Chen Qingxu untersuchte das Gesicht von Chang Geng. „Ich habe gehört, dass Eure Hoheit ununterbrochen auf Reisen war. Zuerst bist du in den Süden in die Region Jiangbei gegangen, um mit den betrügerischen Händlern aufzuräumen, die an den Ufern des Binnenkanals arbeiten. Dann kehrtest du in die Hauptstadt zurück, um das Finanzministerium und das Lingshu-Institut zu leiten, bevor du kurz vor Jahresende in den Nordwesten eiltest. Du warst ständig unterwegs, ohne dich auszuruhen, aber deinem Aussehen nach zu urteilen, scheint es dir gut zu gehen."
Es war merkwürdig. Als Chen Qingxu die Hauptstadt verlassen
hatte, war das Wu'ergu in Chang Gengs Körper fast bis zu dem Punkt
fortgeschritten, an dem es kein Zurück mehr gab. Sie war davon ausgegangen,
dass es nach einem weiteren halben Jahr der Mühsal unmöglich sein würde, zu
erahnen, wie weit er sich verschlechtert hatte. Als sie den Holzvogel des
Linyuan-Pavillons erhielt, war Chen Qingxu etwas besorgt gewesen, weil sie
befürchtete, dass sie bei ihrem Treffen dieses unheilvolle Aufflackern von Rot
in seinen Augen entdecken würde.
Doch zu ihrer Überraschung sah Chang Geng viel besser aus
als erwartet. Es schien, als hätte Prinz Yan seinen gewohnten Zustand
wiedererlangt, in dem er in Frieden leben konnte, selbst wenn der Himmel
einstürzen sollte. Er schien ganz derselbe zu sein wie in den Jahren, in denen
er mit dem alten General Zhong durch die Lande gezogen war ‒ tugendhaft und
aufrecht. Doch gleichzeitig war etwas anders an ihm. Er wirkte nicht mehr so
ausgesprochen desinteressiert wie früher, und er schien auch nicht mehr ganz so
weltfremd zu sein.
„Es war nichts Ernstes, nur eine Handvoll Besorgungen",
sagte Chang Geng unbekümmert. „Die Leute sagen immer, der Anfang sei der
schwierigste Teil, aber ich glaube, das ist nicht unbedingt der Fall. Das
Schwierigste ist, seine Umstände zu akzeptieren. Schauen dir doch nur den
kaiserlichen Hof an: Wir sind in einer derartigen Notlage, dass wir, egal wie
schlecht ich meine Arbeit mache, höchstens eine zweite Belagerung durch die Ausländer
erleiden werden. Schlimmer kann es nicht mehr werden. Die Aussicht, ein
besiegtes Volk zu werden, ist anfangs schwer zu akzeptieren, aber beim zweiten
Mal wird es leichter. Die Beamten am Hof haben sich an den Gedanken gewöhnt,
also werden sie mir nicht allzu viel übel nehmen."
„Ich sehe an der Denkweise Eure Hoheit, dass der Apfel nicht
weit vom Stamm fällt; du hast einige der zentralen Lehren des Grafen übernommen."
Chen Qingxu machte sich über den stets respektlosen Gu Yun lustig, doch nach
reiflicher Überlegung kam sie zu dem Schluss, dass Chang Gengs Worte nicht ganz
unberechtigt waren. „Es gibt in der Tat Zeiten, in denen es schwieriger ist, zu
akzeptieren, dass das eigene Land seinen Höhepunkt überschritten hat und im
Niedergang begriffen ist, als den Wiederaufbau der Nation.“
„Nun, das hat nichts mit mir zu tun", antwortete Chang
Geng mit einer eher laissez faire Haltung. „Zixi hat seit seiner Kindheit eine
schwache Konstitution und muss sich so schnell wie möglich erholen. Wenn der
Krieg nicht wäre, könnte er das Schwarze Eisenbataillon ohnehin nur noch ein
paar Jahre führen. Wenn er geht, gehe ich mit ihm."
Chen Qingxu war sprachlos. Es dauerte eine ganze Weile, bis
sie begriff, wen Chang Geng mit “Zixi“ meinte. Als ihr das klar wurde, versank
ihr ganzes Wesen im Chaos. Es stellte sich heraus, dass die Emotion, die den
Staub der langen Reise auf Prinz Yans Gesicht überlagert hatte, nicht das
Strahlen guter Gesundheit war, sondern die Frühlingsröte der Romantik!
