Jene Tage waren wahrscheinlich die unauslöschlichste schmerzhafteste Zeit seines Lebens. Gu Yun hielt inne. Er hatte nicht vorgehabt, diese Geschichte fortzusetzen. Aber vielleicht waren diese Worte schon zu viele Jahre in seinem Herzen gespeichert; er konnte nicht aufhören.
„Das Leben an der nördlichen Grenze war wirklich bitter. Der
Krieg war gerade zu Ende gegangen, und überall gab es verwundete Soldaten. Die
Sonne ging jeden Tag über gelbem Sand unter, und nicht einmal im Zelt der
Prinzessin konnte man einen Schluck heißen Tee trinken. Wie konnte das nur so
angenehm sein wie das Leben eines adligen jungen Meisters in der Hauptstadt?
Zuerst war ich wütend ‒ ich wollte zurück, aber der alte Graf weigerte sich.
Als er meine Wutanfälle satthatte, schleppte er mich zur Strafe auf den
Exerzierplatz. Jeden Tag, wenn die Offiziere des Schwarzen Eisenbataillons ihre
Truppen drillten, musste ich mitgehen und mittrainieren. Wenn ich auch nur ein
bisschen nachließ, schlug er mich direkt vor den Augen dieser eisernen Riesen."
Der alte Graf kannte die lausige Persönlichkeit seines
Sohnes gut. Der Junge war pingelig und widerspenstig, aber obwohl der kleine
Bengel kaum die Höhe der Oberschenkel eines erwachsenen Mannes erreichte, würde
er sich niemals durch Weinen vor Publikum erniedrigen.
Chang Geng hatte sich an Gu Yuns Rücken geklebt und sein
Kinn auf Gu Yuns Schulter gestützt. Nun ließ er seine Lippen über Gu Yuns
Ohransatz gleiten. „Wäre ich zwanzig Jahre früher geboren worden", sagte
er leise, „hätte ich dich aufgesammelt und weggestohlen. Ich hätte dich im
Schoß des Luxus großgezogen."
Gu Yun betrachtete das Bild, das Chang Geng mit seinen
Worten gezeichnet hatte. Sie waren so rührselig, dass er nicht wusste, wie er
darauf reagieren sollte, hin- und hergerissen zwischen Lachen und Tränen.
Um ehrlich zu sein, wenn er objektiv darüber nachdachte,
überlebten viele der Familien, die so extravagant lebten, nicht mehr als drei
Generationen. Gu Yun stammte aus einer solchen wohlhabenden Familie, und er war
außerdem der einzige Sohn. Hätte man ihm wirklich erlaubt, in der Hauptstadt
aufzuwachsen und sich nach Belieben auszutoben, wer weiß, wie unbändig er
geworden wäre. Nur mit einem hartherzigen Vater wie dem alten Grafen, der keine
Skrupel hatte, so brutale Disziplinierungsmethoden anzuwenden, würde das Schwarze
Eisenbataillon einen würdigen Nachfolger bekommen.
Aber wer hätte sich vorstellen können, welch enormer Preis
dafür gezahlt wurde, damit Gu Yun etwas aus sich machte?
„Onkel Wang sagte, dein Temperament habe sich nach deiner
Rückkehr von der nördlichen Grenze verändert. Du wolltest niemanden mehr sehen
und hast jeden ignoriert, den du getroffen hast." Chang Geng hielt inne,
dann zog er Gu Yuns Hand näher und schrieb in seine Handfläche: Hasst du den
verstorbenen Kaiser?
Gu Yun tastete unbewusst nach dem Weinkrug an seiner Taille.
Erst als er danach gegriffen hatte, fiel ihm ein, dass er beschlossen hatte,
nicht mehr zu trinken. Der Krug mit dem Wein war längst entfernt worden.
Gu Yun presste seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. „Ich
... geh und schenk mir eine Tasse Tee ein."
Einen Moment lang dachte Chang Geng, er hätte sich verhört.
