Kapitel 75 ~ Liebesbrief

Shen Yi war wie befohlen dabei, die Nachhut zu bilden, als er die Explosion hörte; er blickte zurück und spuckte vor Schreck fast seine Lunge aus. Wie von Sinnen stürmte er sofort nach vorne.

Aber General Shen hatte das Leben an der Grenze schon zu lange hinter sich. Er war nicht mehr der impulsive junge Lingshu-Gelehrte vergangener Jahre. Mit dem ersten Wiegen des Kopfes seines majestätischen Pferdes kam Shen Yi wieder zur Besinnung. Er hielt die Zügel fester in der Hand, schürzte die Lippen und stieß einen langen Pfiff aus. „Schwarze Rösser, haltet eure Positionen. Schwarze Falken, beobachtet die Bewegungen des Feindes und gebt meine Befehle weiter ..."

Doch bevor er zu Ende sprechen konnte, tauchte ein weiterer Späher der Schwarzen Falken vor ihm auf. „Ein Bericht für den Marschall!"

„Halt, der Marschall ist gerade beschäftigt." Shen Yi hielt den Soldaten auf. „Was ist passiert? Ihr könnt mir zuerst Bericht erstatten."

Der Späher der Schwarzen Falken antwortete sofort: „General Shen, die sechzehn Königreiche der westlichen Regionen haben ihre Truppen reorganisiert und ihre letzten achtzehn Kriegswagen zusammengezogen, nachdem sie sich an ihre jeweiligen Grenzen zurückgezogen haben. Sie rücken in diesem Moment auf unser Lager zu. Ich fürchte, sie wollen einen Gegenangriff starten ..."

„Wie stark sind sie?", fragte Shen Yi mit leiser Stimme.

„Nach dem, was ich vom Himmel aus erkennen konnte, marschieren sie, die Streitwagen ausgenommen, mit mindestens dreißig- bis vierzigtausend gerüsteten Infanteristen und Kavalleristen ..."

„General Shen!" Ein Mitglied von Gu Yuns Leibwache stürmte herbei. Shen Yi wirbelte so schnell herum, dass er sich fast einen Muskel zerrte. Seine Kopfhaut kribbelte vor Angst ‒ er konnte sich nicht vorstellen, wie sie die siebenundzwanzig Pässe am Eingang der Seidenstraße verteidigen sollten, falls Gu Yun etwas Schreckliches zugestoßen war.

Würden sie gezwungen sein, sich erneut zurückzuziehen?

Der Wächter holte tief Luft: „Der Marschall befiehlt, den König von Qiuci in dem Niemandsland zwischen den beiden Armeen sofort hinzurichten und seinen Kopf auf eine Fahnenmast aufzuspießen. Das Schwarze Eisenbataillon soll in voller Stärke ausrücken und sich dem Feind frontal stellen. Lasst nichts in Reserve ‒ das wird ein Kampf auf Leben und Tod!"

Nach der Hälfte dieser Worte schlug Shen Yis Herz, das ihm bis dahin im Hals stecken geblieben war, zurück in die Brust. Er verstand den Rest kaum noch und musste zum ersten Mal in seiner Karriere den überforderten Leibwächter bitten, die Botschaft zu wiederholen. Erst dann erhob er seine Stimme für den Rest der Truppe: „Die Rebellen ... hust, die Rebellenarmee ist ein Pfeil, der am Ende seines Fluges ist. Wie eine Grille im Herbst, die sich dem Frost stellt, ist dies ihr letzter Kampf. Befolgt meine Befehle und bereitet euch auf die Schlacht vor!"

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In dem Moment, als Bai Chu sich in die Luft sprengte, hatte der Infanterist in der Schweren Rüstung Gu Yun mit seinem eigenen Körper geschützt. Der Schwarzer Panzerinfanterist war auf der Stelle in Stücke gesprengt worden. Gu Yuns Bewusstsein flackerte; von der Wucht der Explosion erfasst, hustete er einen Mund voll Blut und wurde prompt auf einem Ohr taub.