Einen Moment lang wusste Fräulein Chen nicht, was sie sagen
sollte. Wenn solche unvorstellbaren Gefühle reifen und aufblühen konnten, warum
wagte es dann niemand, einer erwachsenen Frau wie ihr nachzustellen obwohl sie
recht gut aussah und ständig von Männern umgeben war? Lag es daran, dass ihr
natürliches kühles Auftreten zu stark abschreckend wirkte? Oder lag es daran,
dass zwar der obere Balken, der Marschall Gu war, verbogen war, die unteren
Balken, die seine Untergebenen waren, aber so gerade wie immer blieben ‒ eine
beeindruckende Folge der strengen Disziplin, mit der er seine Truppen führte?
Doch obwohl Chang Gengs beiläufige Bemerkung in Fräulein
Chen ein unsagbar mulmiges Gefühl auslöste, beruhigte sie sie auch.
Der Nordwesten lag weit außerhalb der Kontrolle des Kaisers,
und doch hatte sie von Prinz Yans politischen Manövern am kaiserlichen Hof
gehört. Chen Qingxu schätzte seine Fähigkeiten sehr, doch gleichzeitig konnte
sie nicht umhin, sich Sorgen zu machen, dass dieser Mann eines Tages von seinem
Streben nach Macht umgarnt werden könnte. Es war nicht so, dass sie Chang Gengs
moralischem Charakter misstraute ... Aber das Wu'ergu blieb eine schwarze
Wolke, die sich nicht vertreiben ließ. Drei oder fünf Jahre lang konnte er
vielleicht an seinen Prinzipien festhalten, aber was ist mit acht oder zehn
Jahren? Würde Macht, vermischt mit Gift, die Erosion seines Geistes
beschleunigen? Und wenn ja, wer könnte ihn mit der Linyuan-Tafel in der Hand
und der unermesslichen Macht, die ihm zur Verfügung stand, aufhalten? Erst als
sie diese Worte hörte, entspannte sie sich ‒ egal was passierte, solange der
Graf von Anding in Sicherheit war, würde es immer eine Person geben, die Chang
Geng aufhalten und ihn zurückholen konnte.
Chen Qingxu spürte eine Welle der Erleichterung. Gott sei
Dank hatte ihre Stimme keinen Einfluss auf die Übergabe der Linyuan-Tafel in
Chang Gengs Hände. Andernfalls wäre die Nation von Groß-Liang wahrscheinlich
nicht in der Lage gewesen, in nur einem halben Jahr wieder zu Atem zu kommen.
Dieser langsame Atem hatte an Schwung gewonnen, und nun, am Neujahrsabend,
hatte er endlich genug Kraft gesammelt, um Berge zu stürzen und Flüsse zu
verschlingen.
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In dieser Nacht teilte das Schwarze Eisenbataillon seine
Streitkräfte in drei Teile und startete einen Überraschungsangriff auf das
Lager der verbündeten Armeen der westlichen Regionen.
Die verbündeten Truppen befanden sich seit Langem in einer
Patt-Situation mit den Truppen am Jiayu-Pass. Es war auch schon eine Ewigkeit
her, dass sie das letzte Mal Nachschub von den Westlern erhalten hatten. Es
fehlte ihnen an technischem Fachwissen, und wenn ihre Rüstungen und Kriegswagen
kaputt gingen, wussten sie nicht, wie sie sie reparieren sollten. Ihre
Verbündeten waren zum Teil zutiefst inkompetente Idioten. Auf keinen von ihnen
war wirklich Verlass, und viele einzelne Völker dachten bereits an Kapitulation.
An diesem Tag seufzten die verbündeten Armeen der sechzehn
Nationen erleichtert auf, nachdem sie den Bericht eines Spähers erhalten
hatten, dass sich das Schwarze Eisenbataillon nicht bewegte. Die Wachen der
Patrouillen liefen untätig hin und her, während die schlecht vorbereiteten
Befehlshaber der einzelnen Nationen ihre Aufmerksamkeit darauf richteten, sich
untereinander zu streiten. Das gesamte Lager war in eine dicke Decke der
Dunkelheit gehüllt.
