ein.

Mit der Rückkehr seines Oberbefehlshabers entblößte das Schwarze Eisenbataillon, das sich zuvor zur Verteidigung zurückgezogen hatte, endlich seine Zähne, die es über ein halbes Jahr lang verborgen hatte. Es richtete sein eisernes Schwert nach Westen und schnitt mit Gebrüll durch die verbündeten Armeen der westlichen Regionen wie ein Küchenmesser durch Gemüse.

Die verbündeten Truppen erlitten eine schwere Niederlage und flohen in alle Richtungen. In einer einzigen Nacht erlebten sie die wahre Stärke des Schwarzen Eisenbataillons, das einst mit nur dreißig Reitern in Rüstungen die achtzehn Stämme dezimiert hatte.

Am zweiten Tag des neuen Jahres kämpften die versprengten Reste der Streitkräfte der westlichen Regionen und zogen sich zurück, und die Schwarzen Falken nahmen den Anführer des Oberhauptes der Sechzehn-Nationen-Koalition, den König von Qiuci, gefangen.

Zur gleichen Zeit erreichten die Siegesmeldungen das Feldlazarett am Pass. Dies war der erste bedeutende Sieg, den Groß-Liang errungen hatte, seitdem das halbe Land in feindliche Hände gefallen war. Das gesamte Feldlazarett brach in helle Aufregung aus. Die verwundeten Soldaten mit amputierten Gliedmaßen, die stoische Leibwache von Prinz Yan ‒ sie alle schluchzten sich untröstlich in die Schultern, als wären sie enge Vertraute.

Chang Geng stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus. Er wies seine Diener an, sich sofort auf die Rückkehr in die Hauptstadt vorzubereiten, aber trotz mehrmaliger Rufe beachtete ihn niemand. Er schüttelte hilflos den Kopf und fischte ein Taschentuch hervor, das er der leise weinenden Chen Qingxu reichte.

Sie alle hatten zu lange auf diesen Tag gewartet. Das Land war wie ein großes Haus, das einzustürzen drohte und von Wind und Regen gebeutelt wurde. Doch solange die steinerne Säule, die die Macht des Schwarzen Eisenbataillons darstellte, intakt blieb, würde unweigerlich der Tag kommen, an dem die Ruinen der Nation wieder aufgerichtet werden würden.

Am vierten Tag des neuen Jahres zogen sich die verbündeten Streitkräfte der westlichen Regionen zum Eingang der Seidenstraße zurück. Ihr Aufenthaltsort wurde durch gefangene chinesische Sklaven verraten, was es Loulan ermöglichte, einen Hinterhalt zu legen. Als die verbündeten Armeen der westlichen Regionen vor Monaten in Groß-Liang einmarschiert waren, hatten feindliche Truppen Loulan besetzt, den König der Nation hingerichtet und den jungen Trunkenbold von einem Kronprinzen ins Exil gezwungen. Nun, da sich dem Volk von Loulan endlich die Gelegenheit bot, Rache zu üben, töteten sie, bis ihre Augen vor Blutlust scharlachrot wurden.

Die verbündeten Truppen erlitten wieder einmal schwere Verluste und wurden vernichtend geschlagen.

Am Po Wu-Fest durchbrach das Schwarze Eisenbataillon seine Gegner und eroberte siebenundzwanzig Grenzpässe entlang der Seidenstraße zurück. Dann schickte es Truppen aus, um das ehemalige Lager der verbündeten Nationen zu besetzen, wo sie alle Ausländer aus dem Fernenwesten, die noch nicht evakuiert waren, gefangen nahmen.

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Shen Yi stürmte in das Kommandantenzelt. „Marschall, diese Bastarde aus den westlichen Regionen haben sich in ihre Schneckenhäuser zurückgezogen. Wir haben einen Brief erhalten, in dem sie uns um die Aufnahme von Friedensgesprächen bitten. Sie haben Angst, dass sie sich vor ihren ausländischen Unterstützern nicht rechtfertigen können, und bieten einen Gefangenenaustausch an: ihre Landsmänner gegen die Bürger von Groß-Liang, die sie gefangen genommen haben. Was meinst du?"

„Tu es!" Gu Yun zögerte nicht eine Sekunde lang.

Seine Entscheidung löste im Zelt des Kommandanten sofort einen Sturm des Protests aus. Die Worte „Marschall, bitte überlegt es Euch noch einmal" erklangen in rascher Folge.