Als er wenige Augenblicke später erwachte, war sein erster Gedanke, dass der Feind diese Gelegenheit nutzen würde, um zurückzuschlagen ‒ es war keine Zeit, sich um etwas anderes zu kümmern. Nach zwei erfolglosen Rebellionen würde der Hass der Königreiche der westlichen Regionen auf Groß-Liang sicherlich noch einige Generationen lang brennen. Jetzt, nachdem sie die Fähigkeit des Schwarzen Eisenbataillons gesehen hatten, schnell Boden gutzumachen, kannten sie endlich die Angst. Dies würde sehr wahrscheinlich ihr letztes Gefecht sein.

Als ein verängstigter He Ronghui Gu Yun aus den Trümmern zog, war sein halber Körper mit Blut bedeckt ‒ teils sein Eigenes, teils das der Schwarzen Panzerinfanteristen. Im Handumdrehen schienen alle verborgenen Kraftreserven, die in seinem Körper schlummerten, hervorzubrechen, und unzählige Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Gu Yun packte He Ronghui am Ellbogen und gab seine Befehle weiter: den Gefangenen zu töten und den Feind mit allem, was sie hatten, zu bekämpfen. Dann, als hätte er den letzten Rest seiner Lebensenergie verbraucht, murmelte er zögernd: „Shen ... Jiping ist bis auf Weiteres Oberbefehlshaber in allen militärischen Angelegenheiten ... Geben Sie nicht preis, was hier geschehen ist ..."

He Ronghui brach fast in Tränen aus.

Gu Yuns Ohren klingelten, er konnte kaum noch etwas hören. „Unterdrückt die Nachricht ...", murmelte er. „Jeder, der es wagt, auch nur ein einziges Wort von dem zu verlieren, was heute hier passiert ist, kommt vor ein Kriegsgericht ... Holen Sie Fräulein Chen aus dem Feldlazarett ..."

Als Gu Yun dies sagte, verspürte er einen stechenden Schmerz in der Brust. Er hatte sich kaum von seinen früheren Verletzungen erholt, und nun gab es einen neuen Farbklecks auf dem Wandteppich der alten Verletzungen. Die Dunkelheit flackerte an den Rändern seines Blickfeldes, doch er ärgerte sich weiter. „W-wartet! Sagt dem Boten, er soll sich vergewissern, dass Prinz Yans Kutsche in die Hauptstadt gefahren ist, bevor er nach Fräulein Chen schickt. Sagt ihr nicht sofort, was passiert ist, sondern lasst sie heimlich kommen. Wir müssen ..."

Seine Stimme versagte, und die Hand, die sich an He Ronghui klammerte, fiel schlaff zu Boden. Halb zu Tode erschrocken streckte He Ronghui seine zitternden Finger aus, um zu prüfen, ob er noch atmete; wenn auch schwach, so war er doch da. Erst nach dieser Gewissheit sog General He mehrere flache Atemzüge ein und beugte sich vor, um den bewusstlosen Gu Yun anzuheben.

Shen Yi tauschte einen Blick mit dem rotäugigen He Ronghui in der Ferne aus, dann pfiff er erneut. „Exekutiert den König von Qiuci!", rief er wütend. „Folgt mir, Brüder, um die Rebellen zu vernichten!"

Die verbündeten Armeen der westlichen Regionen wussten, dass sie das Schwarze Eisenbataillon nicht besiegen konnten, und so hatten sie sich auf ihrem verzweifelten Rückzug diesen heimtückischen Plan ausgedacht und einen verkleideten Selbstmordattentäter aus den westlichen Regionen beauftragt, Gu Yun zu ermorden. Als sie die Explosion sahen, dachten sie, ihr Plan sei gelungen. Die Moral stieg in die Höhe. Doch gerade als sie sich anschickten, den Eingang zur Seidenstraße auf einen Schlag zu erobern, noch bevor sie einen der wichtigen strategischen Pässe erreicht hatten, stießen sie frontal auf die volle Stärke des Schwarzen Eisenbataillons.