In den Tagen nach der Belagerung der Hauptstadt war Gu Yun so schwer verwundet
worden, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte, doch jedes Mal, wenn er
den Mund öffnete, verlangte er leichtsinnig nach Wein. Wie konnte es sein, dass
er nach ein paar Schlachten in den westlichen Regionen plötzlich verstand, wie
wichtig es war, seine Gesundheit zu bewahren? Chang Geng hatte die
Trinkgewohnheiten dieses Alkoholikers immer leise kritisiert, aber dieser
unerwartete Gesinnungswandel ließ sein Herz mit einem dumpfen Schlag in seiner
Brust stolpern, mehr schockiert als erfreut. Er erhob sich, braute eine Tasse
Frühlingstee für Gu Yun und drückte heimlich seine Finger auf Gu Yuns
Handgelenk, wobei sich in seinem Herzen erneut ein Anflug von misstrauischer
Besorgnis ausbreitete.
Er hasste es, dass seine minderwertigen Fähigkeiten
scheinbar nichts aufspüren konnten.
Selbst ohne seine Augen und Ohren konnte Gu Yun Chang Gengs
Anspannung spüren. Ihm wurde klar, dass er sich versehentlich verraten hatte.
Chang Geng war viel zu scharfsinnig. Als bekanntermaßen fehlerhaftes Individuum
wäre es besser gewesen, seine schrecklichen Angewohnheiten beizubehalten; die
Leute, die hinter ihm aufräumten, waren bereits daran gewöhnt. Im Gegenteil,
ein plötzlicher Kurswechsel würde sie nur beunruhigen.
Gu Yun schluckte lässig den Tee hinunter, leckte sich dann
über die Lippen und sagte: „Ich weiß nicht, wo ich meinen Weinkrug gelassen
habe. Haben wir noch etwas von dem Hausgebräu des alten Herrn Shen übrig?"
Für Chang Geng klang das eher wie Gu Yuns übliche Art. Nach
all der Besorgnis stellte sich heraus, dass er nur durstig war, weil er so viel
geredet hatte. Chang Geng entspannte sich ein wenig und schmetterte ihn kurzerhand
ab. „Es ist alles weg. Du musst dich mit Tee begnügen."
Gu Yun schnalzte mit der Zunge, ohne viel Ernsthaftigkeit.
Im nächsten Moment wurde ihm etwas an den Mund gedrückt, und der klebrig-süße
Duft von Klebreis drang in seine Nase. Gu Yun bäumte sich auf. „Was ist das?
Ich will nicht ‒ mhm ‒"
Chang Geng hatte sich vorgebeugt und fütterte ihn mit dem
fraglichen Gegenstand zwischen seinen eigenen Lippen.
Gu Yuns Stirn verzog sich zu einem Knoten. Er aß nicht gern
Süßigkeiten und konnte, die ekelhaft süße Kombination aus Chang Geng und diesem
Klumpen Teegebäck kaum ertragen. Aber er spuckte ihn nicht wieder aus. Wie bei
der mit Eierschalen übersäten Schüssel mit Suppennudeln vor all den Jahren
verschlang er das ganze Ding. Als er die sämige Bohnenpaste kaute, die so süß
war, dass sie fast bitter schmeckte, verspürte er plötzlich ein Gefühl der
Unruhe.
Chang Gengs rührselige Zuneigungsbekundungen waren abnormal.
Ebenso war sein schneller Wechsel zu ängstlichem Misstrauen, als er hörte, dass
Gu Yun um Tee bat, nicht normal. Solche Gefühlsausbrüche waren anstrengend und
konnten in der Regel nicht lange aufrechterhalten werden. In den meisten Fällen
hielten sie nur kurz an, um dann in Apathie oder Verwirrung zu verfallen. Oder
die betreffende Person lenkte ihre Aufmerksamkeit ab und ließ diese Gefühle aus
einem instinktiven Selbsterhaltungssinn heraus abklingen.
Chang Geng ...
Gu Yuns Gesichtsausdruck wurde feierlich. „Chang Geng, gib
mir mein Monokel."
