Shen Yi war wie befohlen dabei, die Nachhut zu bilden, als er die Explosion hörte; er blickte zurück und spuckte vor Schreck fast seine Lunge aus. Wie von Sinnen stürmte er sofort nach vorne.
Aber General Shen hatte das Leben an der Grenze schon zu
lange hinter sich. Er war nicht mehr der impulsive junge Lingshu-Gelehrte
vergangener Jahre. Mit dem ersten Wiegen des Kopfes seines majestätischen
Pferdes kam Shen Yi wieder zur Besinnung. Er hielt die Zügel fester in der
Hand, schürzte die Lippen und stieß einen langen Pfiff aus. „Schwarze Rösser,
haltet eure Positionen. Schwarze Falken, beobachtet die Bewegungen des Feindes
und gebt meine Befehle weiter ..."
Doch bevor er zu Ende sprechen konnte, tauchte ein weiterer Späher der Schwarzen Falken vor ihm auf. „Ein Bericht für den Marschall!"
„Halt, der Marschall ist gerade beschäftigt." Shen Yi hielt den Soldaten auf. „Was ist passiert? Ihr könnt mir zuerst Bericht erstatten."
Der Späher der Schwarzen Falken antwortete sofort: „General
Shen, die sechzehn Königreiche der westlichen Regionen haben ihre Truppen
reorganisiert und ihre letzten achtzehn Kriegswagen zusammengezogen, nachdem
sie sich an ihre jeweiligen Grenzen zurückgezogen haben. Sie rücken in diesem
Moment auf unser Lager zu. Ich fürchte, sie wollen einen Gegenangriff starten
..."
„Wie stark sind sie?", fragte Shen Yi mit leiser
Stimme.
„Nach dem, was ich vom Himmel aus erkennen konnte,
marschieren sie, die Streitwagen ausgenommen, mit mindestens dreißig- bis
vierzigtausend gerüsteten Infanteristen und Kavalleristen ..."
„General Shen!" Ein Mitglied von Gu Yuns Leibwache
stürmte herbei. Shen Yi wirbelte so schnell herum, dass er sich fast einen
Muskel zerrte. Seine Kopfhaut kribbelte vor Angst ‒ er konnte sich nicht
vorstellen, wie sie die siebenundzwanzig Pässe am Eingang der Seidenstraße
verteidigen sollten, falls Gu Yun etwas Schreckliches zugestoßen war.
Würden sie gezwungen sein, sich erneut zurückzuziehen?
Der Wächter holte tief Luft: „Der Marschall befiehlt, den
König von Qiuci in dem Niemandsland zwischen den beiden Armeen sofort
hinzurichten und seinen Kopf auf eine Fahnenmast aufzuspießen. Das Schwarze
Eisenbataillon soll in voller Stärke ausrücken und sich dem Feind frontal
stellen. Lasst nichts in Reserve ‒ das wird ein Kampf auf Leben und Tod!"
Nach der Hälfte dieser Worte schlug Shen Yis Herz, das ihm
bis dahin im Hals stecken geblieben war, zurück in die Brust. Er verstand den
Rest kaum noch und musste zum ersten Mal in seiner Karriere den überforderten
Leibwächter bitten, die Botschaft zu wiederholen. Erst dann erhob er seine
Stimme für den Rest der Truppe: „Die Rebellen ... hust, die
Rebellenarmee ist ein Pfeil, der am Ende seines Fluges ist. Wie eine Grille im
Herbst, die sich dem Frost stellt, ist dies ihr letzter Kampf. Befolgt meine
Befehle und bereitet euch auf die Schlacht vor!"
_______________
In dem Moment, als Bai Chu sich in die Luft sprengte, hatte
der Infanterist in der Schweren Rüstung Gu Yun mit seinem eigenen Körper
geschützt. Der Schwarzer Panzerinfanterist war auf der Stelle in Stücke
gesprengt worden. Gu Yuns Bewusstsein flackerte; von der Wucht der Explosion
erfasst, hustete er einen Mund voll Blut und wurde prompt auf einem Ohr taub.