Auch Shen Yi war verblüfft. „Marschall, wir müssen unseren Schlachtbericht noch dem Ho vorlegen. Zu den Gefangenen, die wir gemacht haben, gehören wichtige ausländische Würdenträger. Wäre es nicht unangemessen, sie ohne Genehmigung des Gerichts zurückzuschicken?"

„Wenn sich das Schwarze Eisenbataillon damals nicht zurückgezogen hätte", schoss Gu Yun zurück, „wären diese Bürger noch innerhalb der Grenzen ihres Landes. Selbst wenn sie durch den Krieg vertrieben worden wären, hätten sie sich irgendwo in ihrem Heimatland anstellen und eine Schüssel Reisbrei bekommen können. Sie wären nicht grundlos in Gefangenschaft geraten, um gedemütigt und wie Tiere behandelt zu werden ... Ich gebe niemandem von ihnen die Schuld. Schließlich war es damals Prinz ... Ich war es, der den Befehl gab. Es ist einzig und allein dem Beitrag unserer eigenen Bürger zu verdanken, die einer solchen Erniedrigung ausgesetzt waren, dass das Schwarze Eisenbataillon lange genug überlebt hat, um die heutigen Siege zu erringen. Wir würden unsere Pflicht vernachlässigen, wenn wir diese Helden der Nation schlecht behandeln würden."

Bei diesen Worten herrschte Schweigen im Zelt. Keiner erhob mehr Einwände. Doch bald stellte sich heraus, dass Gu Yun gar nicht die Absicht gehabt hatte, die Kriegsgefangenen, ohne Genehmigung des Hofes zurückzuschicken.

Die beiden Seiten trafen sich, um ihre jeweiligen Gefangenen zur vereinbarten Zeit und am vereinbarten Ort auszutauschen. Doch als die verbündeten Armeen der westlichen Regionen sich umdrehten, um in Schande abzureisen, holte ein Schwarzes Ross mit Leichter Fell-Rüstung heimlich einen kopflosen Holzpfeil heraus und stieß damit leicht in die Brust des Mannes neben ihm. Ein versteckter Beutel mit Hühnerblut, der im Voraus vorbereitet worden war, explodierte bei dem Aufprall. Aus der Ferne war der purpurne Sturzbach ziemlich überzeugend.

Der "Getroffene" war sehr engagiert in seiner Rolle. Er schwankte dramatisch hin und her und trat dann, zufrieden mit der Qualität seiner Darbietung, zum letzten Akt an: Er stellte sich tot.

Gu Yun wandte sich an die verblüfften feindlichen Truppen. „Diese Bastarde sind schlimmer als Hunde und Schweine, süchtig nach Verrat. Sie wagen es, diesen Gefangenenaustausch als Vorwand zu benutzen, um einen heimlichen Angriff auf unsere Truppen zu starten." Er befahl unbarmherzig: „Ergreift sie sofort!"

Die Leichte Kavallerie der Vorhut zerstreute sich sofort, und die mehreren Dutzend Einheiten der Schweren Rüstung, die sich hinter ihnen versteckten, traten vor. Kaum hatte Gu Yun seine Rede beendet, eröffneten ihre Kanonen das Feuer.

Während der Rebellion der westlichen Regionen in seiner Jugend war Gu Yun noch unbefleckt; er war nicht annähernd so schamlos. Später, als sich die Seidenstraße öffnete und alle Parteien sich anfreundeten, zeigte der Graf des Friedens das elegante Auftreten, das einem Vertreter einer großen souveränen Macht gebührte; er hielt seine Untergebenen in Schach und hielt sich im Umgang mit den Fremden an die fünf konfuzianischen Werte Wohlwollen, Rechtschaffenheit, Anstand, Weisheit und Aufrichtigkeit.

Niemand hätte vermutet, dass er in der Lage war, nach Strich und Faden zu lügen und vor ihren Augen Recht und Unrecht auf den Kopf zu stellen.

Die verbündeten Armeen der westlichen Regionen, die zum Gefangenenaustausch gekommen waren, sowie die ausländischen Gefangenen, die sich noch in den Händen des Schwarzen Eisenbataillons befanden, waren verblüfft. Doch bevor sie auch nur ihre eigenen Waffen erheben konnten, stürzten die Schwarzen Falken kreischend vom Himmel herab und schnitten ihnen den Rückzug ab. Ein Pfeil sauste über den Himmel und brachte die feindliche Leuchtrakete zu Fall, die den Höhepunkt ihres Fluges noch nicht erreicht hatte, und das Schwarze Eisenbataillon hatte den ganzen Ort in kürzester Zeit aufgeräumt.