Als die schwarzen Krähen kamen, war es wie ein Blitz aus
heiterem Himmel. Viele Soldaten hatten kaum Zeit, ihre Hosen anzuziehen, bevor
sie in einem chaotischen Durcheinander auf den Angriff trafen. Sie wurden von
dem bedrohlichen Schwarzen Eisenbataillon wie ein Haufen gefallener Blätter
weggepustet.
Eines der kleineren Königreiche, das weiter entfernt
lagerte, erkannte, dass die Situation nicht mehr zu retten war. Der König und
der Oberbefehlshaber wägten schnell die geringe Macht ihres Landes gegen die
des Schwarzen Eisenbataillons ab, trafen eine schnelle Entscheidung und zogen
sich als Erste mit ihren Truppen zurück.
Ihre Flucht wirkte wie ein Signal, und unter den verbündeten
Truppen brach das Chaos aus. Gerade als die Dinge völlig aus dem Ruder zu
laufen drohten, ließ das Schwarze Eisenbataillon einen Stapel kopierter Briefe
vom Himmel fallen, die sich wie Papiergeld über
das Feld verteilten. In den letzten Wochen hatten sich mehrere
Staatsoberhäupter der westlichen Regionen heimlich an Gu Yun gewandt und ihm
persönliche Briefe geschrieben, in denen sie sich unklar ausdrückten. Jetzt
machte der Graf von Anding eine Kehrtwende und wandte sich von diesen Partnern
ab, indem er Kopien vom Himmel regnen ließ. Zusammen mit der ersten Gruppe von
Deserteuren, die von dort abgehauen waren, bot das Ganze ein beeindruckendes
Spektakel.
Doch bevor eine der kleinen, verräterischen Nationen der westlichen
Regionen sich verlegen umdrehen und ihre Loyalität erneut schwören konnte,
hallte der dröhnende Klang eines Kupferschreis von Groß-Liang über den Himmel.
Mit schallender Stimme rief ein wortgewandter Schwarzer
Falke ‒ zunächst in der Standardsprache der Beamten Groß-Liangs und dann noch
einmal in der gewöhnlichen Sprache der westlichen Regionen ‒ die Namen jedes
kleinen Volkes, das zum Verräter geworden war. Dann erklärte er dreist: „Da ihr
euch bereits zu Groß-Liang bekannt habt, legt bitte eure Waffen nieder und
tretet zur Seite. Klingen haben keine Augen; das Schwarze Eisenbataillon kann
nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wenn wir versehentlich unsere
Verbündeten verwundet haben!"
Prompt brachen die verbündeten Armeen der westlichen
Regionen in einen Aufruhr aus. Wer könnte sich jetzt noch die Zeit nehmen, die
Echtheit dieser Briefe sorgfältig zu prüfen? Die meisten hätten nur Zeit für
einen kurzen Blick von Anfang bis Ende und würden die Korrespondenz, nachdem
sie die ekelerregenden herzlichen Anreden und die demütige Pose, die über die
Seiten verteilt waren, zur Kenntnis genommen hatten, als endgültigen Beweis für
den Verrat ihrer Verbündeten ansehen. Angesichts der ungerechten Verräter im
Inneren und der mächtigen Feinde im Äußeren gerieten die Streitkräfte aller
Nationen in Aufruhr. Egal, wohin sie sich wandten, jeder sah wie ein Schurke
aus. Sie prallten in einer ungeordneten Schlacht aufeinander, unfähig, Freund
und Feind zu unterscheiden.
_____________________________
Es war der erste Tag des achten Jahres von Longan. Die Uhr
hatte Mitternacht geschlagen, und das Volk von Groß-Liang verabschiedete sich
vom Alten und läutete das Neue ein.
Mit der Rückkehr seines Oberbefehlshabers entblößte das Schwarze
Eisenbataillon, das sich zuvor zur Verteidigung zurückgezogen hatte, endlich
seine Zähne, die es über ein halbes Jahr lang verborgen hatte. Es richtete sein
eisernes Schwert nach Westen und schnitt mit Gebrüll durch die verbündeten
Armeen der westlichen Regionen wie ein Küchenmesser durch Gemüse.
Die verbündeten Truppen erlitten eine schwere Niederlage und
flohen in alle Richtungen. In einer einzigen Nacht erlebten sie die wahre
Stärke des Schwarzen Eisenbataillons, das einst mit nur dreißig Reitern in
Rüstungen die achtzehn Stämme dezimiert hatte.