Diese Explosion schien das dichte Heer der eisernen Kriegsgötter gründlich in Rage gebracht zu haben. Der Oberbefehlshaber der Qiuci-Armee hatte geglaubt, dass er, sobald er das Schwarze Eisenbataillon zurückgeschlagen hatte, seinen königlichen Lehnsherrn bald wieder begrüßen würde. Als er jedoch aufschaute, erblickte er den Kopf seines Königs, der an einem Fahnenmast hing und wie eine hässliche, geknotete Quaste neben einer Schlachtfahne flatterte. Der Kommandant von Qiuci stürzte mit einem entsetzten Schrei von seinem Pferd.

Der General mit dem Schwarzem Eisen, der an der Spitze der Armee ritt, trug ein eisernes Visier. Unter der Schweren schwarz-eisernen Rüstung verborgen, war es unmöglich, seine Identität zu erkennen. Als wäre er besorgt, dass der Feind nicht sehen könnte, was am Fahnenmast hing, winkte der General mit der Hand inmitten des Sturms, woraufhin ein Leichter Kavallerist seinen Windsäbel zückte und eines der Seile um den Fahnenmast mit einem furchterregenden Schwung durchtrennte. Der abgetrennte Kopf des Königs von Qiuci stürzte zu Boden und rollte den ganzen Weg bis zu dem kahlen Stück Erde zwischen den beiden Armeen. Der Oberbefehlshaber von Qiuci stolperte herbei und drückte seinen König an seine Brust. Nachdem er lange auf den abgetrennten Kopf gestarrt hatte, hob er sein Gesicht zum Himmel und heulte vor beiden Armeen in Trauer.

Seine Stimme war wie der Ruf eines Horns an das Schwarze Eisenbataillon, und im nächsten Moment setzten sich die Reihen der Schweren Rüstungen gemeinsam in Bewegung. Der in Leichtes Fell gekleidete Oberbefehlshaber des Schwarzeisenbataillons saß rittlings auf seinem Pferd und hielt seinen Windsäbel in die Höhe, um ihn dann in einem schnellen Bogen nach unten zu schwingen. Zwanzigtausend berittene schwarze Krähen, zuvor still wie ein Grab, stürmten nun gemeinsam vor, wobei die Kampfschreie unter dem ohrenbetäubenden Grollen von Schritten und Hufschlägen untergingen.

Die Truppen der westlichen Regionen waren fassungslos. Wer außer Gu Yun würde es wagen, einseitig vorzugehen und den König von Qiuci hinzurichten? Konnte es sein, dass Gu Yun noch am Leben war? Anscheinend war es ihnen nicht nur nicht gelungen, ihre Beute zu töten, sondern auch das Schwarze Eisenbataillon zu erzürnen.

Bei Einbruch der Nacht war das Sandmeer in Blut getränkt. Die Schweren Rüstungen aus Schwarzen Eisen traten gegen die Streitwagen der westlichen Regionen an und trieben den Feind zwanzig Li über die Seidenstraße hinaus. Der Gegenangriff war gescheitert; die verbündeten Armeen der westlichen Regionen hatten sich erneut zerstreut. Das teuflische Schwarze Eisenbataillon verfolgte die fliehenden Truppen bis an ihre eigenen Grenzen zurück, enthauptete fast zehntausend feindliche Soldaten und schlachtete jedes Mitglied des Qiuci-Adels ab, das sie zur Strecke bringen konnten.

Im nordwestlichen Feldlazarett hatte Chen Qingxu gerade die Verabschiedung des Konvois von Prinz Yan beendet, der mit einer Siegesmeldung in der Hand in die Hauptstadt zurückkehrte. Kaum hatte sie sich die Freudentränen von den Wangen gewischt, stürmten zwei Schwarze Falken herein. „Fräulein Chen, der Marschall bittet um Ihre Anwesenheit an der Front.“

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Als Gu Yun das nächste Mal aufwachte, versuchte jemand, seinen Mund zu öffnen und ihm Medizin zu geben. Er konnte nichts mehr hören. Gu Yun keuchte leise und spürte einen heftigen Schmerz, als würde sein Herz brennen. Es tat so sehr weh, dass ihm fast die Tränen in die Augen stiegen. In seinem nebligen, halb wachen Zustand fragte er sich: Werde ich sterben?

Sobald dieser Gedanke in seinem Kopf auftauchte, biss Gu Yun die Zähne zusammen. Das darf nicht sein, dachte er. Jialai Yinghuo lebt noch, und Jiangnan bleibt in feindlicher Hand. Ich würde niemals in Frieden ruhen können.