Erst dann wandte sich Gu Yun an Shen Yi und sagte: „Ich habe diese Kriegsgefangenen als Köder benutzt, um einen großen Fisch zu fangen ‒ das kann doch nicht als Handeln ohne Genehmigung des Hofes angesehen werden, oder?"

Shen Yi hielt es für klug, zu schweigen.

Die meisten Gefangenen der Zentralebene, die von den verbündeten Armeen der westlichen Regionen gemacht wurden, waren Händler, die Tausende von Kilometern gereist waren, um hier ihre Geschäfte zu machen. Sie hatten die Situation falsch eingeschätzt und waren geblieben, anstatt mit dem Gott des Reichtums, Du Wanquan, zu gehen, und waren so in ihre jetzige Lage geraten. Unter ihnen waren sowohl kleine Geschäftsleute als auch andere, die den Handelskarawanen folgten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Männer und Frauen, junge und alte ‒ insgesamt waren nicht mehr als dreißig von ihnen übrig. Der Rest war in den Händen der Soldaten der westlichen Regionen gestorben.

In dieser Nacht kehrten die Gefangenen der Zentralebene, die alle Arten von Erniedrigung erlitten hatten, in die Sicherheit der Grenzen ihrer eigenen Nation zurück, eskortiert vom Schwarzen Eisenbataillon und sich gegenseitig stützend. Es war unmöglich, zu sagen, wer damit angefangen hatte, aber etwa dreißig Meter vor dem Eingang zur Seidenstraße, kurz vor dem Überschreiten der Grenze, fiel die ganze Gruppe auf die Knie, schlug die Köpfe auf den Boden und weinte bitterlich. Die Schreie, die durch die Luft hallten, waren so kläglich, dass selbst die einsame Schwanengans, die über sie hinwegflog, den Klang nicht ertragen konnte.

Anstatt sie weiter zu drängen, winkte Gu Yun mit der Hand und befahl der Militäreskorte, anzuhalten und still an der Seite zu warten.

Unter den Gefangenen gab es einen, dessen Augen trocken waren. Es handelte sich um einen Mann um die dreißig Jahre mit der Ausstrahlung eines Gelehrten von sanfter Raffinesse. Ein junger Mann von sechzehn oder siebzehn Jahren folgte ihm auf seinem Weg zu Gu Yun und hielt ehrerbietig kurz hinter dem Kreis von Gu Yuns persönlichen Wachen an.

Einer der Wächter drehte sich zu Gu Yun um und flüsterte ihm ins Ohr: „Marschall, auf unserem Weg hierher habe ich gehört, dass dieser Gelehrte die Gefangenen organisiert und einen Plan ausgeheckt hat, um den Aufenthaltsort dieser Verbrecher aus den westlichen Regionen zu verraten, damit der Prinz von Loulan seinen Überraschungsangriff starten kann."

Gu Yun nickte knapp und sah zu, wie der Gelehrte und sein junger Begleiter sich niederknieten. Obwohl Gu Yun sich noch vor wenigen Stunden wie ein skrupelloser Rowdy benommen hatte, wagte er es nicht, diese Leute mit weniger als Respekt zu behandeln. Eilig befahl er seinen Männern, ihnen aufzuhelfen. „Xiansheng, das ist doch nicht nötig. Bitte steht auf ‒ wie lautet Euer Name?"

Der Gelehrte weigerte sich, aufzustehen. „Marschall, der Name dieses Niedrigen ist Bai Chu", sagte er mit leiser Stimme. „Ich bin nur ein armer Gelehrter, der bei der Beamtenprüfung mehrmals durchgefallen ist. Meine Eltern starben früh, und meine Familie verfiel der Armut. So gab ich meinen Traum, in den Staatsdienst einzutreten, auf und kam letztes Jahr mit meinem jüngeren Bruder an die Seidenstraße, in der Hoffnung, meinen Lebensunterhalt mit Schreiben und Rechnen bestreiten zu können. Ich hätte nie gedacht, dass wir in eine solche Katastrophe geraten würden. Auch wenn es mir an Talent mangelt, bin ich doch ein Schüler der alten Weisen. Ich weiß, dass man seine Vorfahren nicht entehren darf, dass man nicht zulassen darf, dass andere einen beleidigen, und dass man seine Würde und seine Ideale nicht in Verruf bringen darf ‒ das sind die Grundsätze eines integren Mannes. Dennoch fiel ich als Sklave meiner Umstände in die Hände der Feinde. Um zu überleben, ließ ich es zu, dass ich von diesen üblen Ausländern rundum gedemütigt und kastriert wurde ..."