Am zweiten Tag des neuen Jahres kämpften die versprengten
Reste der Streitkräfte der westlichen Regionen und zogen sich zurück, und die Schwarzen
Falken nahmen den Anführer des Oberhauptes der Sechzehn-Nationen-Koalition, den
König von Qiuci, gefangen.
Zur gleichen Zeit erreichten die Siegesmeldungen das
Feldlazarett am Pass. Dies war der erste bedeutende Sieg, den Groß-Liang
errungen hatte, seitdem das halbe Land in feindliche Hände gefallen war. Das
gesamte Feldlazarett brach in helle Aufregung aus. Die verwundeten Soldaten mit
amputierten Gliedmaßen, die stoische Leibwache von Prinz Yan ‒ sie alle
schluchzten sich untröstlich in die Schultern, als wären sie enge Vertraute.
Chang Geng stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus.
Er wies seine Diener an, sich sofort auf die Rückkehr in die Hauptstadt
vorzubereiten, aber trotz mehrmaliger Rufe beachtete ihn niemand. Er schüttelte
hilflos den Kopf und fischte ein Taschentuch hervor, das er der leise weinenden
Chen Qingxu reichte.
Sie alle hatten zu lange auf diesen Tag gewartet. Das Land
war wie ein großes Haus, das einzustürzen drohte und von Wind und Regen
gebeutelt wurde. Doch solange die steinerne Säule, die die Macht des Schwarzen
Eisenbataillons darstellte, intakt blieb, würde unweigerlich der Tag kommen, an
dem die Ruinen der Nation wieder aufgerichtet werden würden.
Am vierten Tag des neuen Jahres zogen sich die verbündeten
Streitkräfte der westlichen Regionen zum Eingang der Seidenstraße zurück. Ihr
Aufenthaltsort wurde durch gefangene chinesische Sklaven verraten, was es
Loulan ermöglichte, einen Hinterhalt zu legen. Als die verbündeten Armeen der westlichen
Regionen vor Monaten in Groß-Liang einmarschiert waren, hatten feindliche
Truppen Loulan besetzt, den König der Nation hingerichtet und den jungen
Trunkenbold von einem Kronprinzen ins Exil gezwungen. Nun, da sich dem Volk von
Loulan endlich die Gelegenheit bot, Rache zu üben, töteten sie, bis ihre Augen
vor Blutlust scharlachrot wurden.
Die verbündeten Truppen erlitten wieder einmal schwere
Verluste und wurden vernichtend geschlagen.
Am Po Wu-Fest durchbrach das Schwarze
Eisenbataillon seine Gegner und eroberte siebenundzwanzig Grenzpässe entlang
der Seidenstraße zurück. Dann schickte es Truppen aus, um das ehemalige Lager
der verbündeten Nationen zu besetzen, wo sie alle Ausländer aus dem Fernenwesten,
die noch nicht evakuiert waren, gefangen nahmen.
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Shen Yi stürmte in das Kommandantenzelt. „Marschall, diese
Bastarde aus den westlichen Regionen haben sich in ihre Schneckenhäuser
zurückgezogen. Wir haben einen Brief erhalten, in dem sie uns um die Aufnahme
von Friedensgesprächen bitten. Sie haben Angst, dass sie sich vor ihren
ausländischen Unterstützern nicht rechtfertigen können, und bieten einen
Gefangenenaustausch an: ihre Landsmänner gegen die Bürger von Groß-Liang, die
sie gefangen genommen haben. Was meinst du?"
„Tu es!" Gu Yun zögerte nicht eine Sekunde lang.
Seine Entscheidung löste im Zelt des Kommandanten sofort
einen Sturm des Protests aus. Die Worte „Marschall, bitte überlegt es Euch noch
einmal" erklangen in rascher Folge.
Auch Shen Yi war verblüfft. „Marschall, wir müssen unseren
Schlachtbericht noch dem Ho vorlegen. Zu den Gefangenen, die wir gemacht haben,
gehören wichtige ausländische Würdenträger. Wäre es nicht unangemessen, sie
ohne Genehmigung des Gerichts zurückzuschicken?"