Die Kraft dieser Überzeugung war wie ein Adrenalinstoß ins Herz, und Gu Yun erwachte mit einem Schaudern. Shen Yi riss mühsam seinen Kiefer auf, um ihm Medizin zu geben. Der Mann war so besorgt, dass ihm der kalte Schweiß ausgebrochen war. Als er plötzlich spürte, wie Gu Yun seine Zähne öffnete und von selbst schluckte, war er überglücklich. Er rief ihm sofort zu: „Zixi! Zixi, mach die Augen auf und sieh mich an."

„Es wird ihm gut gehen, solange er das Bewusstsein wiedererlangt hat und seine Medizin herunterschlucken kann", warf Chen Qingxu hastig ein. „Ihre Hand zittert, General Shen, Sie erwürgen ihn ‒ geben Sie her!"

Gu Yun hatte es geschafft, den Angriff des Selbstmordattentäters zu überleben, nur um eine Nahtoderfahrung zu machen, als dieser Bastard Shen versuchte, ihm eine Schüssel mit medizinischer Suppe in den Hals zu schieben. Weiß der Himmel, woher Gu Yun die Kraft nahm, dieses wandelnde, sprechende Unglück von sich zu stoßen. In dem Moment, in dem er sich bewegte, kochte das gesamte Kommandantenzelt in einem Rausch der Aktivität über. Eine ganze Schar großer, stämmiger Männer brach sofort heulend in Tränen aus und stürmte nach vorne, um ihre Hilfe anzubieten.

Chen Qingxu konnte es nicht mehr aushalten. „Das reicht!", schnauzte sie. „Raus hier! Ihr alle!"

Gu Yuns sensible Nase nahm den süßen Duft einer Frau wahr ‒ er wusste, dass Chen Qingxu gekommen war. Er drehte den Kopf leicht, um der Schale mit der Medizin auszuweichen, die gegen seinen Mund gedrückt wurde, und öffnete mühsam die Augen.

Chen Qingxu wusste, was ihn beunruhigte, und schrieb eilig in seine Handfläche: Prinz Yan ist bereits in die Hauptstadt zurückgekehrt. Er weiß es nicht.

Gu Yuns kränklich blasser Mund verzog sich leicht zu einem Lächeln, das man als solches hätte deuten können. Er zwang sich, die Medizin zu schlucken, und sein Verstand wurde wieder schlaff.

Die Explosion hatte nicht nur seine alten Verletzungen wieder aufgerissen, sondern auch Gu Yuns Lunge beschädigt, und er hatte die ganze Nacht über hohes Fieber, das immer wieder auftrat. Die Worte "Ich werde nie in Frieden ruhen können" stützten ihn wie ein riesiger Felsbrocken, und am nächsten Morgen richtete er sich zum Erstaunen aller auf und schluckte seine Medizin wie Wasser. Dann rief er alle ihm unterstellten Offiziere zusammen und hörte sich einen nach dem anderen ihre Berichte vom Schlachtfeld an.

Als die Sitzung beendet war, brachte Chen Qingxu eine weitere Schale mit Medizin. Gu Yun nahm sie an und schluckte den Inhalt in einem Zug hinunter. Es war schwer zu sagen, ob es daran lag, dass er sich den Kopf gestoßen hatte, oder ob die ohrenbetäubende Explosion sein Gehör weiter geschädigt hatte, aber seine Ohren, die bereits auf Medikamente angewiesen waren, klingelten nach all der Zeit immer noch.

Nachdem er die leere Schüssel abgestellt hatte, waren die ersten Worte aus Gu Yuns Mund: „Wann ist Prinz Yan gegangen?"

Chen Qingxu war kurz und bündig wie immer. „Am Morgen des dritten Tages."