Als er wenige Augenblicke später erwachte, war sein erster
Gedanke, dass der Feind diese Gelegenheit nutzen würde, um zurückzuschlagen ‒
es war keine Zeit, sich um etwas anderes zu kümmern. Nach zwei erfolglosen
Rebellionen würde der Hass der Königreiche der westlichen Regionen auf
Groß-Liang sicherlich noch einige Generationen lang brennen. Jetzt, nachdem sie
die Fähigkeit des Schwarzen Eisenbataillons gesehen hatten, schnell Boden
gutzumachen, kannten sie endlich die Angst. Dies würde sehr wahrscheinlich ihr
letztes Gefecht sein.
Als ein verängstigter He Ronghui Gu Yun aus den Trümmern
zog, war sein halber Körper mit Blut bedeckt ‒ teils sein Eigenes, teils das der
Schwarzen Panzerinfanteristen. Im Handumdrehen schienen alle verborgenen
Kraftreserven, die in seinem Körper schlummerten, hervorzubrechen, und
unzählige Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Gu Yun packte He Ronghui am
Ellbogen und gab seine Befehle weiter: den Gefangenen zu töten und den Feind
mit allem, was sie hatten, zu bekämpfen. Dann, als hätte er den letzten Rest
seiner Lebensenergie verbraucht, murmelte er zögernd: „Shen ... Jiping ist bis
auf Weiteres Oberbefehlshaber in allen militärischen Angelegenheiten ... Geben
Sie nicht preis, was hier geschehen ist ..."
He Ronghui brach fast in Tränen aus.
Gu Yuns Ohren klingelten, er konnte kaum noch etwas hören. „Unterdrückt
die Nachricht ...", murmelte er. „Jeder, der es wagt, auch nur ein
einziges Wort von dem zu verlieren, was heute hier passiert ist, kommt vor ein Kriegsgericht
... Holen Sie Fräulein Chen aus dem Feldlazarett ..."
Als Gu Yun dies sagte, verspürte er einen stechenden Schmerz
in der Brust. Er hatte sich kaum von seinen früheren Verletzungen erholt, und
nun gab es einen neuen Farbklecks auf dem Wandteppich der alten Verletzungen.
Die Dunkelheit flackerte an den Rändern seines Blickfeldes, doch er ärgerte
sich weiter. „W-wartet! Sagt dem Boten, er soll sich vergewissern, dass Prinz
Yans Kutsche in die Hauptstadt gefahren ist, bevor er nach Fräulein Chen
schickt. Sagt ihr nicht sofort, was passiert ist, sondern lasst sie heimlich
kommen. Wir müssen ..."
Seine Stimme versagte, und die Hand, die sich an He Ronghui
klammerte, fiel schlaff zu Boden. Halb zu Tode erschrocken streckte He Ronghui
seine zitternden Finger aus, um zu prüfen, ob er noch atmete; wenn auch
schwach, so war er doch da. Erst nach dieser Gewissheit sog General He mehrere
flache Atemzüge ein und beugte sich vor, um den bewusstlosen Gu Yun anzuheben.
Shen Yi tauschte einen Blick mit dem rotäugigen He Ronghui
in der Ferne aus, dann pfiff er erneut. „Exekutiert den König von Qiuci!",
rief er wütend. „Folgt mir, Brüder, um die Rebellen zu vernichten!"
Die verbündeten Armeen der westlichen Regionen wussten, dass
sie das Schwarze Eisenbataillon nicht besiegen konnten, und so hatten sie sich
auf ihrem verzweifelten Rückzug diesen heimtückischen Plan ausgedacht und einen
verkleideten Selbstmordattentäter aus den westlichen Regionen beauftragt, Gu
Yun zu ermorden. Als sie die Explosion sahen, dachten sie, ihr Plan sei
gelungen. Die Moral stieg in die Höhe. Doch gerade als sie sich anschickten,
den Eingang zur Seidenstraße auf einen Schlag zu erobern, noch bevor sie einen
der wichtigen strategischen Pässe erreicht hatten, stießen sie frontal auf die
volle Stärke des Schwarzen Eisenbataillons.
Diese Explosion schien das dichte Heer der eisernen
Kriegsgötter gründlich in Rage gebracht zu haben. Der Oberbefehlshaber der Qiuci-Armee
hatte geglaubt, dass er, sobald er das Schwarze Eisenbataillon zurückgeschlagen
hatte, seinen königlichen Lehnsherrn bald wieder begrüßen würde. Als er jedoch
aufschaute, erblickte er den Kopf seines Königs, der an einem Fahnenmast hing
und wie eine hässliche, geknotete Quaste neben einer Schlachtfahne flatterte.