„Wenn sich das Schwarze Eisenbataillon damals nicht
zurückgezogen hätte", schoss Gu Yun zurück, „wären diese Bürger noch
innerhalb der Grenzen ihres Landes. Selbst wenn sie durch den Krieg vertrieben
worden wären, hätten sie sich irgendwo in ihrem Heimatland anstellen und eine
Schüssel Reisbrei bekommen können. Sie wären nicht grundlos in Gefangenschaft
geraten, um gedemütigt und wie Tiere behandelt zu werden ... Ich gebe niemandem
von ihnen die Schuld. Schließlich war es damals Prinz ... Ich war es, der den
Befehl gab. Es ist einzig und allein dem Beitrag unserer eigenen Bürger zu
verdanken, die einer solchen Erniedrigung ausgesetzt waren, dass das Schwarze
Eisenbataillon lange genug überlebt hat, um die heutigen Siege zu erringen. Wir
würden unsere Pflicht vernachlässigen, wenn wir diese Helden der Nation
schlecht behandeln würden."
Bei diesen Worten herrschte Schweigen im Zelt. Keiner erhob
mehr Einwände. Doch bald stellte sich heraus, dass Gu Yun gar nicht die Absicht
gehabt hatte, die Kriegsgefangenen, ohne Genehmigung des Hofes
zurückzuschicken.
Die beiden Seiten trafen sich, um ihre jeweiligen Gefangenen
zur vereinbarten Zeit und am vereinbarten Ort auszutauschen. Doch als die
verbündeten Armeen der westlichen Regionen sich umdrehten, um in Schande
abzureisen, holte ein Schwarzes Ross mit Leichter Fell-Rüstung heimlich einen
kopflosen Holzpfeil heraus und stieß damit leicht in die Brust des Mannes neben
ihm. Ein versteckter Beutel mit Hühnerblut, der im Voraus vorbereitet worden
war, explodierte bei dem Aufprall. Aus der Ferne war der purpurne Sturzbach
ziemlich überzeugend.
Der "Getroffene" war sehr engagiert in seiner
Rolle. Er schwankte dramatisch hin und her und trat dann, zufrieden mit der
Qualität seiner Darbietung, zum letzten Akt an: Er stellte sich tot.
Gu Yun wandte sich an die verblüfften feindlichen Truppen. „Diese
Bastarde sind schlimmer als Hunde und Schweine, süchtig nach Verrat. Sie wagen
es, diesen Gefangenenaustausch als Vorwand zu benutzen, um einen heimlichen
Angriff auf unsere Truppen zu starten." Er befahl unbarmherzig: „Ergreift
sie sofort!"
Die Leichte Kavallerie der Vorhut zerstreute sich sofort,
und die mehreren Dutzend Einheiten der Schweren Rüstung, die sich hinter ihnen
versteckten, traten vor. Kaum hatte Gu Yun seine Rede beendet, eröffneten ihre
Kanonen das Feuer.
Während der Rebellion der westlichen Regionen in seiner
Jugend war Gu Yun noch unbefleckt; er war nicht annähernd so schamlos. Später,
als sich die Seidenstraße öffnete und alle Parteien sich anfreundeten, zeigte
der Graf des Friedens das elegante Auftreten, das einem Vertreter einer großen
souveränen Macht gebührte; er hielt seine Untergebenen in Schach und hielt sich
im Umgang mit den Fremden an die fünf konfuzianischen Werte Wohlwollen,
Rechtschaffenheit, Anstand, Weisheit und Aufrichtigkeit.
Niemand hätte vermutet, dass er in der Lage war, nach Strich
und Faden zu lügen und vor ihren Augen Recht und Unrecht auf den Kopf zu
stellen.
Die verbündeten Armeen der westlichen Regionen, die zum
Gefangenenaustausch gekommen waren, sowie die ausländischen Gefangenen, die
sich noch in den Händen des Schwarzen Eisenbataillons befanden, waren
verblüfft. Doch bevor sie auch nur ihre eigenen Waffen erheben konnten,
stürzten die Schwarzen Falken kreischend vom Himmel herab und schnitten ihnen
den Rückzug ab. Ein Pfeil sauste über den Himmel und brachte die feindliche Leuchtrakete
zu Fall, die den Höhepunkt ihres Fluges noch nicht erreicht hatte, und das Schwarze
Eisenbataillon hatte den ganzen Ort in kürzester Zeit aufgeräumt.
Erst dann wandte sich Gu Yun an Shen Yi und sagte: „Ich habe
diese Kriegsgefangenen als Köder benutzt, um einen großen Fisch zu fangen ‒ das
kann doch nicht als Handeln ohne Genehmigung des Hofes angesehen werden, oder?"