Gu Yun atmete erleichtert auf. Er war zuversichtlich, dass er die Frontlinien in den westlichen Regionen vollständig unter seiner Kontrolle hatte. Solange Chang Geng schon weg war, würde kein Wort von dem, was hier geschehen war, den Weg zurück in die Hauptstadt finden. Damit konnte Gu Yun endlich sowohl seine öffentlichen als auch seine privaten Sorgen aus dem Weg räumen. Er stufte diesen Vorfall automatisch als Fehlalarm ein und wandte sich mit einem Lächeln an Chen Qingxu. „Ich habe mich in letzter Zeit ein wenig hinreißen lassen", sagte er reumütig. „Ich habe eine kurze Zeit nicht aufgepasst und ein Spektakel aus mir gemacht. Es tut mir furchtbar leid, dass Sie Zeuge einer solch peinlichen Szene werden mussten.

Chen Qingxu erwiderte sein Lächeln nicht. Sie zog einen Stuhl heran, setzte sich und nahm eine Position ein, die darauf hindeutete, dass sie vorhatte, ausführlich zu sprechen. „Mein Herr, ich muss Ihnen etwas sagen."

Es gab Ärzte, die leicht verärgert und frustriert waren: Wenn ein Patient sich weigerte, zu kooperieren, rasteten sie vor Wut aus. Dann gab es Ärzte, die ihre Patienten wie Schafe betrachteten, die man auf die Weide schickte: Wenn man sie aufsuchte, behandelten sie einen; wenn man sich weigerte, ließen sie es dabei bewenden. Sie würden dich zu nichts zwingen. Ob man sich dieser oder jener Behandlung unterzog, ob man lebte oder starb, das blieb jedem selbst überlassen.

Chen Qingxu gehörte eindeutig zu der letzteren Kategorie. Ob Gu Yun mit seinem von Stahlplatten zusammengehaltenen Körper an die Front marschierte oder ob er hartnäckig und immer wieder die Dosis seiner Medikamente erhöhte, sagte sie nie ein Wort. Selten betrachtete sie ihn mit so viel Ernsthaftigkeit.

„Bitte fahren Sie fort, Fräulein Chen", sagte Gu Yun.

Nach einer kurzen Bedenkzeit begann Chen Qingxu schließlich. „Es gibt keinen Teil des menschlichen Körpers, der isoliert funktioniert. Unsere Augen und Ohren sind beide mit unseren inneren Organen verbunden. Die Langzeitfolgen der Begegnung des Grafen mit dem Gift in seiner Kindheit haben bis heute angehalten. Darüber hinaus haben Sie im Laufe des aktuellen Feldzuges wiederholt schwere Verletzungen erlitten, die zu Traumata an Ihren fünf Eingeweiden geführt haben. Jetzt, da der Aufstand in den westlichen Regionen niedergeschlagen wurde, wäre es meiner professionellen Meinung nach das Beste, wenn der Marschall die Gelegenheit nutzen würde, die Kriegsgefangenen zurück in die Hauptstadt zu eskortieren und sich dort einige Zeit zu erholen. Andernfalls ..."

Gu Yun verstand sofort, was sie meinte. „Andernfalls wird der Tag kommen, an dem mir kein Wundermittel mehr helfen kann, ist es das?"

Chen Qingxus Gesichtsausdruck blieb unverändert, als sie nickte. „Ich bin sicher, der Graf ist sich über den Zustand seines eigenen Körpers im Klaren."

Gu Yun brummte als Antwort und verfiel dann in ein langes Schweigen.

Wenn man noch in den Zwanzigern oder Dreißigern war, war es schwierig, Dinge wie "Alter" und "Krankheit" zu spüren, die durch den Lauf der Zeit verursacht wurden. Junge Menschen nahmen ihre gelegentlichen Anfälle von Unwohlsein selten ernst. Mangels eigener Erfahrung wurden die guten Wünsche anderer für eine gute Gesundheit und ähnliche Ermahnungen zu ungehörten Ratschlägen, die zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus gingen. Schließlich gab es viel zu viele Sorgen, die Vorrang vor der Sorge um ihr sterbliches Fleisch hatten ‒ Ruhm und Reichtum, Loyalität und Rechtschaffenheit, Heimat und Land, Pflicht und Verantwortung ... Sogar Liebe, Hass, Gefühle und Bedauern.

Gu Yun war da keine Ausnahme.