Der Kommandant von Qiuci stürzte mit einem entsetzten Schrei von seinem Pferd.
Der General mit dem Schwarzem Eisen, der an der Spitze der
Armee ritt, trug ein eisernes Visier. Unter der Schweren schwarz-eisernen Rüstung
verborgen, war es unmöglich, seine Identität zu erkennen. Als wäre er besorgt,
dass der Feind nicht sehen könnte, was am Fahnenmast hing, winkte der General
mit der Hand inmitten des Sturms, woraufhin ein Leichter Kavallerist seinen
Windsäbel zückte und eines der Seile um den Fahnenmast mit einem
furchterregenden Schwung durchtrennte. Der abgetrennte Kopf des Königs von Qiuci
stürzte zu Boden und rollte den ganzen Weg bis zu dem kahlen Stück Erde
zwischen den beiden Armeen. Der Oberbefehlshaber von Qiuci stolperte herbei und
drückte seinen König an seine Brust. Nachdem er lange auf den abgetrennten Kopf
gestarrt hatte, hob er sein Gesicht zum Himmel und heulte vor beiden Armeen in
Trauer.
Seine Stimme war wie der Ruf eines Horns an das Schwarze
Eisenbataillon, und im nächsten Moment setzten sich die Reihen der Schweren
Rüstungen gemeinsam in Bewegung. Der in Leichtes Fell gekleidete
Oberbefehlshaber des Schwarzeisenbataillons saß rittlings auf seinem Pferd und
hielt seinen Windsäbel in die Höhe, um ihn dann in einem schnellen Bogen nach
unten zu schwingen. Zwanzigtausend berittene schwarze Krähen, zuvor still wie
ein Grab, stürmten nun gemeinsam vor, wobei die Kampfschreie unter dem ohrenbetäubenden
Grollen von Schritten und Hufschlägen untergingen.
Die Truppen der westlichen Regionen waren fassungslos. Wer
außer Gu Yun würde es wagen, einseitig vorzugehen und den König von Qiuci
hinzurichten? Konnte es sein, dass Gu Yun noch am Leben war? Anscheinend war es
ihnen nicht nur nicht gelungen, ihre Beute zu töten, sondern auch das Schwarze
Eisenbataillon zu erzürnen.
Bei Einbruch der Nacht war das Sandmeer in Blut getränkt.
Die Schweren Rüstungen aus Schwarzen Eisen traten gegen die Streitwagen der westlichen
Regionen an und trieben den Feind zwanzig Li über die Seidenstraße hinaus. Der
Gegenangriff war gescheitert; die verbündeten Armeen der westlichen Regionen
hatten sich erneut zerstreut. Das teuflische Schwarze Eisenbataillon verfolgte
die fliehenden Truppen bis an ihre eigenen Grenzen zurück, enthauptete fast
zehntausend feindliche Soldaten und schlachtete jedes Mitglied des Qiuci-Adels
ab, das sie zur Strecke bringen konnten.
Im nordwestlichen Feldlazarett hatte Chen Qingxu gerade die
Verabschiedung des Konvois von Prinz Yan beendet, der mit einer Siegesmeldung
in der Hand in die Hauptstadt zurückkehrte. Kaum hatte sie sich die
Freudentränen von den Wangen gewischt, stürmten zwei Schwarze Falken herein. „Fräulein
Chen, der Marschall bittet um Ihre Anwesenheit an der Front.“
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Als Gu Yun das nächste Mal aufwachte, versuchte jemand, seinen
Mund zu öffnen und ihm Medizin zu geben. Er konnte nichts mehr hören. Gu Yun
keuchte leise und spürte einen heftigen Schmerz, als würde sein Herz brennen.
Es tat so sehr weh, dass ihm fast die Tränen in die Augen stiegen. In seinem
nebligen, halb wachen Zustand fragte er sich: Werde ich sterben?
Sobald dieser Gedanke in seinem Kopf auftauchte, biss Gu Yun
die Zähne zusammen. Das darf nicht sein, dachte er. Jialai Yinghuo
lebt noch, und Jiangnan bleibt in feindlicher Hand. Ich würde niemals in
Frieden ruhen können.