Shen Yi hielt es für klug, zu schweigen.
Die meisten Gefangenen der Zentralebene, die von den
verbündeten Armeen der westlichen Regionen gemacht wurden, waren Händler, die
Tausende von Kilometern gereist waren, um hier ihre Geschäfte zu machen. Sie
hatten die Situation falsch eingeschätzt und waren geblieben, anstatt mit dem
Gott des Reichtums, Du Wanquan, zu gehen, und waren so in ihre jetzige Lage
geraten. Unter ihnen waren sowohl kleine Geschäftsleute als auch andere, die
den Handelskarawanen folgten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Männer
und Frauen, junge und alte ‒ insgesamt waren nicht mehr als dreißig von ihnen
übrig. Der Rest war in den Händen der Soldaten der westlichen Regionen
gestorben.
In dieser Nacht kehrten die Gefangenen der Zentralebene, die
alle Arten von Erniedrigung erlitten hatten, in die Sicherheit der Grenzen
ihrer eigenen Nation zurück, eskortiert vom Schwarzen Eisenbataillon und sich
gegenseitig stützend. Es war unmöglich, zu sagen, wer damit angefangen hatte,
aber etwa dreißig Meter vor dem Eingang zur Seidenstraße, kurz vor dem
Überschreiten der Grenze, fiel die ganze Gruppe auf die Knie, schlug die Köpfe
auf den Boden und weinte bitterlich. Die Schreie, die durch die Luft hallten,
waren so kläglich, dass selbst die einsame Schwanengans, die über sie
hinwegflog, den Klang nicht ertragen konnte.
Anstatt sie weiter zu drängen, winkte Gu Yun mit der Hand
und befahl der Militäreskorte, anzuhalten und still an der Seite zu warten.
Unter den Gefangenen gab es einen, dessen Augen trocken
waren. Es handelte sich um einen Mann um die dreißig Jahre mit der Ausstrahlung
eines Gelehrten von sanfter Raffinesse. Ein junger Mann von sechzehn oder
siebzehn Jahren folgte ihm auf seinem Weg zu Gu Yun und hielt ehrerbietig kurz
hinter dem Kreis von Gu Yuns persönlichen Wachen an.
Einer der Wächter drehte sich zu Gu Yun um und flüsterte ihm
ins Ohr: „Marschall, auf unserem Weg hierher habe ich gehört, dass dieser
Gelehrte die Gefangenen organisiert und einen Plan ausgeheckt hat, um den
Aufenthaltsort dieser Verbrecher aus den westlichen Regionen zu verraten, damit
der Prinz von Loulan seinen Überraschungsangriff starten kann."
Gu Yun nickte knapp und sah zu, wie der Gelehrte und sein
junger Begleiter sich niederknieten. Obwohl Gu Yun sich noch vor wenigen
Stunden wie ein skrupelloser Rowdy benommen hatte, wagte er es nicht, diese
Leute mit weniger als Respekt zu behandeln. Eilig befahl er seinen Männern,
ihnen aufzuhelfen. „Xiansheng, das ist doch nicht nötig. Bitte steht auf ‒ wie lautet
Euer Name?"
Der Gelehrte weigerte sich, aufzustehen. „Marschall, der
Name dieses Niedrigen ist Bai Chu", sagte er mit leiser Stimme. „Ich bin
nur ein armer Gelehrter, der bei der Beamtenprüfung mehrmals durchgefallen ist.
Meine Eltern starben früh, und meine Familie verfiel der Armut. So gab ich
meinen Traum, in den Staatsdienst einzutreten, auf und kam letztes Jahr mit
meinem jüngeren Bruder an die Seidenstraße, in der Hoffnung, meinen
Lebensunterhalt mit Schreiben und Rechnen bestreiten zu können. Ich hätte nie
gedacht, dass wir in eine solche Katastrophe geraten würden. Auch wenn es mir
an Talent mangelt, bin ich doch ein Schüler der alten Weisen. Ich weiß, dass
man seine Vorfahren nicht entehren darf, dass man nicht zulassen darf, dass
andere einen beleidigen, und dass man seine Würde und seine Ideale nicht in
Verruf bringen darf ‒ das sind die Grundsätze eines
integren Mannes. Dennoch fiel ich als Sklave meiner Umstände in die
Hände der Feinde. Um zu überleben, ließ ich es zu, dass ich von diesen üblen
Ausländern rundum gedemütigt und kastriert wurde ..."