Er hatte sich immer vorgestellt, dass er dazu bestimmt sei, in den Grenzgebieten begraben zu werden, dass er ein Opfer der Nation werden würde. Er betrachtete sich selbst als ein Feuerwerk ‒ wenn er verglühen würde, hätte er den Ruf der Familie Gu für Hingabe und Aufopferung erfolgreich aufrechterhalten. Doch als es wirklich darauf ankam, war Chang Geng aus dem Nichts aufgetaucht und hatte Gu Yuns Pläne mit einem Handstreich aus der Bahn geworfen. Gu Yun konnte nicht anders, als sich wilden Fantasien hinzugeben und sich nach mehr zu sehnen ‒ nachdem er sich zum Wohle der Nation aufgerieben hatte, wollte er den Rest seiner gesunden Jahre Chang Geng schenken.

Wenn Gu Yun früh sterben würde, müsste Chang Geng den bösartigen Fluch der Nördlichen Barbaren allein ertragen. Was würde mit ihm in der Zukunft geschehen? Wenn eines Tages das Wu'ergu aufflammen würde und er wirklich ... Wer würde nach ihm sehen? Wer würde sich um ihn kümmern?

Chen Qingxu war nicht sehr wortgewandt, deshalb hatte sie befürchtet, dass ihre unbeholfene Zunge Gu Yun nicht umstimmen würde. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Gu Yun, noch bevor sie ihre Ausführungen beenden konnte, antworten würde: „Ich verstehe. Ich danke Ihnen vielmals. Ich werde Ihnen auch in Zukunft für Ihre Mühe danken, Fräulein Chen. Eine längere Genesungszeit ist für mich im Moment vielleicht nicht möglich, aber solange ich den Palast nicht betreten muss, um Seine Majestät zu treffen, und es keine weiteren dringenden Krisen an der Grenze gibt, werde ich alles tun, was ich kann, um auf die Medizin zu verzichten. Wie hört sich das an?"

Chen Qingxu war verblüfft. Plötzlich stellte sie fest, dass Gu Yun sich verändert zu haben schien.

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In den Händen von Gu Yun war die dritte Generation des Schwarzen Eisenbataillons zu einem monolithischen Ganzen geworden. Wenn er einen Befehl erteilte, verlangte er strikte Befolgung, und jedes seiner Worte galt als Gesetz. Da Gu Yun befohlen hatte, die Nachrichten über die Geschehnisse an der Seidenstraße zu unterdrücken, erhielt die Hauptstadt nur den Bericht über den großen Sieg an der nordwestlichen Grenze und sonst nichts.

Meister Fenghan weinte auf dem Boden des kaiserlichen Hofes, als er den Militärbericht hörte. Das Land geriet in helle Aufregung. Selbst als Gu Yun später ein Memorandum vorlegte, in dem er um Verzeihung bat und seine unberechtigte Hinrichtung des Königs von Qiuci beschrieb, schien dies eine Bagatelle zu sein. Außerdem, wer kannte nicht Gu Yuns Bestialität; sein bösartiges Einschüchtern auf dem Schlachtfeld war keine Neuigkeit. Li Feng selbst war der Meinung, dass dies durchaus seinem Charakter entsprach.

Nur Chang Geng runzelte die Stirn, als das Memorandum der Entschuldigung im Großen Rat eintraf. Er konnte sich zwar nicht erklären, warum, aber er hatte das Gefühl, dass zwischen den Zeilen etwas verborgen war. Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, zog der Sondergesandte der Schwarzen Falken, der das Memorandum überbrachte, einen zweiten Umschlag hervor. „Eure Hoheit, ich habe einen persönlichen Brief des Grafen an Sie."

Das letzte Mal, dass Gu Yun ihm einen persönlichen Brief geschrieben hatte, war in den ersten Jahren seines Einsatzes an der Seidenstraße gewesen. Er hatte insgesamt zwei Briefe verfasst, von denen einer von Shen Yi als Ghostwriter geschrieben worden war.

Chang Gengs Selbstbeherrschung war unübertroffen; er nahm den Brief ruhig entgegen und bedankte sich. Kaum war der Sondergesandte jedoch aus der Tür, entließ Chang Geng die beiden jungen Eunuchen, die ihn bedienten, und öffnete den Brief mit verzweifelter Ungeduld. Seine Hände waren von Anfang an flink, und er behandelte den Brief so sorgfältig, dass der Umschlag auch nach dem Öffnen noch so unversehrt war, dass man ihn hätte wiederverwenden können.