Einen Moment lang wusste Gu Yun nicht, was er sagen sollte. Er trat vor, näherte sich den beiden Brüdern und sagte leise: „Es war unsere Schuld, dass wir zu spät gekommen sind."

„Der einzige Grund, warum ich meine schwache Existenz so lange hinausgezögert habe, ist der, dass ich die Rückgewinnung der Ländereien unserer Nation mit eigenen Augen sehen wollte", fuhr Bai Chu fort.

Gu Yun schlug feierlich die Hände zusammen. „Ihr habt hervorragende Dienste geleistet ‒ ich werde dem kaiserlichen Hof ganz sicher davon berichten.“

Bai Chu gluckste leise: „Ich wage es nicht, mich mit meinem kaputten Körper zu rühmen. Aber dieser Niedrige möchte Euch um einen anmaßenden Gefallen bitten."

„Bitte sprecht", sagte Gu Yun.

„Ich habe einen jüngeren Bruder namens Bai Zheng. Er ist erst sechzehn Jahre alt und noch nicht volljährig. Obwohl er in den meisten der sechs Künste nicht unterrichtet ist, ist er im Reiten und Bogenschießen nicht unbegabt. Dieser Niedrige weiß natürlich, dass das Schwarze Eisenbataillon eine tödliche Waffe der Nation ist und dass jedes seiner Mitglieder ein Elitesoldat von höchstem Kaliber ist. Unter normalen Umständen wäre es unvorstellbar, dass jemand mit der Begabung meines Bruders in ihre Reihen aufgenommen wird. Ich bitte den Marschall jedoch, ihn wenigstens Botengänge machen zu lassen und sich um Eure Bedürfnisse als Diener zu kümmern. Bitte erlaubt ihm, Euch zur Verfügung zu stehen und ein paar Jahre lang zu trainieren, damit unsere Eltern, die vom Himmel herabschauen, in Zukunft sehen können, wie er zu einem aufrechten und unerschrockenen jungen Mann heranwächst."

Gu Yun blickte den Jungen an und betrachtete seine stämmige Statur. Der Junge unterbrach ihn nicht, sondern wischte sich lediglich die Tränen aus den rotgeränderten Augen. Gu Yun seufzte vor sich hin. „Xiansheng", sagte er, „erhebt Euch bitte. Das sind doch alles Nebensächlichkeiten ..."

Bai Chu drückte den Kopf seines Bruders nach unten, trat vor und zwang den Jungen, vor Gu Yun zu knien. „Mach einen Kotau vor dem Marschall."

Dieser Junge schien ein recht ehrliches Kind zu sein. Sein älterer Bruder hatte ihm gesagt, er solle sich verbeugen, und so machte er sich mit ganzem Herzen an die Arbeit, und seine Bewegungen waren keineswegs oberflächlich. Die Steinziegel unter seinen Füßen klapperten, als er mit der Stirn auf den Boden schlug. Was blieb Gu Yun anderes übrig, als sich herunterzubeugen und ihm aufzuhelfen?

In dem Moment, als seine Hand die Schultern des Jungen berührte, zuckte er überrascht zurück. Die Schultern des Kindes zitterten unkontrolliert ‒ nicht vor Aufregung, sondern vor Angst.

Mehrere Gedanken schossen Gu Yun auf einmal durch den Kopf.

Die Nationen der westlichen Regionen hatten einen Angriff und schwere Verluste erlitten, weil die Gefangenen ihren Standort an der Seidenstraße verraten hatten. Wie könnten sie da nicht wütend sein?

Und wenn es darum ging, wer die Hauptlast ihres Zorns zu tragen hatte, würden die verbündeten Streitkräfte ihre Klingen sicherlich zuerst auf die verdächtigsten Gefangenen der Zentralebene richten. Vielleicht würden sie die anderen übergehen, aber unabhängig davon, ob der Anführer der Gefangenen zu diesem Akt der Rebellion angestiftet hatte oder nicht, würde er mit hineingezogen werden. Dem Feind war es egal, ob der Mann unschuldig war, und er brauchte auch keine konkreten Beweise. Solange sie auch nur den geringsten Zweifel hegten, würde er nicht verschont werden.