Einen Moment lang wusste Gu Yun nicht, was er sagen sollte.
Er trat vor, näherte sich den beiden Brüdern und sagte leise: „Es war unsere
Schuld, dass wir zu spät gekommen sind."
„Der einzige Grund, warum ich meine schwache Existenz so
lange hinausgezögert habe, ist der, dass ich die Rückgewinnung der Ländereien
unserer Nation mit eigenen Augen sehen wollte", fuhr Bai Chu fort.
Gu Yun schlug feierlich die Hände zusammen. „Ihr habt
hervorragende Dienste geleistet ‒ ich werde dem kaiserlichen Hof ganz sicher
davon berichten.“
Bai Chu gluckste leise: „Ich wage es nicht, mich mit meinem
kaputten Körper zu rühmen. Aber dieser Niedrige möchte Euch um einen anmaßenden
Gefallen bitten."
„Bitte sprecht", sagte Gu Yun.
„Ich habe einen jüngeren Bruder namens Bai Zheng. Er ist
erst sechzehn Jahre alt und noch nicht volljährig. Obwohl er in den meisten der
sechs Künste nicht unterrichtet ist, ist er im
Reiten und Bogenschießen nicht unbegabt. Dieser Niedrige weiß natürlich, dass
das Schwarze Eisenbataillon eine tödliche Waffe der Nation ist und dass jedes
seiner Mitglieder ein Elitesoldat von höchstem Kaliber ist. Unter normalen
Umständen wäre es unvorstellbar, dass jemand mit der Begabung meines Bruders in
ihre Reihen aufgenommen wird. Ich bitte den Marschall jedoch, ihn wenigstens
Botengänge machen zu lassen und sich um Eure Bedürfnisse als Diener zu kümmern.
Bitte erlaubt ihm, Euch zur Verfügung zu stehen und ein paar Jahre lang zu
trainieren, damit unsere Eltern, die vom Himmel herabschauen, in Zukunft sehen
können, wie er zu einem aufrechten und unerschrockenen jungen Mann heranwächst."
Gu Yun blickte den Jungen an und betrachtete seine stämmige
Statur. Der Junge unterbrach ihn nicht, sondern wischte sich lediglich die
Tränen aus den rotgeränderten Augen. Gu Yun seufzte vor sich hin. „Xiansheng",
sagte er, „erhebt Euch bitte. Das sind doch alles Nebensächlichkeiten ..."
Bai Chu drückte den Kopf seines Bruders nach unten, trat vor
und zwang den Jungen, vor Gu Yun zu knien. „Mach einen Kotau vor dem Marschall."
Dieser Junge schien ein recht ehrliches Kind zu sein. Sein
älterer Bruder hatte ihm gesagt, er solle sich verbeugen, und so machte er sich
mit ganzem Herzen an die Arbeit, und seine Bewegungen waren keineswegs
oberflächlich. Die Steinziegel unter seinen Füßen klapperten, als er mit der
Stirn auf den Boden schlug. Was blieb Gu Yun anderes übrig, als sich
herunterzubeugen und ihm aufzuhelfen?
In dem Moment, als seine Hand die Schultern des Jungen
berührte, zuckte er überrascht zurück. Die Schultern des Kindes zitterten
unkontrolliert ‒ nicht vor Aufregung, sondern vor Angst.
Mehrere Gedanken schossen Gu Yun auf einmal durch den Kopf.
Die Nationen der westlichen Regionen hatten einen Angriff
und schwere Verluste erlitten, weil die Gefangenen ihren Standort an der
Seidenstraße verraten hatten. Wie könnten sie da nicht wütend sein?
Und wenn es darum ging, wer die Hauptlast ihres Zorns zu
tragen hatte, würden die verbündeten Streitkräfte ihre Klingen sicherlich
zuerst auf die verdächtigsten Gefangenen der Zentralebene richten. Vielleicht
würden sie die anderen übergehen, aber unabhängig davon, ob der Anführer der
Gefangenen zu diesem Akt der Rebellion angestiftet hatte oder nicht, würde er
mit hineingezogen werden. Dem Feind war es egal, ob der Mann unschuldig war,
und er brauchte auch keine konkreten Beweise. Solange sie auch nur den geringsten
Zweifel hegten, würde er nicht verschont werden.