Die Kraft dieser Überzeugung war wie ein Adrenalinstoß ins
Herz, und Gu Yun erwachte mit einem Schaudern. Shen Yi riss mühsam seinen
Kiefer auf, um ihm Medizin zu geben. Der Mann war so besorgt, dass ihm der
kalte Schweiß ausgebrochen war. Als er plötzlich spürte, wie Gu Yun seine Zähne
öffnete und von selbst schluckte, war er überglücklich. Er rief ihm sofort zu: „Zixi!
Zixi, mach die Augen auf und sieh mich an."
„Es wird ihm gut gehen, solange er das Bewusstsein
wiedererlangt hat und seine Medizin herunterschlucken kann", warf Chen Qingxu
hastig ein. „Ihre Hand zittert, General Shen, Sie erwürgen ihn ‒ geben Sie her!"
Gu Yun hatte es geschafft, den Angriff des
Selbstmordattentäters zu überleben, nur um eine Nahtoderfahrung zu machen, als
dieser Bastard Shen versuchte, ihm eine Schüssel mit medizinischer Suppe in den
Hals zu schieben. Weiß der Himmel, woher Gu Yun die Kraft nahm, dieses
wandelnde, sprechende Unglück von sich zu stoßen. In dem Moment, in dem er sich
bewegte, kochte das gesamte Kommandantenzelt in einem Rausch der Aktivität
über. Eine ganze Schar großer, stämmiger Männer brach sofort heulend in Tränen
aus und stürmte nach vorne, um ihre Hilfe anzubieten.
Chen Qingxu konnte es nicht mehr aushalten. „Das reicht!",
schnauzte sie. „Raus hier! Ihr alle!"
Gu Yuns sensible Nase nahm den süßen Duft einer Frau wahr ‒
er wusste, dass Chen Qingxu gekommen war. Er drehte den Kopf leicht, um der
Schale mit der Medizin auszuweichen, die gegen seinen Mund gedrückt wurde, und
öffnete mühsam die Augen.
Chen Qingxu wusste, was ihn beunruhigte, und schrieb eilig
in seine Handfläche: Prinz Yan ist bereits in die Hauptstadt zurückgekehrt.
Er weiß es nicht.
Gu Yuns kränklich blasser Mund verzog sich leicht zu einem
Lächeln, das man als solches hätte deuten können. Er zwang sich, die Medizin zu
schlucken, und sein Verstand wurde wieder schlaff.
Die Explosion hatte nicht nur seine alten Verletzungen
wieder aufgerissen, sondern auch Gu Yuns Lunge beschädigt, und er hatte die
ganze Nacht über hohes Fieber, das immer wieder auftrat. Die Worte "Ich
werde nie in Frieden ruhen können" stützten ihn wie ein riesiger
Felsbrocken, und am nächsten Morgen richtete er sich zum Erstaunen aller auf
und schluckte seine Medizin wie Wasser. Dann rief er alle ihm unterstellten
Offiziere zusammen und hörte sich einen nach dem anderen ihre Berichte vom
Schlachtfeld an.
Als die Sitzung beendet war, brachte Chen Qingxu eine
weitere Schale mit Medizin. Gu Yun nahm sie an und schluckte den Inhalt in
einem Zug hinunter. Es war schwer zu sagen, ob es daran lag, dass er sich den
Kopf gestoßen hatte, oder ob die ohrenbetäubende Explosion sein Gehör weiter
geschädigt hatte, aber seine Ohren, die bereits auf Medikamente angewiesen
waren, klingelten nach all der Zeit immer noch.
Nachdem er die leere Schüssel abgestellt hatte, waren die
ersten Worte aus Gu Yuns Mund: „Wann ist Prinz Yan gegangen?"
Chen Qingxu war kurz und bündig wie immer. „Am Morgen des
dritten Tages."