Das Erste, was herausfiel, war ein winziger Zweig mit gepressten Aprikosenblüten.

Es war, als wäre Gu Yun von einem Geist Namens Shen Yi besessen gewesen. Er schrieb ausgiebig über alles Mögliche, egal wie wichtig es war. Seine bissige Zunge hielt sich nicht zurück, als er die verbündeten Armeen der westlichen Regionen verunglimpfte, und er beschrieb die Art und Weise, wie sich die feindlichen Truppen vor Angst in die Hose machten, so anschaulich, dass Chang Geng es praktisch sehen konnte. Hätte sich in diesem Moment noch jemand im Büro des Großen Rates befunden, wäre er furchtbar erschrocken ‒ wann hatte man den sanftmütigen Prinzen Yan jemals so ausgelassen an seinem mit offiziellen Dokumenten vollgestopften Schreibtisch sitzen und lachen sehen?

Am Ende seines Briefes schrieb Gu Yun:

Am Eingang des Passes wuchs ein Bestand von Aprikosenbäumen. Leider wurde mehr als die Hälfte davon von den Flammen des Krieges verbrannt, und es besteht keine Hoffnung auf Besserung. Ursprünglich dachte ich, sie seien alle tot, aber eines Tages, als ich zurückkam, sah ich, dass diese verdorrten Bäume zu neuem Leben erwacht waren: Zarte Blütenknospen waren aus der Asche gesprossen, jämmerlich und schön. In der Armee gibt es keinen Mangel an Spaßverderbern, und wenn man vor Soldaten über blühende Blumen schwärmt, ist das wie Perlen vor die Säue werfen. Daher hielt ich es für besser, die Gelegenheit zu ergreifen und dies für dich zu pflücken ...

 

Hier wurde die berühmte halbkursive Schrift des Grafen von Anding, die so meisterhaft war, dass sie es wert war, als Erbstück weitergegeben zu werden, durch eine durchgestrichene Zeile unterbrochen. Chang Geng erkannte vage die Worte: Ich hoffe, dass ich nächstes Jahr im zeitigen Frühjahr einige Pflaumenblüten auf dem Grafenanwesen pflücken kann, aber vielleicht hielt er es für ungünstig, über die Zukunft zu schreiben. Deshalb hatte er es durchgestrichen und mit einem selbstbewussten Schnörkel unterschrieben. Wer weiß, ob es Absicht oder Zufall war, aber neben seiner Unterschrift war der schwache Abdruck eines blühenden Zweiges zu sehen, der sich anmutig über das Zeichen Gu zog. Allein beim Anblick dieses blumengeprägten Zeichens spürte Chang Geng einen subtilen Duft, der seine Sinne überfiel. Er war unvergleichlich elegant.

Chang Geng war überwältigt von der Leidenschaft, die unter Gu Yuns zurückhaltenden Äußeren brodelte.

Wie grob und gedankenlos diese aristokratischen Adelssöhne auch immer erscheinen mochten, sie waren alle in der Kunst der sentimentalen Verse und ähnlicher Tricks geübt; wer von ihnen hatte nicht eine Handvoll kostbarer Umwerbungstechniken in petto? Chang Geng konnte nicht umhin, sich an die schelmische Eleganz zu erinnern, die Gu Yun in jener Nacht an den Tag gelegt hatte, als er sturzbetrunken war. Aber er war nicht der Typ, der wegen unbewiesener Liebesaffären eifersüchtig wurde, sondern er fand diese Seite von Gu Yun eher süß.

Chang Geng nippte an einer Tasse Kräutertee und las Gu Yuns persönlichen Brief langsam drei- oder viermal von vorne bis hinten durch, wobei er sich jedes Wort so sehr einprägen wollte, dass er selbst mit geschlossenen Augen eine exakte Kopie mit Tinte und Papier herstellen konnte. Erst als er zufrieden war, steckte er den Brief und die gepressten Blumen in den Lederbeutel, den er immer bei sich trug.