„Nein." Chang Geng umschloss Gu Yun von der Seite mit
seinen Armen, als wolle er ihn gefangen halten. Er fuhr mit seinem Verhör fort:
„Warum hasst du ihn nicht?"
Seine Stimme war eifrig und doch distanziert. Ein Eifer, der
von dem Wunsch herrührte, der Sache auf den Grund zu gehen und herauszufinden,
ob Gu Yun Feindseligkeit gegenüber dem verstorbenen Kaiser empfand oder nicht.
In dem Moment, in dem Gu Yun zugab, dass er ihn hasste, würde Chang Geng sofort
eine bestimmte Maßnahme ergreifen. Eine Abgeklärtheit, die sich darin äußerte,
dass er offensichtlich nicht beachtete, dass der "verstorbene
Kaiser", von dem er sprach, sein Vater war. Er erwähnte den Mann mit der
Gleichgültigkeit, die man für eine streunende Katze oder einen Hund am
Straßenrand aufbringt.
Gu Yuns Herz sank. Nach einer Weile des Schweigens
antwortete er auf Chang Gengs Frage mit einer eigenen: „Was ist mit dir? Hasst
du Huge'er immer noch?"
Chang Geng hatte nicht erwartet, dass Gu Yun ihm diese Frage
zurückwerfen würde. Er blinzelte leicht überrascht ‒ wenn Gu Yun hätte sehen
können, hätte er festgestellt, dass in Chang Gengs Augen, obwohl sie nicht mehr
rot waren, immer noch der Schatten einer zweiten Pupille in ihnen lauerte.
„Wenn sie jetzt vor mir stünde", antwortete Chang Geng
in erhabenem Ton, „würde ich ihr die Sehnen herausreißen und sie bei lebendigem
Leib häuten ‒ aber sie starb einen tragischen Tod ohne ein angemessenes
Begräbnis. Selbst wenn ich sie wieder ausgraben und ihren Leichnam auspeitschen
wollte, wäre es eine vergebliche Mühe. Wie sehr ich sie auch verabscheue, ich
habe keine Möglichkeit, meinem Hass Luft zu machen. Und wenn ich sie hätte,
wäre das nicht genau das, was sie wollen würde, da es die Wirkung des Giftes in
meinem Körper beschleunigen würde?"
Das war absolut nicht das, was Chang Geng wirklich empfand.
Ganz gleich, wie unvorsichtig oder taub Gu Yun auch sein mochte, so viel konnte
er doch erkennen.
Gu Yun wollte gerade etwas erwidern, als er spürte, wie die
Person, die an seiner Seite klebte, zusammenzuckte. Es war das panische
Erschrecken von jemandem, der seine volle Konzentration in ein Vorhaben
gesteckt hatte und plötzlich unterbrochen wurde. Ein leichter Windhauch wehte
in ihrem Rücken; jemand hatte die Tür zum Arbeitszimmer geöffnet.
Gu Yun drehte sich um. „Ist das Onkel Wang oder der alte
Huo?"
Der alte Haushälter, der an der Tür stand, erhob seine
Stimme und rief: „Mein Herr, ich bin es. Das Lingshu-Institut hat jemanden
geschickt, um Seine Hoheit Prinz Yan zu besuchen!"
Die Zwillingspupillen in Chang Gengs Augen verengten sich zu
einer einzigen, als würden sie von einem hellen Licht angeregt. Reflexartig
ließ er Gu Yun los und zeigte seine übliche Zurückhaltung nach dem Motto "Berühre nichts, was gegen den Anstand verstößt".
Doch auf halber Strecke seiner Verwandlung schien er sich an etwas zu erinnern,
ein verlorener Ausdruck flackerte über sein Gesicht.
Gu Yun tat so, als ob er es nicht bemerkt hätte. „Geh und
kümmere dich um alles, was du tun musst. Es ist Tage her, dass ich eine
richtige Mahlzeit hatte, also gehe ich los, um eine zu finden. Und das, was du
mir zu essen gegeben hast ... Ich habe es hinuntergewürgt, aber ich habe Sodbrennen
davon bekommen."