Gu Yun atmete erleichtert auf. Er war zuversichtlich, dass
er die Frontlinien in den westlichen Regionen vollständig unter seiner
Kontrolle hatte. Solange Chang Geng schon weg war, würde kein Wort von dem, was
hier geschehen war, den Weg zurück in die Hauptstadt finden. Damit konnte Gu
Yun endlich sowohl seine öffentlichen als auch seine privaten Sorgen aus dem
Weg räumen. Er stufte diesen Vorfall automatisch als Fehlalarm ein und wandte
sich mit einem Lächeln an Chen Qingxu. „Ich habe mich in letzter Zeit ein wenig
hinreißen lassen", sagte er reumütig. „Ich habe eine kurze Zeit nicht aufgepasst
und ein Spektakel aus mir gemacht. Es tut mir furchtbar leid, dass Sie Zeuge
einer solch peinlichen Szene werden mussten.
Chen Qingxu erwiderte sein Lächeln nicht. Sie zog einen
Stuhl heran, setzte sich und nahm eine Position ein, die darauf hindeutete,
dass sie vorhatte, ausführlich zu sprechen. „Mein Herr, ich muss Ihnen etwas
sagen."
Es gab Ärzte, die leicht verärgert und frustriert waren:
Wenn ein Patient sich weigerte, zu kooperieren, rasteten sie vor Wut aus. Dann
gab es Ärzte, die ihre Patienten wie Schafe betrachteten, die man auf die Weide
schickte: Wenn man sie aufsuchte, behandelten sie einen; wenn man sich
weigerte, ließen sie es dabei bewenden. Sie würden dich zu nichts zwingen. Ob
man sich dieser oder jener Behandlung unterzog, ob man lebte oder starb, das
blieb jedem selbst überlassen.
Chen Qingxu gehörte eindeutig zu der letzteren Kategorie. Ob
Gu Yun mit seinem von Stahlplatten zusammengehaltenen Körper an die Front
marschierte oder ob er hartnäckig und immer wieder die Dosis seiner Medikamente
erhöhte, sagte sie nie ein Wort. Selten betrachtete sie ihn mit so viel
Ernsthaftigkeit.
„Bitte fahren Sie fort, Fräulein Chen", sagte Gu Yun.
Nach einer kurzen Bedenkzeit begann Chen Qingxu schließlich.
„Es gibt keinen Teil des menschlichen Körpers, der isoliert funktioniert.
Unsere Augen und Ohren sind beide mit unseren inneren Organen verbunden. Die
Langzeitfolgen der Begegnung des Grafen mit dem Gift in seiner Kindheit haben
bis heute angehalten. Darüber hinaus haben Sie im Laufe des aktuellen Feldzuges
wiederholt schwere Verletzungen erlitten, die zu Traumata an Ihren fünf
Eingeweiden geführt haben. Jetzt, da der Aufstand in den westlichen Regionen
niedergeschlagen wurde, wäre es meiner professionellen Meinung nach das Beste,
wenn der Marschall die Gelegenheit nutzen würde, die Kriegsgefangenen zurück in
die Hauptstadt zu eskortieren und sich dort einige Zeit zu erholen. Andernfalls
..."
Gu Yun verstand sofort, was sie meinte. „Andernfalls wird
der Tag kommen, an dem mir kein Wundermittel mehr helfen kann, ist es das?"
Chen Qingxus Gesichtsausdruck blieb unverändert, als sie
nickte. „Ich bin sicher, der Graf ist sich über den Zustand seines eigenen
Körpers im Klaren."
Gu Yun brummte als Antwort und verfiel dann in ein langes
Schweigen.
Wenn man noch in den Zwanzigern oder Dreißigern war, war es
schwierig, Dinge wie "Alter" und "Krankheit" zu spüren, die
durch den Lauf der Zeit verursacht wurden. Junge Menschen nahmen ihre
gelegentlichen Anfälle von Unwohlsein selten ernst. Mangels eigener Erfahrung
wurden die guten Wünsche anderer für eine gute Gesundheit und ähnliche
Ermahnungen zu ungehörten Ratschlägen, die zum einen Ohr hinein und zum anderen
wieder hinaus gingen. Schließlich gab es viel zu viele Sorgen, die Vorrang vor
der Sorge um ihr sterbliches Fleisch hatten ‒ Ruhm und Reichtum, Loyalität und
Rechtschaffenheit, Heimat und Land, Pflicht und Verantwortung ... Sogar Liebe,
Hass, Gefühle und Bedauern.
Gu Yun war da keine Ausnahme.