Für diesen Gefangenenaustausch mit Groß-Liang brauchten diese Nationen nur einige ihrer alten, schwachen und gebrechlichen Gefangenen auszuliefern. Wie sollten sie da jemanden wie Bai Chu freilassen?

Es stimmte, dass er gerade eben vage geahnt hatte, dass etwas nicht stimmte, aber als Bai Chu seine Rede über das Wehklagen von so vielen Dutzenden hielt, wurde Gu Yun von einer Woge der Schuld abgelenkt. Er hatte nicht die Zeit, die Angelegenheit gründlich zu überdenken!

Gu Yun trat sofort einen Schritt zurück und erhöhte seine Deckung. "Bai Chu" stieß ein wütendes Brüllen aus. Sein ganzer Körper schwoll an, und seine ausgehöhlten Wangen wurden rund, während sich Risse in jedem Zentimeter seiner Haut ausbreiteten. Eine zerfledderte menschliche Hautmaske glitt von seinem Gesicht.

„Marschall!"

Ein Schwarzer Panzerinfanterist stürzte ohne zu zögern vor, packte Gu Yun und drehte sich um, um ihn mit den drei Schichten Stahlpanzerung auf seinem Rücken abzuschirmen.

Mit einem donnernden Knall explodierte Bai Chu. Gewaltige Feuerwellen schwappten in alle Richtungen, und der Körper des am Boden liegenden Jungen wurde in Stücke gesprengt. Mit klingelnden Ohren spürte Gu Yun zuletzt einen stechenden Schmerz, als sein Rücken auf den Boden prallte. Die Dunkelheit verschluckte ihn.

 

 

 

Erklärungen:

Papiergeld wird auch als Geisterpapier bezeichnet. Es handelt sich um eine Form der Papierherstellung, mit der dem Verstorbenen Opfergaben dargebracht werden. Das Papier kann in verschiedene Formen gefaltet werden und wird als Opfergabe verbrannt, sodass die verstorbene Person die Geschenke wie Papiergeld, Häuser, Kleidung, Toilettenartikel und Puppen als Diener des Verstorbenen nutzen kann.

Das Po Wu-Fest wird in China wird am 5. Tag des Mondmonats Januar wird in China gefeiert, wörtlich übersetzt heißt es „die fünf brechen“. Es ist der Tag, an dem man sich von bestimmten Tabus des Frühlingsfestes befreit - man verzichtet nicht mehr auf das Putzen oder vermeidet es, Dinge kaputt zu machen! Nach dem Volksglauben ist dies auch der Geburtstag des Gottes des Reichtums. Am Po Wu beten die Menschen, um finanziellen Erfolg und reichlich Glück im kommenden Jahr zu haben.

Grundsätze eines integren Mannes: Auszug aus 报任安书, "Brief an Ren'an", von Sima Qian.

Die sechs Künste waren sechs Disziplinen, die von jedem wohlerzogenen Gentleman im alten China erlernt werden sollten. Die sechs Künste waren: Riten, Musik, Bogenschießen, Wagenfahren oder Reiten, Kalligraphie und Mathematik.




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4 Kommentare:

  1. Das ist aber mal wirklich ein fieser Cliffhanger. Ich bin gespannt, was dieser Angriff nun für Folgen hat...

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  2. Mal wieder mehr als Sprachlos. Im Krieg geht es nie immer sauber zu. Aber der
    Schluss hier... Ich habe absolut nicht mit sowas gerechnet!
    Zuerst der Anfang wo man liest das es Chang Geng besser geht als erwartet. Gu Yun tut ihm gerade mehr als gut und dann passiert dieser Cliffhanger und wer weiß wie schwer es ihn erwischt hat...

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    1. Wie sagt man doch im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, doch leider nehmen sich dies viel zu viele Leute zu herzen.
      Es ist schön, dass Chang Geng endlich wieder was Positives im Leben hat und eine Beziehung die so wohltuend ist, dass sie ihm im Kampf gegen das Wu'ergu hilft. Doch was würde passieren, wenn diese Beziehung wegfällt oder Risse (Beziehungsprobleme) bekommt?

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