Für diesen Gefangenenaustausch mit Groß-Liang brauchten
diese Nationen nur einige ihrer alten, schwachen und gebrechlichen Gefangenen
auszuliefern. Wie sollten sie da jemanden wie Bai Chu freilassen?
Es stimmte, dass er gerade eben vage geahnt hatte, dass
etwas nicht stimmte, aber als Bai Chu seine Rede über das Wehklagen von so
vielen Dutzenden hielt, wurde Gu Yun von einer Woge der Schuld abgelenkt. Er
hatte nicht die Zeit, die Angelegenheit gründlich zu überdenken!
Gu Yun trat sofort einen Schritt zurück und erhöhte seine
Deckung. "Bai Chu" stieß ein wütendes Brüllen aus. Sein ganzer Körper
schwoll an, und seine ausgehöhlten Wangen wurden rund, während sich Risse in
jedem Zentimeter seiner Haut ausbreiteten. Eine zerfledderte menschliche
Hautmaske glitt von seinem Gesicht.
„Marschall!"
Ein Schwarzer Panzerinfanterist stürzte ohne zu zögern vor, packte
Gu Yun und drehte sich um, um ihn mit den drei Schichten Stahlpanzerung auf
seinem Rücken abzuschirmen.
Mit einem donnernden Knall explodierte Bai Chu. Gewaltige Feuerwellen
schwappten in alle Richtungen, und der Körper des am Boden liegenden Jungen
wurde in Stücke gesprengt. Mit klingelnden Ohren spürte Gu Yun zuletzt einen
stechenden Schmerz, als sein Rücken auf den Boden prallte. Die Dunkelheit
verschluckte ihn.
Erklärungen:
Papiergeld wird auch als Geisterpapier bezeichnet. Es handelt sich um eine Form der Papierherstellung, mit der dem Verstorbenen Opfergaben dargebracht werden. Das Papier kann in verschiedene Formen gefaltet werden und wird als Opfergabe verbrannt, sodass die verstorbene Person die Geschenke wie Papiergeld, Häuser, Kleidung, Toilettenartikel und Puppen als Diener des Verstorbenen nutzen kann.
Das Po Wu-Fest wird in China wird am 5. Tag des Mondmonats Januar wird in
China gefeiert, wörtlich übersetzt heißt es „die fünf brechen“. Es ist der Tag,
an dem man sich von bestimmten Tabus des Frühlingsfestes befreit - man
verzichtet nicht mehr auf das Putzen oder vermeidet es, Dinge kaputt zu machen!
Nach dem Volksglauben ist dies auch der Geburtstag des Gottes des Reichtums. Am
Po Wu beten die Menschen, um finanziellen Erfolg und reichlich Glück im
kommenden Jahr zu haben.
Grundsätze eines integren Mannes: Auszug
aus 报任安书, "Brief an
Ren'an", von Sima Qian.
Die sechs Künste waren sechs Disziplinen, die von jedem wohlerzogenen Gentleman im alten China erlernt werden sollten. Die sechs Künste waren: Riten, Musik, Bogenschießen, Wagenfahren oder Reiten, Kalligraphie und Mathematik.
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Das ist aber mal wirklich ein fieser Cliffhanger. Ich bin gespannt, was dieser Angriff nun für Folgen hat...
AntwortenLöschenKeine allzu guten für den Feind jedenfalls.
LöschenMal wieder mehr als Sprachlos. Im Krieg geht es nie immer sauber zu. Aber der
AntwortenLöschenSchluss hier... Ich habe absolut nicht mit sowas gerechnet!
Zuerst der Anfang wo man liest das es Chang Geng besser geht als erwartet. Gu Yun tut ihm gerade mehr als gut und dann passiert dieser Cliffhanger und wer weiß wie schwer es ihn erwischt hat...
Wie sagt man doch im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, doch leider nehmen sich dies viel zu viele Leute zu herzen.
LöschenEs ist schön, dass Chang Geng endlich wieder was Positives im Leben hat und eine Beziehung die so wohltuend ist, dass sie ihm im Kampf gegen das Wu'ergu hilft. Doch was würde passieren, wenn diese Beziehung wegfällt oder Risse (Beziehungsprobleme) bekommt?