Er hatte sich immer vorgestellt, dass er dazu bestimmt sei,
in den Grenzgebieten begraben zu werden, dass er ein Opfer der Nation werden
würde. Er betrachtete sich selbst als ein Feuerwerk ‒ wenn er verglühen würde,
hätte er den Ruf der Familie Gu für Hingabe und Aufopferung erfolgreich
aufrechterhalten. Doch als es wirklich darauf ankam, war Chang Geng aus dem
Nichts aufgetaucht und hatte Gu Yuns Pläne mit einem Handstreich aus der Bahn
geworfen. Gu Yun konnte nicht anders, als sich wilden Fantasien hinzugeben und
sich nach mehr zu sehnen ‒ nachdem er sich zum Wohle der Nation aufgerieben
hatte, wollte er den Rest seiner gesunden Jahre Chang Geng schenken.
Wenn Gu Yun früh sterben würde, müsste Chang Geng den
bösartigen Fluch der Nördlichen Barbaren allein ertragen. Was würde mit ihm in
der Zukunft geschehen? Wenn eines Tages das Wu'ergu aufflammen würde und er wirklich
... Wer würde nach ihm sehen? Wer würde sich um ihn kümmern?
Chen Qingxu war nicht sehr wortgewandt, deshalb hatte sie
befürchtet, dass ihre unbeholfene Zunge Gu Yun nicht umstimmen würde. Sie hatte
nicht damit gerechnet, dass Gu Yun, noch bevor sie ihre Ausführungen beenden
konnte, antworten würde: „Ich verstehe. Ich danke Ihnen vielmals. Ich werde
Ihnen auch in Zukunft für Ihre Mühe danken, Fräulein Chen. Eine längere Genesungszeit
ist für mich im Moment vielleicht nicht möglich, aber solange ich den Palast
nicht betreten muss, um Seine Majestät zu treffen, und es keine weiteren
dringenden Krisen an der Grenze gibt, werde ich alles tun, was ich kann, um auf
die Medizin zu verzichten. Wie hört sich das an?"
Chen Qingxu war verblüfft. Plötzlich stellte sie fest, dass
Gu Yun sich verändert zu haben schien.
_________________________________
In den Händen von Gu Yun war die dritte Generation des Schwarzen
Eisenbataillons zu einem monolithischen Ganzen geworden. Wenn er einen Befehl
erteilte, verlangte er strikte Befolgung, und jedes seiner Worte galt als
Gesetz. Da Gu Yun befohlen hatte, die Nachrichten über die Geschehnisse an der
Seidenstraße zu unterdrücken, erhielt die Hauptstadt nur den Bericht über den
großen Sieg an der nordwestlichen Grenze und sonst nichts.
Meister Fenghan weinte auf dem Boden des kaiserlichen Hofes,
als er den Militärbericht hörte. Das Land geriet in helle Aufregung. Selbst als
Gu Yun später ein Memorandum vorlegte, in dem er um Verzeihung bat und seine
unberechtigte Hinrichtung des Königs von Qiuci beschrieb, schien dies eine
Bagatelle zu sein. Außerdem, wer kannte nicht Gu Yuns Bestialität; sein
bösartiges Einschüchtern auf dem Schlachtfeld war keine Neuigkeit. Li Feng
selbst war der Meinung, dass dies durchaus seinem Charakter entsprach.
Nur Chang Geng runzelte die Stirn, als das Memorandum der
Entschuldigung im Großen Rat eintraf. Er konnte sich zwar nicht erklären,
warum, aber er hatte das Gefühl, dass zwischen den Zeilen etwas verborgen war.
Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, zog der Sondergesandte der Schwarzen
Falken, der das Memorandum überbrachte, einen zweiten Umschlag hervor. „Eure
Hoheit, ich habe einen persönlichen Brief des Grafen an Sie."
Das letzte Mal, dass Gu Yun ihm einen persönlichen Brief
geschrieben hatte, war in den ersten Jahren seines Einsatzes an der
Seidenstraße gewesen. Er hatte insgesamt zwei Briefe verfasst, von denen einer
von Shen Yi als Ghostwriter geschrieben worden war.
Chang Gengs Selbstbeherrschung war unübertroffen; er nahm
den Brief ruhig entgegen und bedankte sich. Kaum war der Sondergesandte jedoch
aus der Tür, entließ Chang Geng die beiden jungen Eunuchen, die ihn bedienten,
und öffnete den Brief mit verzweifelter Ungeduld. Seine Hände waren von Anfang
an flink, und er behandelte den Brief so sorgfältig, dass der Umschlag auch
nach dem Öffnen noch so unversehrt war, dass man ihn hätte wiederverwenden
können.