Chang Geng zuckte überrascht zusammen, schlug eine Hand an
die Stirn und rieb sich bestürzt die Stirn. „Ich ... Das ... habe ich wirklich
..." Er sprang auf die Füße. „Ich werde der Küche sagen, dass sie dir
etwas leicht Verdauliches zubereiten soll", sagte er aufgeregt.
Onkel Wang gehorchte sofort: „Verstanden; dieser alte Diener
wird sofort gehen."
Chang Geng stürmte zur Tür des Arbeitszimmers, hielt dann
aber kurz inne, als er sich an etwas erinnerte. Er klopfte sich auf die
Schulter und zog Gu Yuns Glasmonokel von seinem Revers. Er drehte sich um und
reichte es Gu Yun; der Metallrahmen und die damit verbundene Kette waren durch
seine Körperwärme warm. Chang Geng wischte das Glas sorgfältig ab und setzte es
auf Gu Yuns Nasenrücken, wobei seine Augen lange auf Gu Yuns Gesicht
verweilten. Plötzlich sagte er mit leiser Stimme: „Zixi, gerade eben dachte ich
wirklich, ich würde träumen."
Das ist der einzige Grund, warum ich es gewagt habe, so
anmaßend zu handeln.
Nachdem er sich einen ganzen Nachmittag lang über Chang
Gengs bizarres Verhalten aufgeregt hatte, platzte Gu Yun bei diesen Worten fast
der Kragen. Er war versucht, zu erwidern: ‚Warum gebe ich dir nicht eine
Ohrfeige, damit du siehst, ob es wehtut?‘ Doch bevor er einen Gedanken in
die Tat umsetzen konnte, hielt Chang Geng inne und richtete sich wieder auf. „In
meinem ganzen Leben hatte ich noch nie einen so wunderbaren Traum", sagte
er mit einem Hauch von Selbstironie. Sein Mund verzog sich zu einem steifen
Lächeln. „Wenn ich doch nur nie wieder aufwachen würde."
Gu Yun schwieg.
In dem Moment, in dem Chang Geng wieder zu sich kam, konnte
Gu Yun es nicht mehr übers Herz bringen, ihn zu züchtigen. Er spürte, dass,
wenn so etwas noch ein paar Mal passierte, Gu Yun keine andere Wahl hätte, als
mit ihm zusammen dem Wahnsinn zu verfallen. Er setzte eine unergründlich ruhige
Miene auf und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, zu gehen.
Erklärungen:
Berühre nichts, was gegen den
Anstand verstößt: Eine Zeile aus den Analekten des Konfuzius.
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Warum ist das so ein bedrückendes Kapitel. Obwohl bedrückend jetzt eher das falsche Wort dafür ist. Man wünscht den beiden einfach nur Ruhe und Frieden und das sie die Zeit gemeinsam genießen können. Aber es ist immer irgendwie, als würden sie auf sehr dünnem Eis stehen, das ständig unter ihnen einbricht.
AntwortenLöschenUnd dann der Schluss... Chang Geng mit seinem Satz von Traum und dann noch Gu Yun Q____Q Aber ich muss gestehen, ich liiiiiebe sowas über alles *-* Da schlägt mein Drama Queen Herz ganz hoch XD
Leider bewegen die beiden sich auf sehr dünnem Eis, da hast du recht. Vor allem andere Personen wollen es immer wieder zum Einsturz bringen und die beiden unwissentlich trennen.
LöschenIch muss dir sagen, ich stehe auch vollkommen auf so was. Erst recht, wenn jemand etwas so Süßes und Romantisches sagt, aber eigentlich ist es schon wider einmal sehr erschreckend ausgerechnet diesen Satz von Chang Geng zu hören. Der arme Kerl hatte bis jetzt einfach ein viel zu schweres Leben. (ノ_<。)