Dann nahm er einen Pinsel in die Hand, schrieb das Wort Adel auf ein Blatt Papier und schloss kurz die Augen.

Der Name "Prinz Yan" stand für die kaiserliche Familie, wenn er genannt wurde. Da sich die Nation in einer Krise befand, waren die Interessen des Adels und des Throns in einem noch nie da gewesenen Zustand der Einstimmigkeit. Solange Chang Geng die Grenzen des Anstands nicht überschritt, würde kein blinder Narr aufspringen und ihm das Leben schwer machen. Viele wohlhabende Adelsfamilien waren bereits so weit gegangen, dass sie ihre volle Unterstützung für die Kriegsbakenscheine zum Ausdruck brachten und sogar selbst in das Vorhaben investierten ...

Aber was kam als Nächstes?

In dem Moment, in dem die Nation mit ihren Wiederaufbaubemühungen an den Grenzen begann, würde dies riesige Summen an Militärausgaben bedeuten. In der Zwischenzeit überquerten die Flüchtlinge weiterhin in einem stetigen Strom den Jangtse. Die gesamte Bevölkerung innerhalb der Grenzen von Groß-Liang befand sich in einem Zustand erhöhter Angst, und viele waren untätig, ohne Arbeit und ohne Ziel. Das kleine Polster an Notgeldern, das durch die Kriegsbakenscheine aufgebracht worden war, würde nur allzu bald aufgebraucht sein, und der kaiserliche Hof konnte nicht ewig mit geliehenem Geld auskommen. Kühne Reformen ‒ in der Landwirtschaft, im Steuerwesen, im öffentlichen Dienst und im Handel ‒ waren von entscheidender Bedeutung, aber wenn man jetzt in einen dieser Bereiche eingriff, würde man irreparablen Schaden anrichten. Wenn die Zeit zum Handeln gekommen war, würde jeder einzelne adlige Beamte des Hofes zu seinem sein Feind.

Chang Gengs warmes Lächeln wurde kälter, als er das Wort Adel mit einer leichten Bewegung seines Pinsels aus Wieselhaar ausstrich. Im Schein des Lampenlichts war das Profil des jungen Prinzen furchtbar gut aussehend, aber auch furchtbar rücksichtslos.

Ob Meister Fenghan, Ge Pangxiao, Fräulein Chen oder sogar Gu Yun ‒ sie alle schienen sich vorzustellen, dass derjenige, der die Dachbalken der Nation hochgezogen hatte, seine Last sanft ablegen und nach Abschluss der Bauarbeiten mit einer Handbewegung weggehen konnte.

Aber wie konnte das sein?

In Zeiten großer Gefahr war das Streben nach Macht immer ein Kampf um Leben und Tod auf einer Straße ohne Wiederkehr.




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2 Kommentare:

  1. Man will sich gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn Gu Yun nicht überlebt hätte. Er schaffte es gerade noch Befehle zu geben, ehe er das Bewusstsein verlor. Und davor wollte er noch sicher gehen, das Chang Geng davon nichts mitbekommt. Ich hoffe er bekommt jetzt mal etwas mehr Zeit sich zu erholen. Die Schäden sind nicht ohne bei ihm und irgendwann wird es auch Chang Geng rausfinden. Aber Gu Yun seine Gedanken, als er kämpfte Q____Q
    Und der Brief den er Chang Geng schrieb. Man will beide einfach nur in Watte packen und beschützen. Der Krieg hat doch jetzt genug und heftig gewütet *sigh*

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    1. Hätte Gu Yun nicht überlebt, würde Chang Geng vermutlich früher oder später den Kampf gegen das Wu'ergu verlieren. Aber mit ihm wird Chang Geng der Sieg gegen dieses Gift sicherlich gelingen.
      Gu Yun ist und bleibt weise und vorausschauend, selbst in einer solchen Situation so kühn und überlegt zu handeln ist echt schon erstaunlich. Es fragt sich nur, wie Gu Yun reagieren wird, wenn Chang Geng erfährt, was ihm widerfahren ist.
      Ich fand den Brief auch sehr schön, wenn man nur Gu Yuns militärische Seite kennt, hätte man das niemals von ihm erwartet.

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