Das Erste, was herausfiel, war ein winziger Zweig mit
gepressten Aprikosenblüten.
Es war, als wäre Gu Yun von einem Geist Namens Shen Yi
besessen gewesen. Er schrieb ausgiebig über alles Mögliche, egal wie wichtig es war. Seine
bissige Zunge hielt sich nicht zurück, als er die verbündeten Armeen der westlichen
Regionen verunglimpfte, und er beschrieb die Art und Weise, wie sich die
feindlichen Truppen vor Angst in die Hose machten, so anschaulich, dass Chang
Geng es praktisch sehen konnte. Hätte sich in diesem Moment noch jemand im Büro
des Großen Rates befunden, wäre er furchtbar erschrocken ‒ wann hatte man den
sanftmütigen Prinzen Yan jemals so ausgelassen an seinem mit offiziellen
Dokumenten vollgestopften Schreibtisch sitzen und lachen sehen?
Am Ende seines Briefes schrieb Gu Yun:
Am Eingang des Passes wuchs ein Bestand von
Aprikosenbäumen. Leider wurde mehr als die Hälfte davon von den Flammen des
Krieges verbrannt, und es besteht keine Hoffnung auf Besserung. Ursprünglich
dachte ich, sie seien alle tot, aber eines Tages, als ich zurückkam, sah ich,
dass diese verdorrten Bäume zu neuem Leben erwacht waren: Zarte Blütenknospen
waren aus der Asche gesprossen, jämmerlich und schön. In der Armee gibt es
keinen Mangel an Spaßverderbern, und wenn man vor Soldaten über blühende Blumen
schwärmt, ist das wie Perlen vor die Säue werfen. Daher hielt ich es für
besser, die Gelegenheit zu ergreifen und dies für dich zu pflücken ...
Hier wurde die berühmte halbkursive Schrift des Grafen von
Anding, die so meisterhaft war, dass sie es wert war, als Erbstück
weitergegeben zu werden, durch eine durchgestrichene Zeile unterbrochen. Chang
Geng erkannte vage die Worte: Ich hoffe, dass ich nächstes Jahr im zeitigen
Frühjahr einige Pflaumenblüten auf dem Grafenanwesen pflücken kann, aber
vielleicht hielt er es für ungünstig, über die Zukunft zu schreiben. Deshalb
hatte er es durchgestrichen und mit einem selbstbewussten Schnörkel
unterschrieben. Wer weiß, ob es Absicht oder Zufall war, aber neben seiner
Unterschrift war der schwache Abdruck eines blühenden Zweiges zu sehen, der
sich anmutig über das Zeichen Gu zog. Allein beim Anblick dieses
blumengeprägten Zeichens spürte Chang Geng einen subtilen Duft, der seine Sinne
überfiel. Er war unvergleichlich elegant.
Chang Geng war überwältigt von der Leidenschaft, die unter
Gu Yuns zurückhaltenden Äußeren brodelte.
Wie grob und gedankenlos diese aristokratischen Adelssöhne
auch immer erscheinen mochten, sie waren alle in der Kunst der sentimentalen
Verse und ähnlicher Tricks geübt; wer von ihnen hatte nicht eine Handvoll
kostbarer Umwerbungstechniken in petto? Chang Geng konnte nicht umhin, sich an
die schelmische Eleganz zu erinnern, die Gu Yun in jener Nacht an den Tag
gelegt hatte, als er sturzbetrunken war. Aber er war nicht der Typ, der wegen
unbewiesener Liebesaffären eifersüchtig wurde, sondern er fand diese Seite von
Gu Yun eher süß.
Chang Geng nippte an einer Tasse Kräutertee und las Gu Yuns
persönlichen Brief langsam drei- oder viermal von vorne bis hinten durch, wobei
er sich jedes Wort so sehr einprägen wollte, dass er selbst mit geschlossenen
Augen eine exakte Kopie mit Tinte und Papier herstellen konnte. Erst als er
zufrieden war, steckte er den Brief und die gepressten Blumen in den Lederbeutel,
den er immer bei sich trug.
Dann nahm er einen Pinsel in die Hand, schrieb das Wort Adel
auf ein Blatt Papier und schloss kurz die Augen.
Der Name "Prinz Yan" stand für die kaiserliche
Familie, wenn er genannt wurde. Da sich die Nation in einer Krise befand, waren
die Interessen des Adels und des Throns in einem noch nie da gewesenen Zustand
der Einstimmigkeit. Solange Chang Geng die Grenzen des Anstands nicht
überschritt, würde kein blinder Narr aufspringen und ihm das Leben schwer
machen. Viele wohlhabende Adelsfamilien waren bereits so weit gegangen, dass
sie ihre volle Unterstützung für die Kriegsbakenscheine zum Ausdruck brachten
und sogar selbst in das Vorhaben investierten ...
Aber was kam als Nächstes?
In dem Moment, in dem die Nation mit ihren
Wiederaufbaubemühungen an den Grenzen begann, würde dies riesige Summen an
Militärausgaben bedeuten. In der Zwischenzeit überquerten die Flüchtlinge
weiterhin in einem stetigen Strom den Jangtse. Die gesamte Bevölkerung
innerhalb der Grenzen von Groß-Liang befand sich in einem Zustand erhöhter
Angst, und viele waren untätig, ohne Arbeit und ohne Ziel. Das kleine Polster
an Notgeldern, das durch die Kriegsbakenscheine aufgebracht worden war, würde
nur allzu bald aufgebraucht sein, und der kaiserliche Hof konnte nicht ewig mit
geliehenem Geld auskommen. Kühne Reformen ‒ in der Landwirtschaft, im
Steuerwesen, im öffentlichen Dienst und im Handel ‒ waren von entscheidender
Bedeutung, aber wenn man jetzt in einen dieser Bereiche eingriff, würde man
irreparablen Schaden anrichten. Wenn die Zeit zum Handeln gekommen war, würde
jeder einzelne adlige Beamte des Hofes zu seinem sein Feind.
Chang Gengs warmes Lächeln wurde kälter, als er das Wort
Adel mit einer leichten Bewegung seines Pinsels aus Wieselhaar ausstrich. Im
Schein des Lampenlichts war das Profil des jungen Prinzen furchtbar gut
aussehend, aber auch furchtbar rücksichtslos.
Ob Meister Fenghan, Ge Pangxiao, Fräulein Chen oder sogar Gu
Yun ‒ sie alle schienen sich vorzustellen, dass derjenige, der die Dachbalken
der Nation hochgezogen hatte, seine Last sanft ablegen und nach Abschluss der
Bauarbeiten mit einer Handbewegung weggehen konnte.
Aber wie konnte das sein?
In Zeiten großer Gefahr war das Streben nach Macht immer ein
Kampf um Leben und Tod auf einer Straße ohne Wiederkehr.
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Man will sich gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn Gu Yun nicht überlebt hätte. Er schaffte es gerade noch Befehle zu geben, ehe er das Bewusstsein verlor. Und davor wollte er noch sicher gehen, das Chang Geng davon nichts mitbekommt. Ich hoffe er bekommt jetzt mal etwas mehr Zeit sich zu erholen. Die Schäden sind nicht ohne bei ihm und irgendwann wird es auch Chang Geng rausfinden. Aber Gu Yun seine Gedanken, als er kämpfte Q____Q
AntwortenLöschenUnd der Brief den er Chang Geng schrieb. Man will beide einfach nur in Watte packen und beschützen. Der Krieg hat doch jetzt genug und heftig gewütet *sigh*
Hätte Gu Yun nicht überlebt, würde Chang Geng vermutlich früher oder später den Kampf gegen das Wu'ergu verlieren. Aber mit ihm wird Chang Geng der Sieg gegen dieses Gift sicherlich gelingen.
LöschenGu Yun ist und bleibt weise und vorausschauend, selbst in einer solchen Situation so kühn und überlegt zu handeln ist echt schon erstaunlich. Es fragt sich nur, wie Gu Yun reagieren wird, wenn Chang Geng erfährt, was ihm widerfahren ist.
Ich fand den Brief auch sehr schön, wenn man nur Gu Yuns militärische Seite kennt, hätte man das niemals von ihm erwartet.